Dienstag, 30. August 2005


La Grande Unentschlossenheit

Should I stay
Or should I go now?

(The Clash)

Manchmal, so abends am Fenster, denke ich, fahrt ihr doch alle weg - ich bin ja schon da. Aber dann ist das natürlich Blödsinn, man muß ja auch mal raus, andere Luft, Haut entblößen, Wind und Wasser spüren. Frankreich oder Ostsee, Frankreich oder Ostsee geht das Spiel seit einigen Tagen. Selbstverständlich hieße zu normalen Zeiten die Antwort immer "Atlantik!"

Gischt, Wind und Wettergerbung. Aber nun, vielleicht eine kleine Tour de L'Est oder doch alles anders. Paris oder Prague, Rheinland oder Hauptstadtmoloch - oder einfach Telefon ausstöpseln, Internet erschießen und mit einem Fichtennadelnaufguß auf den Speicher klettern. Schwitzen, brüten, staubsaugen. Oder am Hafen ein Bier trinken. Alles belegt, tönt es aus dem Rohr der Nautilus. Dann schmeißen Sie die Leute raus, denke ich - aber nur leise und für mich und schweige still und überlege mir für morgen Plan Z.


 


Freitag, 26. August 2005


Heute muß es raus

Heute, und es wird einige überraschen, aber ich muß es mal sagen: Rüüüüüüülllps.

(Danke, schon besser. Und vielen Dank auch für die Stöckchen, die nach mir geworfen wurden. Aber ich bin derzeit so dermaßen leckt-mich-doch-alle-mal, da mache ich lieber ein bißchen was offline. Ist eigentlich noch Vollmond?)


 


Dienstag, 23. August 2005


Blarsz. Sklopz!

Etwas will über die Brücken,
Es scharret mit Hufen krumm,
Die Sterne erschraken so weiß.

Und der Mond wie ein Greis
Watschelt oben herum
Mit dem höckrigen Rücken.

(Georg Heym, "Halber Schlaf".)

Der Abend treibt langsam den Nebel über den Kanal. Ich genieße die Kühle, die durch das Fenster kriecht. Ein Nachbar schrie heute die nervöse Ente im Krick an. "Quack-quaak", nervte es den ganzen Tag.
"Halt die Schnauze", echote es über das Wasser. Beantwortet von einem zaghaft-fragenden "Qua?"

Man steht sich zu fern, um solche Fragen verstehen zu können. Man steht sich zu fern für irgendwelche Antworten. Das, was zu sagen war, wurde nie gesagt oder nie freiwillig. Nun spielt es keine Rolle mehr.

Es sind fremde Sprachen. Belassen wir es dabei. Als die Grenzen fielen, waren niemals diese gemeint.

"Crawl down the wall like no-one at all
Crawl down the track, find your way back."
(Editors, "Crawl Down The Wall".)


 


Freitag, 19. August 2005


Positiv/Negativ

Florentino Ariza blieb den größten Teil der Nacht wach,
er glaubte Fermina Dazas Stimme in der frischen Flußbrise zu hören,
nährte seine Einsamkeit mit der Erinnerung an sie, hörte ihr Singen
im Atem des Dampfers, der sich wie Großwild durch die Finsternis vorpirschte,
bis am Horizont die ersten rosigen Streifen auftauchten...

(Gabriel García Márquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera. 1985.)


Wie sich das für Tage mit Vollmond cum Hitze cum Handwerker gehört, ist Schlaf kurz, unruhig und unerfrischend. Nun aber heißt es: Das Dach ist isoliert. Nehmen wir das symbolisch, schließlich ließen sich hier zuletzt einige Zustände geistiger Verwirrtheit nicht von der Hand weisen.

Alles normal also, mag man meinen (Welttag der Alliteration !). Aber dann liebsame Überraschungen im Briefkasten, Schecks trudeln, Lesestoff und Selbstgebranntes. Ich bin angenehm berührt, beschämt ein wenig sogar.
Da hat jemand kurz vor dem eigenen Urlaub nett an mich gedacht. Merci.

Im Supermarkt Super-U (Ich bleibe jetzt dabei), habe ich mich dann dabei ertappt, im Stillen mitzuzählen, als ein irgendwie verschroben wirkender Mann aus einem riesigen Müllsack endlos PET-Leergut klaubte. Bei "37" erwachte ich aus meiner Zähl-Trance, rief innerlich, "He, wer bin ich denn?", und mahnte mich zur Ordnung. (Ich glaube, es ging bis 51.) Schnell wird eine unausrottbare Zwangsneigung aus solcherart besinnungsloser Lässigkeit.

Nun aber wieder ausgeglichener. Mein famoser Tomaten-Mozarella-Salat (cum extra grano salo salis wegen der Hitze plus ordentlich Knoblauch) ist meine Trikoloreantwort auf molligwarme Dachwohnungen.

Gleich ist 19.00 Uhr, dann kann ich eine Flasche Wein entkorken.
Große Zufriedenheit zum Wochenausklang. Ich zähle schon die Minuten.


 


Donnerstag, 18. August 2005


Wasser/Fälle

Frau Gaga hat es mir ja schon angedroht. Die ominösen Zu- und Überraschungsfälle mit Wasser reißen nicht ab. Beim Weg aus dem Haus war der Hinweiszettel der Hamburger Wasserwerke, daß man in den nächsten Tagen meine Wasseruhr zu überprüfen gedenke, nur ein Menetekel für weitere Widrigkeiten: Mit dem Auto unterwegs, blieb ich nach schneckenschleichendem Stop-and-Go und stechender Sonne kurz vor Buxtehude mit kochendem Kühler stehen. Kein Wasser mehr!

In diesen Fällen heißt es nicht nur Heizung an!, sondern vor allem Opfer bringen - und so füllte ich den Kühlflüssigkeitsbehälter mit dem geweihten Wasser aus Lourdes nach, das ich immer zum Trinken bei mir führe. Durstig, aber gekühlt schlich ich wieder heim. (Das Eis in Harburg war aber lecker.)


 


Dienstag, 16. August 2005


Mein erstes Sony

"Hab ich aus 'nem Container gezogen. Da wurde so eine Druckerei aufgelöst." Sie selbst hat sich einen umfangreichen Satz Stempellettern an Land gezogen. "Für T-Shirts. Punk-Style. Leider habe ich nicht alle Buchstaben." Also echter Punk-Style.

Ich bin nun im Besitz eines ECM-280 von Sony. Schönes altes Elektro- kondensatormikrophon in der Version aus den 70ern. Windschutz aus Metall, liegt schön schwer in der Hand, alles mit Originalpapieren, Kabel, Tischstativ usw. Natürlich kein Shure, AKG, Sennheiser oder Neumann. Kein vernünftiges dynamisches Mikro. Aber zum Rumspielen oder fürs Blogread reicht es allemal. Ich wundere mich immer wieder, was andere Leute so wegwerfen.

(Ich finde, dazu gehört jetzt ein Uher Report.)


 


Montag, 15. August 2005


Viktor Kid

Ich habe zu lange Schindluder
mit diesem Körper getrieben.

(Travis Bickle in Taxi Driver. 1976.)

Manchmal flattern mir wie in Wurfsendungen besinnungslose Platitüden, grenzgängerische Rohheit und weitere Beweise des Stumpfen entgegen. Gefangen in der Welt der Spiegel, hat sich da jemand bequem eingerichtet im warmen Schlick der Selbstgefälligkeit.

Dein Götzen ist die Achtlosigkeit und deshalb bleiben dir nur Hochmut und Verachtung. Aber auch das weht nur noch von fern, kein Grund für Wolfsgeheul.
Kein Grund auch für schallendes Gelächter. Wahrlich nicht.
Ich habe zu lange Schindluder mit diesem Körper getrieben. Aber nun geht es täglich besser mit dem Schulterzucken. Man muß im Training bleiben.


 


Freitag, 12. August 2005


Der Pesthauch des Todes

O Rose, thou art sick!
(William Blake, "The Sick Rose". 1794.)

Zwischen Nacht und Bangen entwickeln sich ja oft die luzideren Momente im Leben. So muß ich wohl neulich im Nachtbus, als ich in den barocken Versen von Martin Opitz las, einen wahrhaft prophetischen Moment erwischt haben, ohne daß ich es ahnte.

Heute morgen fragte ich mich beim Blick in den Spiegel, warum um alles in der Welt ich mir einen Tischtennisball in die Backentasche gestopft hatte. Call me Mumpsgesicht!, dachte ich, fand aber zugleich in dieser Elefantenmenschvisage den Beweis, daß die heftigen Zahnschmerzen, die mich die halbe Nacht wachgehalten hatten, keinem absinthgetränkten Delirium entstammten.

Kurz vor dem Wochenende habe ich solche Dinge ungerner im Haus als sonst schon und so fand ich mich kurz darauf nicht beim Zahnarzt meines Vertrauens, aber seiner Urlaubsvertretung wieder. Ich berichtete ihm vom Brodeln unter der Goldkrone auf 4-6, er wackelte pessimistisch mit dem Kopf und führte mich dann in sein kleines Fotostudio. Das schien mir so Küche, Lager und Röntgenraum in einem zu sein, er selbst ging auch nicht etwa hinter eine Schutztür, sondern trat nur drei Schritt zurück, um einen Schalter im Nachbarraum zu betätigen. Dann durfte ich ihm die Rolle Alufolie zurückgeben, mit der ich zuvor wesentlichere Teile meines Körpers bedeckt gehalten hatte.

Als das Röntgenbild fertig war, verstärkte sich sein pessimistisches Kopfwackeln, und er murmelte was "Wurzelspitzen", erweichten Knochen und "damit wären Sie nicht übers Wochenende gekommen". Das Wort "Abszeß" machte alsbald die Runde. So schlimm sei es aber noch nicht, vielmehr seien mein Zahn und ich Opfer einer "Infiltration".

So weit ist es also bereits wieder, dachte ich, während der Arzt nach einer Exzisionszange griff. Noch hegte er nämlich die Hoffnung, meine Goldkrone retten zu können, zwecks späterer Wiederverwendung. Er mühte sich dann auch eine Weile, flanschte, dengelte und bog in meinem Mund, bis er fluchte und schwitzte und schließlich den Löffel das Werkzeug hinwarf. So habe es keinen Zweck, grummelte er, während ich fasziniert, aber auch ein wenig ermattet in den Behandlungsstuhl sank. Dann enthüllte er mir seinen Plan B: Er werde, einem Kamin gleich, ein Loch von oben in den Zahn bohren, damit die Dinge in Fluß gerieten und die entzündeten Eiterherde mein Zahnfleisch nicht weiter ins Kugelige verformen können.

"Und da betäuben wir nicht"? fragte ich zaghaft, während er sich mit seinem Bohrgerät näherte. "Ach," antwortete er leutselig. "Lassen Sie es mich so ausdrücken: In der Pathologie betäubt man die Leichen auch nicht mehr, bevor man sie seziert." Da wo er bohre, er müsse es so sagen, sei alles tot.

"Schön," stöhnte ich. "In der Pathologie habe ich selbst zwei Jahre während des Studiums gearbeitet..." - "Dann kennen Sie das ja", unterband der Dentist meinen Anflug von Fachsimpelei. Das Bohren ging dann auch gleich in Gang, bis es plötzlich - und nun zurück zur Prophetie - gleich dem Zischen der Hydraulik in der Bustür tönte - und eine finstere Wolke putrider Gase meinem Mund entströmte. Die Assistentin zuckte unwillkürlich zurück, der Arzt dröhnte mit sichtlicher Freude: "Haben Sie das mitbekommen? Haha, ein schöner Eiterherd." Mir fielen die Verse Martin Opitz' ein:

Ein scheußlicher Gestanck
Wie sonst ein faules Aaß auch von sich pflegt zu geben
Roch aus dem Hals' herauß

Das war der Beweis. Der Kid ist böse durch und durch! Innerlich verrottet und stinkend wie eine lebende Leiche! Noch aber solle ich nicht alle Hoffnung fahren lassen, meinte der Dentist. "Wir wollen die Sache mal offen lassen, Sie nehmen Penicillin, und am Montag sehen wir weiter."

Mit zerstörter Krone und moralisch schwer angeschlagen wankte ich aus der Praxis. Auf dem Weg zur Apotheke, begegnete mir eine Frau mit Beinen bis zum Hals ungefähr drei Meter langen Beinen in Ringelstrümpfen. Das wäre normalerweise ein Ereignis gewesen, das mich über ein langes, einsames Wochenende getragen hätte. Aber heute verfluchte ich es als Hohn des Schicksals. Jeden Moment rechnete ich damit, daß ausgerechnet jetzt Liv Tyler oder Angelina Jolie ohnmächtig zu meinen Füßen zusammenbrechen und um Mund-zu-Mund-Beatmung röcheln würden. Einem achtzigjährigen Greis müßte ich den Vortritt lassen, nur weil mir der Rosenduft, der für gewöhnlich meinem Munde entströmt, abhanden gekommen ist. Vade retro! rufen die Weiber dieser Stadt, der Kidhaftige kommt! Vielleicht sollte ich mir einen Bocksfuß zulegen.


 


Mittwoch, 10. August 2005


Weltliche Poemata

Nach dem kleinen Bloggerbesäufnis Treffen mit netten Menschen, klettere ich viel-zu-spät-schon-wieder denkend in den Nachtbus und halte Fahrkarte, Lektüre und Musikberieselungsgerät bereit. Schaukelnd geht es durch das Dunkel, die engen Buchstaben verschwimmen, fahle Gestalten steigen zu. Ein hübsches, aber übermüdetes junges Mädchen sinkt auf den Platz neben mir. Bald nickt sie ein und preßt dabei ihr Bein an meines. Ich weiche dem Druck nicht aus und spüre, wie die Körperwärme langsam auf meinen Oberschenkel übergreift.

Wie damals, als Schüler, denke ich. Aber nur, weil ich gleichzeitig in meinem gelben Reclam-Heftchen lese. Martin Opitz, Gedichte.

Was muste der nun leyden
Der an der Kranckheit lag/eh' als kundte scheyden
Vnd ward deß Coerpers loß? das angesteckte Blut
Trat in den gantzen Kopff als ein heisse Glut
Vnd nahm die Augen ein/dievoller Fewers stunden.

Konnte das ein Zufall sein? Im Ohrhörer singen New Order von Temptation.
"So you've got blue eyes, so you've got green eyes, so you've got grey eyes..." Zufall sicherlich. Ich zögere und denke kurz daran, mit meiner Hand die ihre zu berühren. Aber es ist spät und ich beschließe, die Nacht lieber in meinem Bett zu verbringen als in dem feuchten Kellerverlies, in das man in Hamburg die Lustmolche wirft.

Der sprachen weg der Schlund war jaemmerlich gebunden
Die Lunge werthe sich/der gantze Leib lag kranck
Vnd ließ die Kraefften fort. Ein scheußlicher Gestanck
Wie sonst ein faules Aaß auch von sich pflegt zu geben
Roch aus dem Hals' herauß

Gleich dem Zischen der Hydraulik in der Bustür läßt Martin Opitz aus der romantischen Stimmung ganz schön die Lüffte raus. Ach, seufze ich nach innen. Was war das früher schön, als man noch trank, um anschließend dramatisch unglücklich zu sein. Nun stiehlt man sich ein wenig Wärme, fährt durch die Poetischen Wälder heim und spricht zufrieden sein Danckgebet, wie von langwiriger Pest genesen.


 


Sonntag, 7. August 2005


Alles Sagen

Reine Autobiographien werden geschrieben: entweder von Nervenkranken,
die immer an ihr Ich gebannt sind, wohin Rousseau mitgehört;
oder von einer derben künstlerischen oder abenteuerlichen Eigenliebe,
wie die des Benvenuto Cellini; oder von gebornen Geschichtsschreibern,
die sich selbst nur Stoff historischer Kunst sind;
oder von Frauen, die auch mit der Nachwelt kokettieren;
oder von sorglichen Gemütern, die vor ihrem Tode
noch das kleinste Stäubchen in Ordnung bringen
möchten, und sich selbst nicht ohne Erläuterungen
aus der Welt gehen lassen können.
(Schlegel, 1798.)

Was schreiben wir? Selbstentäußerung. Was suchen wir? Vergebung. Wen finden wir? Komplizen. Der Leser, nie besser oder schlechter als wir, sammelt die Fragmente: "Es steht bei ihm, diese Teile zu sammeln und das Wesen zu bestimmen, das aus ihnen besteht; das Ergebnis soll ein Werk sein; und wenn er sich irrt, so ist der Fehler seine Sache". (Foucault, Schriften zur Literatur, 1988.)

Gestaltete Wirklichkeit, Erdachtes, Erlogenes, heimlich Wahres. Wird Robert Smith eigentlich jeden Abend daheim gefragt: "Was hast du denn Schlimmes erlebt, sag. Du hast heut auf der Bühne so traurig geklungen"? Ich denke, nicht. Ich hoffe es, denn sonst wird Herr Smith wohl mit den Augen rollen und sagen, Schatz (oder was immer er zu Hause so sagt), Schatz, mach dir keine Gedanken, es war nur ein Lied.

Ein Lied, das von irgendwoher kam und keine Quelle mehr kennt und keine Wirklichkeit, sobald es gesungen ist. Nur die Wirklichkeit, den Ort des Vortrags und die Quelle, die Deutung, die andere ihm beimessen.

"In gewisser Weise handelt es sich um eine écriture, in der dem Autor die Aufgabe zufällt, einen vollständigen und wahrhaftigen Bericht seiner seelischen Zustände zu geben, und dem Leser, aus diesem Material das soi zu bestimmen. Diese Figur einer gleichsam arbeitsteilig hergestellten écriture de soi erinnert an die Geschichten, aus denen [...] Mediziner und Psychiater beginnen "Fälle" zu rekonstruieren. Der Patient gesteht, der Arzt diagnostiziert.
(Sabine Maasen, Genealogie der Unmoral, 1998.)

Man schreibt, erzählt, wählt aus, schleift, läßt aus und setzt hinzu. Kurz, man gestaltet. Der eine bewußter, der andere weniger so. Man spinnt fort, strickt einen Faden, läßt ihn fallen, nimmt ihn auf, zerrt ihn hinter sich her durch ein Labyrinth, dessen Ende oder Ausgang niemand kennt. Reden, schreiben, singen: Alles sagen oder alles Sagen?

Und wer dann doch den Ausgang findet? Gejagt vielleicht vom Minotaurus oder gelenkt von der eigenen Rettungsleine, dem Rückholfädchen der furchtlosen Helden? Sie können Ihren Computer jetzt ausschalten.
Dieser Ausgang ist nur der Eingang zu einem anderen Labyrinth.