Mittwoch, 22. Juni 2005
Sonnenwende am Timmendorfer Strand. Ja, das ruft Erinnerungen wach, aber nevermind, nur leise, nicht laut. Nicht in diesem Blog. Unter der Woche kann man sich sogar in überlaufene Ostseebadeorte wagen. Also flugs den roten Aufsitzrasenmäher beladen und ab ins gleißende Licht. Wasser, Mittwend-Sonne und halbnackte Körper, die sich vollmondexaltiert im angewärmten Sand wälzen. An der Kante des Wassers suchen wir den Hühnergott.
Das sämige Ananaseis entschädigt für frühere Besuche in eisiger Kälte, in Zeiten, in denen sich gar nichts mehr regt. Das letzte Mal, als ich im Sommer auf Rügen die Ostsee besuchte, hatte ich den Job als Kofferträger der ehemaligen Miss Mecklenburg. Immer respektvoll zwei Meter dahinter, nur Ohr, Hand, nicht Mund. Aber das ist zum Glück lange her, dieser Rabe lange davongeflattert.
Hingegen wie schön heute das entspannte Flanieren, der verstaubte Glanz der alten Boutiquen. Unter der Seebrücke pfeift Teenagerliebe. Die Lolitas des Ortes, die jungen Gecken. Von der Brücke springen ein paar bronzegefärbte Jünglinge mit runtergelassenen Hosen hinab in die See. "Arschbombe!" rufen sie, die Mädchen halten sich kichernd die Augen mit gespreizten Fingern zu. Heute ist Sonnenwende, da wird Holz brennen und ein harziger Geruch sich verbreiten.
Und hie und da, unten am Strand, fließt ein wenig Blut.
Dienstag, 14. September 2004
"Mir tut's leid um sie", sagte er langsam. "Sie ist einfach durch
und durch ein Biest und ein Flittchen. Könnte sein, daß ich sie irgendwo
auch wieder ziemlich gern habe. Eines Tages wird sie mich brauchen,
und dann werde ich der einzige in ihrer Nähe sein,
der keinen Schürhaken in der Hand hat."
(Raymond Chandler. Der lange Abschied. 1954.)
Der Schlaf vor Morgengrauen ist ja bekanntlich der erquicklichste; und so bin ich seit jeher wenig amüsiert, werde ich um vier Uhr nichtsahnend aus dem Schlummer gerissen. Ob die Ursache nun blutdürstige Frauen oder liebeshungrige Mücken oder umgekehrt sind, meiner Ungnade seien die Unglückseligen gewiß. Was sage ich: In solchen Momenten bin ich bereit zu töten.
Gewöhnlich liegt man nichtsahnend in irgendwelchen verrenkten Positionen zwischen Himmel, Erde und Deckengewirren, bevor man die Propellergeräusche eines kleinen Erkundungsmoskitos mehr erahnt als wirklich auf dem Akustikradar wahrnehmen kann. Ehe man die Bedeutungstiefe dieser luftaufklärerischen Aktivitäten noch richtig verarbeitet hat, übertönt schon das scharfe Sägen der Sturzkampfmaschinen - Stechrüssel voraus - jegliche strategischen Finessen der Obersten Heeresleitung. Flak ist angesagt, Sperrfeuer und zwar sofort. Wildes Gefuchtel mit den Händen also in der Luft, es ist Krieg, und alle Mann zu den Waffen. Natürlich bringt das unkoordinierte Gehampel der allerersten Flugabwehr gar nichts. Im Gegenteil. So mancher hat sich im Friendly Fire schon die eigene Ohrmuschel plattgehauen und kann sich mit dem Resthörvermögen das hämische Gezirpe des heimtückischen Feindes anhören, der schön längst seine provozierenden Runden in sicherer Deckenlampenhöhe dreht. Mein Gegner aber hat die Gefahr des ersten fahlen Morgenlichtes der bretonischen Sonne unterschätzt. "Resistance!" gellt eine Stimme in mir, als ich den pumpenden Körper einer Fokker-D III-Moskito an der weißen Wand neben mir erspähe. In grimmiger Entschlossenheit und wohlabgeschätzten Bewegungen greife ich zum Buch auf dem Nachttisch. Raymond Chandler. Der lange Abschied. Es ist ein kurzer Prozeß, Pour le Mérite, und Blut färbt den frühen Morgen rot. Schweigend nehmen wir Abschied, die Rote Baronin und ich.
Der bretonische Spätsommer strotzt vor vitalem Saft. Draußen in der keltischen Natur überkommen selbst den verzärtelten Städter die archaischsten Gelüste. Was kann es also schöneres geben, als zwischen phallisch in die Höhe ragenden Menhiren wie ein halbnackter Pan durch die Botanik zu springen und den in der Sonne bratenden Eidechsen was auf meiner Flöte vorzuspielen? Und so genoß ich es - zum Zeichen meiner Manneskraft mit einem ungefähr drei Meter langen Baguette bewaffnet - wie ein junger Faun durch die Heide zu gaukeln und allerlei Unsinn auszuhecken. Leider war an diesem Tag auch Schwarmtag der Ameisen. In dichten grauen Wolken hatten sich hunderttausende flügge gewordener Prinzessinnen über ihren Nestern versammelt, bereit, sich mit jedem Ameiserich der Umgebung zu paaren. Die Hormone schienen den rolligen Biestern gehörig die Sinne vernebelt zu haben. Hielten mich vielleicht für einen Iren. Jedenfalls stürzten sich ganze Scharen der bissigen kleinen Emsen auf mich, bereit, mir gierig die Flöte zu zernagen. So müssen sich die Beatles gefühlt haben, wenn sie aus Versehen den falschen Bühnenausgang genommen hatten, dachte ich, und suchte schleunigst das Weite. Immer das Motto meiner Altvorderen gedenkend:
The man who runs away, lives to fight another day.
Am Strand unten war es jedoch nicht viel besser. Im Allgemeinen halten sich die Franzosen mit dem Oben-ohne-Baden ja gepflegt zurück. Aber natürlich mußte sich ausgerechnet am halbeinsamsten Strand der Bretagne auf dem Nachbarhandtuch eines dieser Gauloise-verrauchten Luder umständlich ihres Oberteils entledigen, Halleluja. Und während ich noch dachte, klar, und gleich noch die 0190-TV-Spot-Nummer und sich ausgiebig die Brüste mit Sonnenmilch einreiben, während ich im Urlaub bin, Halleluja, da fing sie an, sich ausgiebig die Brüste mit Sonnenmilch einzureiben. Ich begann schon Stimmen zu hören, so wie Quentin Tarantino in From Dusk Till Dawn, als er Juliette Lewis gegenüberstand, Halleluja. Zum Glück lag knapp vor meinen Füßen eine ziemliche Menge recht kalten Atlantiks. Der kühlte ziemlich schnell, Halleluja. Das stolze Baguette, das ich nach wie vor fest umklammert hielt, knickte rasch ein und verfiel in kurzer Zeit zu klumpigem Brei. Ich war sehr stolz auf mich, während ich mit kräftigen Zügen schaumiger Gischt und saugenden Wellen trotzte. Man hat als älterer Herr schließlich Vorbildfunktion. Halleluja.
Am nächsten Tag fand ich Absolution. Für böse Taten und schmutzige Gedanken. Auf dem großen Pardon, einer Art bretonischer Wallfahrt, von Ste.-Anne-la-Palud. Da werden im Anschluß an einen schlichten Dankgottesdienst in alten Trachten Heiligenbildnisse einmal um die Düne getragen. Und das ist wirklich ergreifend. Da findet alles seinen Platz und auch ein Spötter einmal Ruhe.
Montag, 13. September 2004
Arbeiten? Muß nicht sein.
Am Ende der Welt, finisterre, wartet die Belohnung: Wenn man nach 1600 Kilometern endlich den Weg zum Strand hinuntergehen und die nackten Füße in den Atlantik stecken kann. Bis dahin aber endlose Autobahn, das immer wieder prickelnde Abenteuer Périphérique bei Paris und regengepeitschte Routes Nationale, auf denen die Gischt nur so spritzt.
Halbverfallene Schindeldächer, ebenso von wildem Gesträuch halb überwucherte Natursteinhäuschen, die Umgebung ist pittoresk. Man sitzt im Garten auf einer alten Holzbank, zeichnet und schreibt ein wenig, genießt den Wind, während von ferne irgendwo ein Hund bellt. Die Blumen und Gewächse des Gartens sind mir leider kein Begriff. Das sind Mängel, die der Städter des Westens im allgemeinen mit sich herumträgt. Aber ich kann mich auch an Dingen erfreuen, die keine Namen tragen. Das Unbekannte.
Das, was kommen wird.
Nach einer Zeit in solchen französischen Ferienhäusern bekommt man ja das Gefühl, als sei man selbst der Eigentümer oder zumindest mit diesem gut bekannt. Nach Tagen des Müßiggangs fängt man dann an, sich für bauliche Mängel und nachlässig ausgeführte Installationen zu interessieren. Und wird im Lande des laissez-faire schnell fündig. "Ach," denkt man, "dem Pierre werde ich doch gleich mal die Elektrokabel ordentlich verlegen." Man selbst hat zu tun, und Pierre wird sich freuen, wenn er zurückkehrt.
So greift man - zumindest in Gedanken - verschönernd und erhaltend ein.
(Außer bei meinem zweiten Ferienhaus. Ein Trauma bis heute. Bei diesem dachte ich bereits am ersten Tag daran, es einfach in die Luft zu sprengen. Selbstverständlich im festen Glauben, den geschmacksverirrten Besitzern auf diese Weise etwas Gutes zu tun.)
Die üblichen langweiligen Urlaubsbilder anderer Leute in den Kommentaren...
Montag, 16. August 2004
Auch wenn ich aus der Gegend von nirgendwo stamme, bin ich als Kind sozusagen in Schleswig- Holstein aufgewachsen. Meine Großmutter väterlicherseits bewohnte dort eine alte Bauernkate, in der sie nach dem Krieg sechs oder sieben Kinder großzog. (Da meine Mutter ebenfalls sechs oder sieben Geschwister hat, geht mir da schon mal der Überblick verloren. Wie das in solch großen Familien üblich ist, besteht auch nicht mehr zu allen Teilen Kontakt.) Als kleines Kind war ich die ganzen Sommer über da, später dann zumindestens die sechs Wochen in den großen Ferien.
Die Sommer früher™ waren bekanntlich heiß und endlos. Ich war die ganze Zeit draußen, hing wahlweise im Kirsch- oder Apfelbaum oder auf dem Plumpsklo in dem kleinen Schuppen vor dem Haus, wenn die Früchte noch nicht reif genug gewesen waren. Das Haus war ein langgezogener Flachbau, in dem links und rechts jeweils Familien wohnten. In der Mitte befand sich ein ehemaliger Kuhstall, damals dann Lagerort allerlei geheimnisvoller Schätze und Piratenkisten. Das Leben war einfach und für uns Kinder nicht hart. Das war die Gegend, wo man kilometerweit barfuß durch den Schnee zur Schule ging. Aber, he, es war Sommer, und ich hatte große Ferien. Vier Steckdosen gab es in dem Haus, in jedem Zimmer eine. Wollte man zusätzliche Geräte anschließen, wurde eine mürbegewordenes, baumwollumsponnenes Kabel durch den Raum gespannt. Eines nachts holte ich mir an der wackligen Steckverbindung den ersten Stromschlag meines Lebens.
Der Tag begann damit, daß man Wasser von der Pumpe auf dem Hof holen mußte. Zwei Eimer voll wurden geholt. Einen für Trinkwasser, den anderen für Waschwasser. Großes Abenteuer. Dann ging es raus in die ewige Sonne (geregnet hat es selbstverständlich nie oder nur nachts). Ich spielte auf dem Kopfsteinpflaster rings ums Haus (auf denen konnte man sich prima aufgeschlagene Knie holen, wenn man zu schnell um die Hausecken peste) oder sah den Schwalben zu, die unter der Dachrinne im meterabstand ihre Nester bauten. Oder ich traf mich mit den anderen Kindern aus der Umgebung. Dann rasten wir durch die Getreidefelder oder besuchten die Kälber in den Ställen. Häufig waren auch zwei meiner Cousinen dabei, von denen die eine immer wollte, daß ich mich auszog. Ich spielte aber lieber mit den Katzen vom Nachbarhof.
Als ich älter wurde, war die ländliche Einöde Schleswig-Holsteins nicht mehr wirklich interessant, und ich verlebte meine Ferien anderweitig. Dreißig Jahre bin ich nicht mehr dort gewesen.
Bis neulich. Von Hamburg aus ist es mit dem Auto nicht so furchtbar weit, und vor ein paar Tagen habe ich es denn endlich einmal geschafft, die Orte meiner Kindheit aufzusuchen. Dunkel erinnerte ich mich an den Namen des kleinen Dorfes irgendwo bei Neumünster. Von der Bundesstraße links ab, hatte ich ein diffuses Bild vor Augen. Und tatsächlich ging es von der Bundesstraße links ab. Und tatsächlich kamen da die Bauernhöfe, und dann gabelte sich der Weg, und statt der von mir erwarteten endlosen Reihen nutzloser Einfamilienhäuser, waren da immer noch die Felder, in denen sich meine Cousine verdächtig oft die Schlüpfer geraderücken mußte, während ich nach meinem Kätzchen suchte. Und dann war da immer noch der große Baum (nun ja, es waren sogar zwei. Keine Ahnung, woher der andere auf einmal kam), an dem sich der Weg erneut gabelte. Und wieder ging es links, und ich dachte, na, nun werden hier aber nutzlose Einfamilienhäuser stehen. Aber dann kam der Bauernhof, wo meine Großmutter und ich abends immer die Milch holten, und die Scheune, wo ich einmal fast im Stroh erstickt wäre. Und dann stand da die alte Kate.
Und was soll ich sagen? Die alte Kate ist sozusagen eine neue Kate. Hübsch hergerichtet, der Dachboden ausgebaut, die Tür in den Kuhstall versetzt. Alles noch da, bis auf die Pumpe. Aber selbst die Schuppen mit den Plumpsklos stehen noch, nunmehr als reine Lagerräume für Gartengeräte genutzt.
Das war natürlich Anlaß für tolle Erinnerungsrückstürze. Wie kurz doch der Weg vom Haus meiner Großmutter bis zu dem großen Baum, der eigentlich zwei ist, geworden ist! Da entlang kam einmal die Woche der fahrende Supermarkt, ein umgebauter Laster, mit vielen Regalen, auf denen Lebensmittel aller Art angeboten wurden. Meine Großmutter kaufte mir immer Lakritzschnecken. Die Packung hielt aber nie bis zur nächsten Woche. Einen Briefkasten gab es dort auch, aber kein Postamt. Man warf den Brief einfach hinein und zwanzig Pfennig für die Marke hinterher. Auf der Post wurde das dann alles abgerechnet. Soll noch mal einer sagen, die Deutschen könnten nicht lässig sein.
Die neuen Bewohner waren nicht daheim. Aber mit den direkten Nachbarn und mit den Leuten von gegenüber habe ich mich unterhalten. Zugezogene, die sich aber noch dunkel an den Namen meiner Familie erinnern konnten. Die Nachbarn ließen mich sogar hinters Haus in den alten Garten gucken. Da stand noch der Kirschbaum. Meine Großmutter hatte dort ein Bündel alter Blechdosen gehängt, an denen eine lange Schnur befestigt war, die bis zum Haus reichte. Kein Dosentelefon, um mich zum Essen zu rufen, sondern ein Schreckapparat, um die Vögel zu verscheuchen. Ab und an ging man im Haus ans Fenster, wo das Ende der Schnur verknotet war, zog ein wenig und ließ die Dosen klappern. Dann rauschten ungezählte beleidigte Kirschendiebe mit wildem Gezeter davon.
Ein schönes Gefühl. Es ist alles noch da. Nicht zu einem Haufen alter Steine zermahlen, sondern schöner denn je. Erinnerungen, mal nicht zertrümmert. Meine Cousine bekam früh ein Kind. Ich weiß aber nicht, was sie heute so macht.