Der Traum vom Osten

Für manche ja schon ausgeträumt.
Manchmal frage ich mich aber, was sind das eigentlich für Redakteure, die diese ostalgischen Rückblicke betreuen. Eben bei arte gab es alte 8mm-Filme aus der DDR zu sehen. Säugling Rainer, geboren am 28.10.1965 (schönes Datum ;-)), wird gebadet. Kommentar: "Stoffwindeln. Ein ganzes Land ist ihnen groß geworden." Richtig. Ein ganzes Land. Nicht nur die eine Hälfte. Im Westen gab es nämlich zu dieser Zeit in der Regel auch nichts anderes.

Überhaupt wird gerne vergessen, daß zehn, zwanzig Jahre nach dem Krieg die Alltagswirklichkeit Ost/West sooo unterschiedlich noch gar nicht war. Im Westen gab es auch nur Kohleöfen und Klos auf dem Flur. Man besaß einen Stuhl und einen Anzug. Und kein Buch.

Vermutlich sind diese Redakteure nicht älter als 30.

Homestory | 01:36h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
bara - Samstag, 28. Februar 2004, 01:49
"Überhaupt wird gerne vergessen, daß zehn, zwanzig Jahre nach dem Krieg die Alltagswirklichkeit Ost/West sooo unterschiedlich noch gar nicht wahr."

Das glaube ich nicht.

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kid37 - Samstag, 28. Februar 2004, 02:10
Ich meinte den 2. Weltkrieg. Nicht daß Sie mich in eine Falle locken wollen ;-)

Ich habe vor ein paar Monaten eine Ausstellung über Haushaltsgegenstände aus der DDR gesehen. Was soll da in den 50er/60er Jahren schon großartig anders gewesen sein? Emailletöpfe, Nachkriegstischchen, Kohleöfen - das kenne ich noch aus meiner eigenen Kindheit (West). Das Klo auf der Treppe auch. Stoffwindeln habe ich wohl selbst noch getragen. Dederon hieß bei uns Dralon und war ähnlich... öh, haben die Anwälte? Nun, ich fand's nicht so prickelnd.
Die berühmten Kunststoff-/Plasteierbecher sahen ein wenig anders aus... aber nicht viel.

Anderes Beispiel: Meine Mutter ist 1956 mit ihrer Familie in eine Zweizimmerwohnung gezogen. Das waren sieben Köpfe. Hinten schliefen meine Großmutter und die Mädchen, vorne in der Küche auf Sofas die Brüder. Einer hat sich, so weit ich weiß, dann so bald es ging, abgesetzt. Das war eine Zeit in den ausgebombten Städten, in denen in Ost wie West große Wohnungsnot herrschte. Und übrigens auch Hunger.

Die Schere ging erst später auseinander. Da allerdings gab es im Osten dann immer noch diese Dinge, während ab den späten 60ern sich im Westen die Leute alles NEU kaufen konnten (und auch taten). Aber übrigens auch nicht alle. Ich habe neulich einen Blick in die Wohnung meiner Nachbarin werfen können, die Mitte 80 ist.
Ich würde sagen, ein Museum von 1962.

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bara - Samstag, 28. Februar 2004, 02:21
Naja, ich hab in den 60ern nicht gelebt, aber....Alltag besteht nicht nur aus Alltagsgegenständen. Und ich glaube, daß ziemlich unterschiedliche Aufbau- und Alltagserfahrungen gemacht wurden. Besitz, Arbeit, Verwaltung, Politik, Macht und auch Kultur...das muß ziemlich unterschiedlich gewesen sein. Nicht?

Und: sie hatten auch diese Eierbecher aus Pastik, in der Form von Hühnern? Die vermisse ich.

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kid37 - Samstag, 28. Februar 2004, 02:28
Da haben Sie natürlich recht. Meine Begrifflichkeit war da nicht genau genug. ich meinte mit Alltagswirklichkeit tatsächlich nur die ganz unmittelbare Warenwelt, Alltagskultur. Diese Art von Lebenswirklichkeit.
Es wird oft so getan, als wäre der Osten so putzig gewesen. So bitterarm mit Tempobohnen und Plaste und Elaste. Während der Westen "Im Nu" sehr wohlhabend gewesen sein soll. Das stimmt weder so noch so.
Meine Gewährsleute aus dem Osten haben mich darauf aufmerksam gemacht, daß es im Osten der 80er eben immer noch nach 50er/60er Jahre ausgesehen hat. Da war der Westen tatsächlich schon davongeeilt.
Aber sich über den DDR-Alltag der 50er/60er "lustig" zu machen, so wie es diese Dokus vormachen, halte ich für unnötig. So anders war das "hier" nicht.

Andersherum gilt das natürlich auch. Es denken ja auch viele Ostler, im Westen hätten sich alle immerzu nur Jacobs-Kaffee leisten können. Man fragt sich, von wem die Aldi-Brüder jahrzehntelang gelebt haben mögen. ;-)

Edit: Die Eierbecher! Ganz vergessen. Nein, die Hühner hatten wir nicht, da war uns der Osten selbstverständlich voraus. Wissen Sie was es letztes Jahr gab? Eine Blechkiste, 0,5 qm DDR mit "Reliquien" der DDR-Alltagskultur. U.a. auch so einen Eierbecher. Wurde von einem Verlag vermarktet, der glaube ich, was mit dem Eulenspiegel zu tun hat.

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kid37 - Samstag, 28. Februar 2004, 02:37
Wespennest!
Hier habe ich bestimmt eine tolle Schublade aufgemacht. Ich trau mich gar nicht, morgen früh hier rein zu schauen, weil ich jetzt bestimmt öffentlich auf dem "Platz der deutschen Einheit" ausgepeitscht werde. ;-)

Ich eß jetzt schnell zur Buße ein paar Knusperflocken!

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bara - Samstag, 28. Februar 2004, 03:03
"Es wird oft so getan, als wäre der Osten so putzig gewesen. So bitterarm mit Tempobohnen und Plaste und Elaste. Während der Westen "Im Nu" sehr wohlhabend gewesen sein soll."

Ok, ich glaube, ich verstehe ihren Punkt jetzt besser. Und er ist wichtig. Und Teil des Wespennestes.

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kid37 - Sonntag, 29. Februar 2004, 22:58
Vielleicht
höre auch nur ich eine permanente Süffisanz in diesen Kommentaren raus. "Da wird der Säugling in einer Plastikschüssel gebadet..." Ja, worin denn sonst? Ich höre da immer so einen Unterton: "Guck mal, wie witzig, wie arm und rückständig das drüben war." Und dann werden Filme aus den 60er Jahren gezeigt und dabei völlig übersehen, daß sich in dieser Zeit der Westen auch noch nicht komplett neu eingerichtet hatte. Ja, es gab schon Einwegwindeln. Aber die konnte sich niemand leisten. Stoffwindeln waren in "normalen" Kreisen bis Ende der 60er im Einsatz. Also, was soll das "Überlegenheitsgetue"?

Das nervt mich total.

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