Nox

Es ist die Nacht des 9. November 1989. Das Fernsehen der DDR überträgt eine Pressekonferenz. Günter Schabowski, Mitglied des SED-Politbüros, verliest stockend eine Mitteilung des DDR-Ministerrates. Es herrscht Verblüffung, dann Tumult. "Wann?" fragt ein Journalist.
"Nach meiner Kenntnis sofort, unverzüglich."

Eine junge Frau tötet einen Mann. Sucht die Ader in seinem Hals und schneidet ihm mit einem Messer die Kehle durch.
Den sterbenden Mann läßt sie zurück in ihrer Wohnung zurück und stürzt hinaus in das Dunkel einer Stadt, die am Morgen eine ganz andere sein wird.

Zwei Ereignisse, seltsam unverbunden zunächst, bedingen einander, werden eins. In der Nacht, als die Mauer fällt, streift die junge Mörderin durch Berlin. Verfolgt von einem ostdeutschen Schäferhund. Einem der berüchtigten, scharfgemachten Tiere, die den Todesstreifen bewachen.

Thomas Hettche ist einer der wenigen westdeutschen Autoren, die sich literarisch mit dem Fall der Mauer und dem Thema "1989" auseinandergesetzt haben. Sein Roman Nox (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995) nähert sich in einer merkwürdig kalten, dokumentarischen Sprache einem hochemotionalen Thema. Seine Figuren jagt er durch eine in mehrerer Hinsicht historischen deutschen Nacht, in der die Zeit aber stillzustehen scheint.

Das Personal ist bizarr. Ein Geräuschemacher, ein Pathologe, die Mörderin, eine pseudohedonistische Gruppe, die sich die Zeit mit Kokain, anonymen Sex und sadomasochistischen Ritualen vertreibt. Die Orte "erlesen": Die berühmte medizinhistorische Sammlung Virchow mit ihren "Monstren", ein Schiff, das auf dem Landwehrkanal Richtung Mauer fährt, Parties, Hinterzimmer von Kneipen, sterile Wohnungen.

Ähnlich gequält aber wirkt auf Dauer die betont sachliche Sprache, die konstruierten Bilder. Da ist viel von Schnitten die Rede. Die Mauer als Schnitt, die Öffnung als solcher. Ein zerschnittenes Land teilt sich die sprachlichen Bilder mit dem Messer, das die Kehle durchtrennt, mit den Sektionssälen der Charité, mit einem Mann, dessen Haut durch S/M-Praktiken zerschnitten und mit Zeichen übersäht ist.

Die symbolischen Handlungen folgen teilweise so platt aufeinander, daß der literarische Taschenspielertrick nicht mehr zu übersehen ist. Einmal folgt auf die Beschreibung einer schmerzhaften Penetration ("Die kühle Betäubung des Pulvers nahm den Schmerz nicht, als er in sie eindrang, sondern verstärkte ihn noch...") nur wenige Seiten später schon die symbolische Paralelle. Die Grenze öffnet sich, die DDR-Bürger strömen in die Stadt, "drängen" in den Westen: "Der Schmerz brannte im Körper der Stadt, und ihre Augen zuckten hinter den geschlossenen Lidern im Schlaf, während das Schiff langsam immer weiter in sie hineinglitt."

Derlei Konstrukt aus dem Writer's Workshop zerstört leider immer wieder den Eindruck, man hätte es hier mit tiefschürfender, ernsthafter Literatur zu tun. Angereichert mit ach-so-gewagten Sexpraktiken und den ebenso bemüht wirkenden Schauerbeschreibungen aus Virchows Pathologischer Präparatesammlung, heischt der Roman mit Oberflächenreizen um Aufmerksamkeit. Und gleichzeitig ist er geradezu krampfhaft bemüht, mit seiner gewählt schmucklosen Sprache den Eindruck eines feingewobenen Kunstwerks zu suggerieren.

Das Schauersujet als Kaltnadelradierung. Aber Hettche ist nicht Goya. Er bleibt artifiziell, kunstgewerblich. Merkwürdig, erst gegen Ende des Romans lebt der Autor auf. Dann nämlich, als er vom Leiden der Wachhunde am Grenzstreifen berichtet. Dann, als er vom poetischen Träumen, der Sehnsucht dieser gequälten Tiere schreibt. Der Autor liebt die Menschen nicht. Der Autor ist ein Tierfreund.

Dennoch, das Buch ist lesenswert. Zumal man im Grunde immer noch nicht begriffen hat, was 1989 eigentlich passiert ist. Weil man manchmal noch stockt, wie weiland Schabowski. Vielleicht ist es auch bezeichnend, daß ein westdeutscher Autor einen solch düsteren Ton anschlägt, während Thomas Brussig, Reinhard Ulbrich und Co. das Thema so humorvoll angehen.
Ach, und Suhrkamp: Man schreibt nicht "Pobaken".

Ex Libris | 04:02h, von kid37 | Kondolieren | Link