Gelbe Träume an klebrigem Linoleum

If it is asserted that civilization
is a real advance in the condition of men,
[...] it must be shown that it has produced
better dwellings without making them more costly [...].

(H.D. Thoreau, Walden, or Life in the Woods. 1854.)

Beim abendlichen Ausflug zur Hamburger Immobiliensafari ließ mich heute ein Nachbar ins Mietobjekt, der mich sp0ntan an Gaston erinnerte. Die Haltung, die Frisur - selten drängte sich die Besetzung einer Rolle stärker auf. Es war zwar sicher eine andere Marke, aber im Sinne der Dramaturgie möchte ich auch behaupten, die in seinen rechten Mundwinkel geklebte Fluppe war eine aus dem Hause Gauloises. He, ihr Franzosen mit eurem Hang zum Comic-Klamauk: Wann kommt die Gaston-Verfilmung?

Gaston jedenfalls besitzt den Schlüssel zur Nachbarwohnung, und ein Blick auf das Matratzenlager im Wohnzimmer hilft einigen wilden Ideen durch den Geburtskanal, was man so machen könnte, verfügte man über solcherart zusätzlichen Wohnraum. Bei meiner grundsätzlich so asketischen Lebensweise bräuchte ich natürlich kein Liebesnest, aber ein Gebetsraum mit Beichtstuhl ließe sich sicher einrichten.

Die Behausungsvisiten in letzter Zeit haben mir ja wieder die Finessen und Haken des menschlichen Miteinanders eindrücklich nähergebracht. Denn wie in jeder sozialen Spielgemeinschaft sind auch im Umfeld von Wohnungsbesichtigungen einige Regeln zu beachten. So sind meiner Meinung nach scherzhaft gemeinte Fragen wie "Ob man denn sein Schild Kolloratursänger an der Haustür anbringen dürfe" im Beisein potentieller Vermieter besser zu unterlassen. Auch allzu kritisches Gebohre und Gepuhle, sei es mit den Fingern, Messwerkzeug oder inquisitorischen Fragen sind sorgsam zu dosieren, den silbernen Anstecker vom Mieterschutzbund nimmt man besser gleich vom Revers.

Mein kleiner Speisesaal

Der bauliche Zustand Hamburger Wohnungen ist allgemein besser als noch vor zehn Jahren - aber vielleicht schaue ich mir die Löcher diesmal gar nicht erst an. Aber diese altbekannten kreativen Badlösungen, bei denen man über die Kloschüssel steigen muß, um in der Duschtasse zu landen ("Treten Sie nicht zu kurz"), sind mir diesmal noch nicht untergekommen. In Stadtteilen, die seit ein, zwei Tagen die Schlagzeilen des Boulevard beherrschen, soll demnächst viel Wohnraum freiwerden, wenn man den Aussagen der Bewohner des "Hochhaus' des Schreckens" (MOPO) glauben schenken darf. Ich bin da vorsichtig. In zwei Wochen wird die Erinnerung an das, was sich in der Plastiktüte einer Billig-Modekette für junge Leute befand, schon deutlich schwer fallen.

Gestern war ich in einer betulichen Ausstellung, die auch mal gut tat. (Betuliche Taten tun.) Die Erfindung der amerikanischen Malerei dürfte allerdings neben Menschen im Goldenen Zeitalter höchstens noch Amerikanisten wie mich interessieren. Die romantischen Landschaftsschinken der Hudson River School hängen schon ein wenig schwer in noch schwereren Rahmen - zeigen aber unbestritten großartige Vistas (wenn auch gerne weniger realistisch denn komponiert, aber was solls) und vor allem die allmähliche Formung amerikanischer Vorstellungswelten, Ideen, Spleene & Ideale, die heute so oft auf andere Weise schauern machen.

Ich möchte die Stickbilder im Museumsshop empfehlen. Truisms von Emerson und Abraham Lincoln gibt es dort, hübsch gerahmt. "All that I am, or hope to be, I owe to my mother" ist mein Favorit. Das klingt, aus einer Plastiktüte heraus gesprochen, allerdings etwas dumpf und erstickt.

(Die Erfindung der amerikanischen Malerei. Bis zum 28.5.2007 im Bucerius Kunstforum, Hamburg.)

Flanieren | 12:07h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
kettenbrecher - Mittwoch, 21. März 2007, 12:29
Bei uns, in dieser sterbenden Stadt am Ostrand des Ruhrgebiets, werden die Wohnungen einem förmlich nachgeschmissen (wenn das jetzt kein schiefes Bild ist!)...
Naja, ist halt nix los hier. Sogar Bucerius, der in dieser meinen hassgeliebten Stadt der ewigen Agonie geboren ist -ich glaube die Stadtväter sind auch mächtig stolz auf ihn, es gibt ja auch sonst nichts Vernünftiges, also muss der Zeit-Gründer für so was wie Glanz herhalten-, hat es nach Hamburg gezogen.
Euch die Erfindung der amerikansichen Malerei im Bucerius Kunstforum, uns ein Bucerius-Haus und ein sauteures 90erJahre Großmachtstraum-Museum mit nix drin.

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cabman - Mittwoch, 21. März 2007, 13:10
Ach Herr Kid, ich denke Sie können sich nicht vorstellen, welch schweren Herzens ich Ihrer Odyssee durch Hamburgs Wohnstättenmeer folge. Schlimm ist das, gerade jetzt, wo doch Ostern so dicht vor der Tür steht, nicht? Na egal, sollten Sie jedenfalls noch einen Platz suchen, Ihre Eier zu verstecken, biete ich Ihnen, natürlich nur kurzweilig, so im Sinne von Bloggern helfen Bloggern, meinen Leerstand an. Wir könnten dann auch Eier bemalen, auf der Matratze sitzend Rotwein trinken und uns lustige Geschichten vom Osterhasenkadaver ausdenken, oder so. Übrigens, Mümmelmannsberg war ja einer meiner Favoriten.

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novesia - Mittwoch, 21. März 2007, 13:17
Schenkelklopfen (erschrocken und erheitert zugleich) beim letzten Absatz.

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kid37 - Mittwoch, 21. März 2007, 22:18
@Kettenbrecher: Ich habe da früher auch viel Zeit verbracht und finde die Entwicklung in solchen Städten (auch wenn ich meine Eltern besuchen fahre) reichlich bedrückend. Leerstand, Stillstand, Abbruchstand, so scheint es mir. Dazu ewig der Gedanke, die Politiker im Raumschiff Berlin bekommen von den "normalen" Städten und Regionen gar nichts mehr mit - die steigen aus dem ICE, durchschreiten den 1-Mrd.-Bahnhof und sind flugs in ihren Büros im Reichstag verschwunden. Einkaufsbummel auf dem hyperventilierend reich geschmückten Ku'damm. Suggestion: alles prima.

Hier, alles bieder, gut abgehangen. Aber das Herz schlägt im Westen, heißt es.

Herr Cabman, noch ist mein Zelt im Keller. ich sitze tonnenschwer in meiner Wohnung - so leicht gehe ich nicht raus. Über mein Beharrungsvermögen haben sich schon ganz andere Menschen gewundert.

Frau Novesia, man mag diese Vorgänge ja alle gar nicht glauben, noch weniger sie kommentieren. Allein die Tristesse dieser "New Yorker"-Plastiktüte. Letzten Endes verdeckt die Empörung derzeit wiederum nur die eigentlichen Fragen: Was fängt man an mit unserem "Hasenbergl"? Ich finde, das nächste dieser Hochhäuser darf ruhig mal in Blankenese gebaut werden. Aber man leistet sich ja lieber eine "Elbphilharmonie".

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neurokomiker - Donnerstag, 22. März 2007, 02:36
Herr Kid, bei allem Mitgefühl mit Ihrer Wohnsituation: bitte keine Gaston-Verfilmung! Erstens kann dabei nur Klassikerschändung herauskommen und zweitens kommt Truffauts Antoine Doinel dem Gaston'schen Phlegma doch schon erfreulich nahe.

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kid37 - Donnerstag, 22. März 2007, 11:09
Aber der war doch Kid37 der Mann, den sie küßten und schlugen. Wir brauchen jemanden mit mehr Erfindergeist, keinen Schürzenjäger! Andererseits würde man den cholerischen Chef sicher mit Jean Reno besetzen... Na ja, schlimmer als Lucky "Schweiger" Luke kann es nicht werden.

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diagonale - Donnerstag, 22. März 2007, 12:06
Jean Reno!

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