Donnerstag, 29. Juli 2004
... und geht entzwei." (Jakob van Hoddis, "Weltende")
Rauhkraftputz! Fließwasserpumpe! Bolzenschußgerät!
Nicht nur Frau Monolog und ich gehen gern in Baumärkte. Nun hat auch die expressionistische Stimme der Autobahnunterführungen seinen Weg dorthin gefunden. Blixa Bargeld spricht, nein rezitiert Werbung für Hornbach. Demnächst auf Viva. 13 Mal.
Yippie ya ya...

Mittwoch, 28. Juli 2004
Letzte Woche bin ich endlich in den langersehnten Besitz eines Buches gekommen, um das ich schon lange herumgeschlichen war. Leider war es immer sehr teuer. Nun ist es nur noch teuer, und da mußte ich es haben. Der Augenarzt und Sammler von Fotografie Stanley B. Burns hat seit den 70er Jahren eine beeindruckende Kollektion medizinischer Fotografie zusammengetragen. Kuratiert von Joel Peter Witkin hat der überhaupt sehr empfehlenswerte Verlag Twin Palms eine gewohnt edel gedruckte Auswahl vorgelegt. Die oftmals ruppig wirkende, ursprünglich als rein dokumentarisch intendierte Medizinfotografie streift mit dem heutigen Blick oft das Künstlerische. So ähneln die spontanen Muster bestimmter Hautkrankheiten rituellen Tribal-Tattoos oder mit Henna gefärbten Mendis. Aus dem Blickwinkel der Ästhetik des Häßlichen offenbaren selbst grausame Kriegsverletzungen und Körperdeformationen ihren eigenen Reiz. Im Zeitalter der mutwilligen Body modifications durch Brandings, Scarification und kosmetischen Amputationen wirken diese Dokumentationen wie eine bestürzende Spiegelung. Vorbildlicherweise ist jedes der fast 130 Fotos in einem Register ausführlich dokumentiert. Eine interessante Reise in die Frühzeit der modernen Medizin und die (heute oft unterdrückte) Vielgestalt des menschlichen Körpers. Einige Beispiele gibt es hier. (Achtung: Explizit)
Während des Studiums habe ich ja zwei bewußtseinserweiternde Jahre in der Pathologie gearbeitet. (Nein, nicht als Sektionshelfer.) Leider gab es an diesem Ort keine Rechtsmedizin, möglicherweise hätte ich noch einmal umgesattelt. Mein Interesse für die Welt des Dr. Quincy war auf jeden Fall geweckt. Passend dazu erwarb ich noch die Crime Album Stories: Paris 1886 - 1902. Das liebevoll gestaltete Buch führt in die Zeit von Jack the Ripper und die Frühzeit der modernen Kriminalistik. Tatortfotos und ausführliche Dokumentationen versprechen eine spannende Lektüre.

Dienstag, 20. Juli 2004
Vor einigen Jahren erstand ich in einer dieser wunderbaren kleinen französischen Buchhandlungen ein Werk des französischen Comixzeichners Joann Sfar. Hierzulande ist er hauptsächlich durch die "Don Jon"-Serie bekannt, die mir aber nicht so gefällt. Im Grunde ist Sfars Zeichenstil gar nicht der meine. Ich bin ein Freund der ligne claire, Sfar ist mir schon zu krikelig.
Aber der "Petit Vampire" hatte es mir sofort angetan. Die Geschichten um einen kleinen Waisenjungen, der ein Vampirkind kennenlernt und fortan aufregende Abenteuer und tolle Monsterparties erlebt, sind ganz nach meinem Geschmack. Und da ich ja schon ein älteres Kid bin, war ich regelrecht beglückt, als ein Kollege mich auf die Serie "Le Grand Vampire" aufmerksam machte. Der kleine Vampir ist erwachsen geworden und darf jetzt auch mit Gothic-Bräuten flirten, mit ihnen nachts über den Friedhof ziehen, sich über Marilyn Manson und "le gothic punk" unterhalten... Und - ganz wie im richtigen Leben - Sex gibt es natürlich nicht.
Fernand der Vampir hat nämlich Kummer. Seine Freundin, die druidische Baumfrau, hatte ihn schnöde verlassen. Das war ein eher bedrückender Moment im lebenslangen Leben des Vampirs. (Später ist es die Baumfrau, die Fernand eine "zweite Chance" geben will. Vorausgesetzt, er spioniere ihr nicht wieder nach. Als Fernand sich ereifert, er hätte ihr nicht hinterherspioniert, sondern sie bei einem Besuch seines Freundes Michel in dessen Bett vorgefunden, kontert die Baumfrau kühl, mit ihm könne "man ja nicht reden, er sei ja cholerisch". Groß!)
Als später dann die rothaarige Goth-Punkette Aspirine bei ihm einziehen will, die sich sehr rauh und kühl gibt, aber in Wahrheit leicht verletzlich, jähzornig und einsam ist, reagiert der Fernand der Vampir wie es sich für einen Hagestolz gehört: "Tu t'installes pas chez moi. Pas question. Ça fait même pas une nuit que je suis célibataire, alors j'aimerais bien être un peu tranquille." Aspirine ist nämlich eine kleine Drama-Queen. Ihre Freunde, die laut, roh und reichlich stumpf ständig Gothicparties auf Friedhöfen feiern, gehen dem sensiblen Schöngeist Ferdinand rasch gehörig auf den Sender. Ich weiß nicht, woher Sfar mein Leben kannte, aber es ist schön, so etwas schön bebildert zu lesen. Da braucht es kein Tagebuch.
Tranquille. Ruhe. Es gibt nichts schöneres. Gleich mal alle drei Panzerriegel vorlegen, die Zugbrücke zum Kanal hochziehen und - lesen.

Freitag, 16. Juli 2004
Heute, man will nur die "PhotoNews" kaufen, empfängt einen an der Bahnhofsbuchhandlung schon ein eilig gefertigtes, nicht zu übersehendes Schild: "Melissa P. - z. Zt. AUSVERKAUFT!"
Ja, seid ihr denn alle bekloppt? Da schliert sich eine Sexzehnjährige ein paar pimmelstarke Jungmädchenphantasien (Zitat: "In meinem Mund mischten sich die Säfte von fünf Männern.") als elektronisches Tagebuch zusammen, verabredet sich via ("Nichts ist unmöglich") Internet-Chaträume mit, wie sollte es auch anders sein, Sadomasochisten (Zitat: "Ich ließ nichts aus. Gewalt, Erniedrigungen alles!") und Gruppenbumsern, und prompt zieht sich die Verlagsszene wieder gierig ein Stück Skandälchen aus dem Wichsautomaten.
Vor drei Jahren war es die "Catherine M.", die toute la France mit ihren Vulva-Abenteuern ("Ich trieb es mit 50 Männern gleichzeitig.") schockierte, nun fischt man eine verluderte Ragazza aus der italienischen Provinz aus der Gosse von Sodom.
Ihr Lektor konnte wahrscheinlich vor plötzlicher Hosenenge nicht mehr geradeauslaufen, und vor meinem geistigen Auge tauchen schon die Fortsetzungsabdrucke in einer großbuchstabigen Zeitung auf - plaziert wohlmöglich direkt neben der nächsten Treibjagd auf Kinderschänder (oder findet das etwa schon statt?). Die buchstabengewordene Dixieklophantasie schwiemeliger Klötenjongleure ist nun offensichtlich der Hit in der Heavy Rotation der Schnelldreher-Verramscher - und vielleicht auch Thema des Baudrillard-Symposiums am Wochenende im Zentrum fuer Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.
Mach mir schnell ein geiles Simulacrum!
(Jean Baudrillard und die Künste: Eine Hommage zu seinem 75. Geburtstag. 16. - 18. Juli 2004. Symposium und Ausstellung im ZKM | Zentrum fuer Kunst und
Medientechnologie Karlsruhe in Anwesenheit von Jean Baudrillard)

Dienstag, 13. Juli 2004
"Ich bin mit fast allen von der Branche zerstritten. Das ist bekannt. Mein Ehrgeiz wäre es aber, mit allen zerstritten zu sein."
(Franz Xaver Kroetz im Interview mit dem Hamburger Abendblatt.)

Donnerstag, 1. Juli 2004
Schöner Artikel in der NZZ über eine längst überfällige Nische im Hörbuchwesen. Das Lauten, Lallen, LaLuLa.
Leider teuer, nur Jandl, den gibt's heuer... billiger.

Montag, 21. Juni 2004
Ihr Vater war hundertzwei Jahre alt geworden und hatte an seinem letzten Geburtstag einen Viertelliter steifen heißen Grog getrunken. Er hatte den Zeitungsreportern erzählt, das wäre seine tägliche Gewohnheit und er verdanke dieser Gewohnheit sein langes Leben. Er hatte einen richtigen Skandal verursacht und freute sich sehr darüber.
(Katherine Anne Porter, "Oma Weatherall, die man sitzenließ", 193o.)

Freitag, 18. Juni 2004
"Es war schon richtig, daß ich vor keinem Dieb Angst hatte, außer vor mir. Dieser Dieb aber hat nur ein Ziel: mir nichts zu lassen."
(Katherine Anne Porter, "Diebstahl", 1930.)

Freitag, 11. Juni 2004
Er war ein äußerst entschlossen aussehender junger Mann mit einem wilden Blick - ein ausgesprochener Skorpion. Er schien uns um Erlaubnis zu bitten, sich auf dem Teppich zu wälzen, Lolita in die Fußknöchel zu beißen und das Sherryglas durch die Fensterscheibe schmeißen zu dürfen. Etwas, das nur entfernt mit seinem Beruf zusammenhing, verzehrte ihn innerlich. [...]
Zuerst war es ziemlich schwierig, festzustellen, wo er sich inmitten der fliegenden Schrapnelle befunden hatte. [...] Er war aus Warschau vertrieben, in Rotterdam ausgebombt, in Dünkirchen aufs Meer hinaus abgedrängt worden, er war bei den Thermopylen abgestürzt, nach Kreta geflogen und von einem Fischerboot gerettet worden, und nun befand er sich schließlich irgendwo in der Wildnis Australiens, wo er sich mit wenig Nahrung, die er von den Kannibalen des Hochplateaus bekam, am Leben hielt. [...] Er benutzte alle Fürwörter - persönliche, reflexive und besitzanzeigende - unterschiedslos durcheinander. Manchmal steuerte er ein Flugzeug, dann wieder war er nur ein Nachzügler und Freibeuter im Gefolge eines geschlagenen Heeres. In einem Augenblick lebte er von Mäusen und Heringen, im nächsten goß er sich mit Champagner voll wie Erich von Strohheim. Aber in jeder Lage, ganz gleich zu welcher Zeit und an welchem Ort, war er tief unglücklich. Worte können nicht beschreiben, wie unglücklich er sich fühlte; so wollte er es uns wenigstens suggerieren.
(Henry Miller, "Astrologisches Frikassee", 1941.)

Freitag, 4. Juni 2004
Sie blickte durch ihr Guckloch auf das graue Laub der grauen Bäume hinaus und dachte an Soledad Ordóñez, die unscheinbare, bucklige alte Frau aus dem barrio San Miguel, die zweiundzwanzig Jahre lang nicht mit ihrem Mann redete, weil er auf dem Markt von San Andrés ihr Schwein verkauft und sich von dem Erlös eine Woche lang betrunken hatte. Als er auf dem Sterbebett lag, umringt vom Priester, ihren drei Söhnen und vier Töchtern, allen siebzehn Enkelkindern und seinem Bruder, krächzte er mit viel Mühe die Worte heraus: "Soledad, sprich mit mir!" Ihr Gesicht war steinern, der Priester und der Bruder und alle Kinder und Enkel hielten den Atem an, und dann sagt sie ein einziges Wort: "Suffkopf", und er starb.
(T. C. Boyle, América, 1995.)
Ein schönes, deprimierendes Buch, das nicht ohne Hoffnung ist. Es zeigt, wie alle zaghaft keimende Hoffnung durch irrwitzige, unwahrscheinliche aber immer glaubhafte und dann fast doch vorhersehbare Weise immer wieder aufs Neue zerstört wird. Mit anderen Worten: Ein äußerst lebensnahes Buch, das unter anderem zeigt, wie ein liberaler Mittelklasse-US-Amerikaner zum wütenden Rassisten oder rassistischem Wüterich wird.
Warum? Weil der Mexikaner Cándido (sprechender Name) heimlich mit seiner schwangeren Braut América (sprechender Name) die Grenze zu den USA überwindet, um als Illegaler Arbeit und die Aussicht auf ein kleines bißchen Wohlstand zu finden. Und wie die beiden, wie weiland ein Paar namens Joseph und Maria, als Aussätzige und Unerwünschte in einem fremden Land leben müssen. Und wie alles immer nur schief läuft, fast 400 Seiten lang.
Bis am Ende buchstäblich alles verschlungen ist.
