Freitag, 30. April 2004


Walpurgis

Heute nacht stellen junge Burschen einen glattpolierten, mächtigen Birkenstamm vor die Türe. Junge Mädchen winden dann bunte Bänder herum. Das ist ein ganz unschuldiges Treiben und jedermann hat eine Freude daran.

Nathaniel Hawthorne erzählt in seiner Short Story "The Maypole of Merry Mount", wie im puritanischen Neuengland der Maibaum als verwerflich und lasterhaft verfemt wurde. So lustfeindlich sind wir nicht. In Berlin werden wahrscheinlich nur wieder spiritusgetränkte Bändchen in kurze Flaschenhälse gesteckt. Aber Berlin weiß einen schönen Maibaum eben nicht zu schätzen und war schon immer etwas gewalttätiger.

Ich springe heute im Kilt über das Feuer und schaue, wie am Deich die Wicca durchs Röhricht fliegen.

Homestory | von kid37 um 23:14h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 28. April 2004


Umsonst geduscht

Gerade wurde ich von einer sehr attraktiven Frau nebst Kuchen versetzt, weil sich selbige, statt die Aussicht vor meinem Fenster zu bewundern, lieber mit Handwerkern in ihrem so genannten Bad grämen möchte.
Da putzt und macht man, schrubbt den Waschraum im Wissen um die kleinen Eigenheiten des angekündigten Besuchs, räumt die Pornographie in eine dunklere Ecke, wirft ein Tuch über den Pamela-Anderson-Pappaufsteller, scheitelt noch schnell sein Haar... und verliert gegen Handwerker, die womöglich den ganzen Tag "La Traviata" in einer Mini-Naßzelle singen.

Ich habe am Telefon natürlich so getan, als wäre dies eine wahrhaft niederschmetternde Nachricht für mich. Glaubhaft gab ich vor, nunmehr den ganzen Abend Gedichte von Georg Trakl ("Elis, dies ist dein Untergang!") rezitieren zu müssen.

Dabei kann ich mich jetzt ganz entspannt mit männlichen Attributen wie meinem Akkuschrauber und Bier umgeben und mich gepflegt auf das Fußballspiel heute abend vorbereiten.


 


Sonntag, 25. April 2004


Der alte Kapitän


Heute nacht besuchte ich den alten Kapitän. Er war lange Jahre Kommandant eines U-Boots gewesen und wußte, was es heißt, ein Leben im Untergrund führen zu müssen.
Er bot mir Tee und einen alten Keks. Im Radio liefen sozialistische Friedenslieder. "Katjuscha". Ich fragte ihn, wie man entkommen kann. Wenn ich aus meinem Fenster blickte, sehe ich nämlich, daß die Drachenboote schon wieder auf Kaperfahrt gingen.



Im Radio lief nun The Jam. "Going Underground". Das war doch aber auch früher. "And the public gets what the public wants/But I want nothing this society's got/I'm going underground"... ha, und früher hieß jünger.

Der alte Kapitän lächelte. Er meinte, er sei von Osten nach Westen gefahren und einmal sogar unter dem Eis hindurch über den Nordpol. Die Antworten, die er dort fand, waren nicht die Antworten, die er erwartet hatte. Aus Feinden konnten Freunde werden, und aus Freunden Feinde. Mittlerweile hatte er eine Flasche Wodka aus dem kleinen Kajütschrank geholt und vor sich auf das schmale Tischchen mit der kleinen, erhabenen Umrandung gestellt. Fast hätte ich gesagt, "Trrrrink, Brrriderchen", als mir einfiel, wie unhöflich es ist, fremde Dialekte nachahmen zu wollen.

"Trrrink, Brrriderchen", sagte er zu mir und konnte sich mein Lächeln nicht erklären. "Weißt", meinte er. Ihr im Westen, ihr denkt zuviel nach. Ihr träumt vom Wind. Und wenn kommt Sturm, dann ihr habt Angst.

Gut, meinte ich. Mit einem U-Boot kann man abtauchen. Da ist leicht reden.
Ach, meinte er und machte eine abwertende Bewegung mit seiner Hand. "Roboti, roboti, alles Arbeit." Unter Wasser gäbe es Stürme, die seien schlimmer als alles, was unter dem Himmel passierte. "Man muß wissen, wo sein Heimat", meinte der alte Kapitän. "Heimat sein Herrrz, sein Selle."

"Und wenn es keine Heimat mehr gibt? Wenn man eines Tages aufwacht, und alles ist weg?"
Der alte Kapitän schaute in sein Glas und dachte nach. "Darüber Seeleute njet sprechen", stieß er schließlich grimmig aus. Dann wurde er unruhig und nahm die angebrochene Flasche vom Tisch. "Dawai. Du jetzt mussen gehen."

Ich verließ das U-Boot. Schade, ich hatte mich auf eine Tauchfahrt gefreut. Aber ich mußte oben bleiben.


 


Samstag, 24. April 2004


Quand on est ensemble

'eute isch bekam une lettre electrique von meiner frankophilen Freundin A. aus D'dorf, sü die misch alle paar Jahre mal eine Welle à coeur treibt. Dann est-ce wieder Fünkstille. Das macht aber n'est-ce pas. Das sein Art de nous. Chacun a son gôut. Elle erinnert misch daran toujours, comme mon français unter aller Kanone ist. N'est pas trop bien. Malheuresement, hein?

Mais, egal ça. Elle m'inviter (pas de flektion) à ihr su 'ause in Städtchen tres belle à Rhein (rive gauche).
Deux Plattenspieler pour faire de musique grandiose, a grande table et ihr mütterlischer Büsen warteten.
Isch bin tres exaltiert. Elle veut savoir alles über Pool Viennese. Elle veut savoir tout. Elle me gebrochen de coeur vor lange Seit. Wir uns des'alb gut leiden können. Seit quinze ans. Baisers, toujours les baisers.

(Metrostation c/o Letterjames, via Tristesse Deluxe)

Homestory | von kid37 um 01:14h | ein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 22. April 2004


The Flyin' Rabaukis

Damals, als ich noch nicht in der Gartenzwergfabrik arbeiten mußte, verdiente ich mir mein Geld als Trapezkünstler. Wir waren ein Duo, die begnadete Lollo und ich, und als "The Flyin' Rabaukis" bekannt. Zweifachsalto, Dreifachsalto, Salto mortale , Zwillingsschrauben, Flügelschrauben, wir hatten alles drauf und hatten in der Zirkuswelt so etwas wie einen Namen. Hoch oben in der Kuppel, dreißig Meter über dem Sand der Arena - das war unsere Welt.

Kennengelernt hatte ich Lollo in Rumänien. Ihre Eltern waren im Widerstand gegen Ceausescu gewesen und hatten die kleine Lollo schon in Kindertagen auf die Zirkusschule geschickt. Sie hatte Talent und wurde bald als die "Begnadete" bekannt. Ich holte sie in einer Holzkiste im Laderaum einer Propellermaschine versteckt aus ihrer betonkommunistischen Heimat heraus.

Zum Dank unterwies sie mich im Trapezfliegen, und wir beschlossen, unser Glück beim Zirkus zu versuchen. Sie nannte sich fortan "Lollo", damit die Häscher der Sekuritat sie nicht finden würden. Zudem konnte niemand ihren wirklichen Namen aussprechen. Ich war "Tony Speciale, the Incredible Man on the Trapeze". Damals hatte ich noch öliges, schwarzes Haar und ging glatt als Italiener durch.

Wir hatten schnell Erfolg. Unsere Nummer kam an. Das Publikum liebte den zarten, fragilen Körper von Lollo und meine wagemutigen Übersprünge. Jedes Mal, wenn ich Lollo im letzten Moment beim Sturz in die Tiefe mit meinen starken Armen auffing, ging ein Raunen durch die Menge.
Ich war auch in Lollo verliebt. Aber ich glaube, sie hatte was mit Bolek, dem tschechischen Bärendompteur, der selbst aussah wie ein Bär.

Und so fing unser Unglück an. Zuerst war es nur der Stich der Eifersucht. Bald nagendes Mißtrauen. Lollo schien öfter unkonzentriert. Unsere gemeinsamen Schwünge schienen nicht mehr harmonisch. Eines abends entdeckte ich die beiden hinter dem Zelt von Manolo, dem Eisenbieger. Der stämmige, überall behaarte Bolek hielt meine zarte Lollo eng umschlungen. Ich raste. Der Puls schlug hart in meiner Brust.

An diesem Abend, als Lollo sich in einer spiralförmigen Bewegung bis unter die Kuppel schraubte, so daß sie fast die Zeltbahn berührte, griff ich zum ersten Mal daneben.

Das war das Ende der Flying Rabaukis. Es gab eine Untersuchung. Aber man konnte mir nichts beweisen.
Unter Zirkusleuten weiß man, solche Dinge können geschehen.


 


Mittwoch, 21. April 2004


Die Nacht, in der ich mit Johnny Depp verwechselt wurde

Heute exaltierte Träume gehabt. Lag wohl an den Gesprächen gestern nacht. Jedenfalls träumte mir, einige Tänzerinnen aus einem Pariser Nachtlokal namens "Rote Mühle", darunter eine Frau, die sich als Nicole Kidman ausgab, hätten mich mit einem bekannten amerikanischen Filmschauspieler verwechselt und mir gewisse Dienste angeboten. Ich war sehr überrascht und überwältigt, meine gemurmelten Proteste gingen aber in einer Flut französischer Küsse unter.

Meine Therapeutin meinte, ich solle mir darüber keine Gedanken machen. Der Traum bedeute wohl, daß ich gerne ein mittelaltes Dornspeckkäfermännchen wäre. Ein Leben als lästiges Ungeziefer. Aber so weit war ich doch schon.

Ich träume lieber weiter.


 


Dienstag, 20. April 2004


So grün war mein Tal...

... oder ankommen und die Seele baumeln lassen. Im Dauerregen z.B.

Miss Monolog hat ihr Angebot wahrgemacht und ein paar Bilder aus der städtebauästhetisch heftig umstrittenen Stadt an der Wupper online gestellt. Ich habe mir schnell die CD mit dem "Bergischen Heimatlied" eingeworfen und mich gefreut.

Wo so wunderbar wonnig der Morgen erwacht,
im blühenden Tale das Dörfchen mir lacht,
Wo die Mägdlein so wahr und so treu und so gut,
Ihr Auge so sonnig, so feurig ihr Blut,
Wo noch Liebe und Treue die Herzen verband:
Da ist meine Heimat, mein Bergisches Land!

Homestory | von kid37 um 22:00h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 



Shop around

Arztbesuch, Praxisgebühr (plus Blutzoll): 10,-- €

Zuzahlung Medikamente: 16,74 €

Walter Mehring, Kleines Lumpenbrevier: 2,95 €
Franzobel, Jelinek et al., Österreich: 1,-- €
Erika + Klaus Mann, Das Buch von der Riviera: 1,-- €
Stewart O'Nan, Engel im Schnee: 1,-- €
T.C. Boyle, América : 0,50 €
Stapel alte Ansichtskarten: 0,50 €

Unterhose, H&M: 7,90 €

France Gall, Twenty Classic Recordings: 12,99 €*
Serge Gainsbourg, Comic Strip: 17,99 €**

Lebensmittel, Penny: 25,14 €

Einen schönen Tag verbracht haben, erschöpft nach Hause kommen und nicht angeraunzt werden: unbezahlbar

* als Alternative hatte ich Múm in der Hand. Aber diese Musik hat momentan dieselbe Wirkung auf mich wie die Betonschuhe eines sizilianischen Familienunternehmens.
** als Alternative hatte ich Kaizers Orchestra in der Hand. Aber diese verrückten Norweger sind zwar ganz groß, aber auch ein wenig anstrengend.


 


Montag, 19. April 2004


Die 120 Tage von ...



Weia. Statt ctrl+alt+del habe ich gestern doch tatsächlich Apfel+F12 gedrückt. Auf diesem Shortcut ist doch aber Pathos 5.17 abgespeichert.
Da lief ja ein hübsches Programm ab.

Durch leicht herablassend-gönnerhaft wirkende Gutwünschigkeit können bekanntermaßen arge Rückstürze induziert werden. Leider mußte ich den zweiten Kühlwasserkreislauf meines kurz vor der Kernschmelze stehenden Reaktorblocks mit Rotwein füllen. Der weiße - die Hausmarke hier - war nämlich alle.

Ein kurzer Systemcheck in der Betty Ford Klinik heute brachte aber immerhin das Kontrollzentrum wieder zurück in einen weitgehend autopilotgesteuerten operating mode. "I'll be back".

Dann gab es liebe kondolierende Grüße gespickt mit rheinischen Fotos. Dank noch mal an dieser Stelle. Sehr aufmerksam. Der Tag war verregnet, aber unten am Hafen ist es auch bei diesem Wetter interessant. Die Kehrwiederspitze wurde allerdings weiträumig umgegangen.

120 Tage heute. Da lasse ich am besten diese Mädels kommen, die für meine "Moulin-Rouge"-Revue ("Spektakulär, spektakulär!") vortanzen wollten.

Das ist so oder so die einzig richtige Antwort. Andererseits lauern wie überall auch hier Gefahren.


 


Sonntag, 18. April 2004


Kehrwieder

"Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte."

(Franz Kafka. Amerika. "Der Heizer". 1935.)



Heute war ein warmer Tag. Der Mann, weder sechzehn (zum Glück) noch vom Dienstmädchen verführt, sitzt am Kai an der Kehrwiederspitze und schaut nach Amerika. Keine falsche Moral treibt ihn hinaus. Es war ein Tag, wie mit dem Schwert gezeichnet. Früher oder später, sagt man dann für gewöhnlich. Früher oder später wäre dieser Tag so oder so gekommen. Nun war es früher oder später. Das ist keine Frage der Uhrzeit. Man hält es zusammen, so gut wie man kann. Und sieht es zerbrechen. Ein Uhrglas zerspringt.

Nachts ist es immer noch kalt. Stimmen aus einer Ferne. Hundegebell. Auf verrosteten Gleisen steht eine ausgebrannte Lokomotive. Am späteren Horizont eine Kette aus Licht. Das ist die Köhlbrandtbrücke. Man lauscht dem monotonen Gesumm eines öligen Generators. Auf halbem Weg, zwischen niemand und nichts, liegt ein russisches U-Boot vertäut. U-434, ein schwarz-metallener Wal, abweisend und kalt. Ich klopfe an.
Doch der Kapitän hat das Boot verlassen.

"Alle Angst der letzten Stunden verschwand." (Kafka, Fragmente.)