Wiener Lied

Doch weiß ich noch nicht, wohin ich will.
Auch ist vorher so manches abzuwickeln,
und Österreich will ich jedenfalls vorher noch
einmal wiedersehen. Ich sage "vorher",
denn ich denke schwerlich dort zu bleiben.

(Hugo von Hofmannsthal,
"Briefe des Zurückgekehrten". 1907.)



Warum sollte ich aus meinem Herzen ein Grüftl machen? Wer sich ein wenig für Sex Zuneigung und Tod Abschied interessiert, dem ist die schön morbide Zuckerbäckerstadt naturgemäß ein locus amoenus, den man kaum noch verlassen möchte. Sportlich eingeflogen ("Heute fliegt die Strecke erstmals unser Co-Pilot" - und ja, der Rückwärtsschub geht) und gleich ins Museumsquartier katapultiert, wurden mir ein paar schöne Tage serviert. Auch wenn fünf Piefkes die Konkurrenz eines spannenden Nationalratswahlabends nicht wirklich glasklar für sich entscheiden konnten, war es ein hoch unterhaltsamer Abend in der Herbststraße. Schön, einige bekannte Blogger und Leser wiedergetroffen und schön auch, einige weitere erstmals kennengelernt zu haben. (Warum wurde mir das mit der Puppenspielerin erst so spät erzählt?)

Toll auch der kleine Ausflug mit Familie Neun, wo man nicht recht weiß, ob man nun mit der überaus charmanten Frau Mama oder doch mit Lisa durchbrennen soll. Auf begeisternde Empfehlung landete ich dann nämlich noch im Naturhistorischen Museum, ein Hohetempel aller Taxidermisten. Wochenlang Stundenlang kann man in den opulenten Schausälen tote ausgestopfte und sonstwie präparierte Tiere bestaunen.



Auch wenn einen die mottenpulvergesättigte Luft am Ende etwas wirr macht - schon allein, weil man vor lauter Staunen den Mund nicht wieder zu bekommt -




man taumelt doch höchst entzückt ins Freie, meditierend über die Vielfalt der Natur. Und ja, es gibt dort auch puschelige Tiere, welche mit Fell und Kulleraugen - aber man kann ja nicht alles abbilden.

Am Ende steht das Ende: Unterhalb der Michaelerkirche befindet sich nämlich eine beeindruckende Gruft. Kein Vergleich zur hochadeligen, quasi gelackten Kapuzinergruft, sondern eine (leider) vom Verfall gezeichnete Grabanlage mit über 200 Särgen, Gebeinhaufen, Mumien und allerlei sepulchralem Zierrat. Der Erhalt der Gruft und der vom hungrigen Rüsselkäfer bedrohten Särge ist aufwendig und teuer - weshalb ich dringend den Erwerb des reich bebilderten Büchleins nebst anderer Spenden empfehlen möchte. (Weitere Informationen auf der Webseite.) Darauf noch eine Torte, denn selten mischen sich delectare et prodesse so angenehm wie in Wien.

Ausfallschritt | 14:57h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
pappnase - Freitag, 6. Oktober 2006, 15:20
danke für die reiseberichterstattung, lohnt zum nachfahren, ihre tour...

 link  
 
kid37 - Freitag, 6. Oktober 2006, 15:43
Nehmen Sie die kleinen Nasen mit, die werden endlos begeistert sein.

 link  
 
bluetenstaub - Freitag, 6. Oktober 2006, 20:31
Mich hätten Sie als kleine Nase nicht in einen solchen "Gruselladen" reinbekommen. Und heute, nur wenige Jahre später, auch (noch) nicht.

 link  
 
kid37 - Samstag, 7. Oktober 2006, 03:14
Ach was, das ist super interessant. Das hätte ihnen bestimmt gefallen. Wie gesagt, es waren auch kuscheligere Tiere da. Und putzige Vögel. Und Beschützer! ;-)

Fragwürdig fand ich höchsten die beiden Neunjährigen, die sich - von den Eltern nicht recht beaufsichtigt - in einem Museum mit offenen Mündern eine Doku von Nitschs Orgien-Mysterientheater anschauten. Die werden wohl nicht so gut geträumt haben. Oder eben doch.

 link  
 
pathologe - Freitag, 6. Oktober 2006, 15:25
Ich hoffe, das letzte Bild zeigt nicht eine dieser neuartigen Billighotelübernachtungsmöglichkeiten in Wien.

Ansonsten schöne Bilder und schöner Bericht. Die ausgestopfte Maus vor dem Spiegel (oder ist das ein Windows?) ist doch ein schönes Computerbild, steht sie doch indirekt für die binäre "1" vor der binären "0".

 link  
 
kid37 - Freitag, 6. Oktober 2006, 15:42
Mäuse und Männer
Wenn Sie dort übernachten möchten - nehmen Sie eine extra Decke mit. Ist lausig kalt dort unten (man rückt dem Käfer mit niedrigen Temperaturen zu Leibe. In der Kälte hat er nämlich verständlicherweise keine Lust auf Sex).

Dieses Spiegelbild vexiert endlos: böse Zungen könnten auch die "Null" im Spiegel bemerken, die ein rundes Kameraobjektiv bildnerisch aufs Bild richtet, das sich spiegelt... und so weiter ad infinitum. Ein hübscher Spaß.

 link  
 
diagonale - Freitag, 6. Oktober 2006, 16:04
Somit steht Wien jetzt auch auf meiner ToDo-Liste. Herrje, so lange kann ich nicht gar nicht leben... Ich werde priorisieren müssen.

 link  
 
saxanasnotizen.blogspot.com - Freitag, 6. Oktober 2006, 17:18
Die "Anderen" schrieben schon, was ich auch denke. Morgen fahre ich hin, weil schöne Bilder, interessanter Text und ich bräuchte etwas Neues anzuziehen.

 link  
 
kid37 - Freitag, 6. Oktober 2006, 18:23
Un.Be.Dingt! Gerade in Wien habe ich Damen nur schick gekleidet gesehen.


 link  
 
seelchen - Freitag, 6. Oktober 2006, 18:37
Palmes gibt es doch bestimmt über 10 Mal in der Innenstadt, es ist unglaublich wie lange sich solch ein Ladenb halten kann.

Ich hatte die Ehre diesen Sommer an den heißesten Tagen des Jahres dort zu verweilen, aber es hat der Reise keinerlei Abbruch getan, höchstens ein paar Einschränkungen gebracht.

Im Naturhistorischen Museum waren wir auch und einen Moment lang dachte ich ernsthaft diese in Glas gehüllten Exemplare für Sie zu fotografieren, was ich dann aber doch irgendwie unpassend fand. Wie schön, dass Sie es jetzt selbst "erleben" konnten.

Wien ist auf jeden Fall eine Reise wert und wenn ich mir ihren Bericht so durchlese, bekomme ich schon wieder Sehnsucht.

Aber sagen Sie, haben Sie ein Stück Sachertorte probiert?

 link  
 
c17h19no3 - Freitag, 6. Oktober 2006, 19:53
ich bin immer noch wie im rausch. es war toll! hat sich total gelohnt.
und nein, herr kid hat keine sachertorte probiert, sondern sich dank meiner anwesenheit zu einer schlafmohnspezialität verführen lassen. *g*

 link  
 
kid37 - Samstag, 7. Oktober 2006, 03:11
Stimmt. Ich war sehr verführt. Berauscht auch, irgendwie. Und am nächsten Tag war ich drauf und dran, die "Egon-Schiele-Torte" zu probieren. Mit abgespreizten Fingern.

@ Seelchen: Ich finde, Palmers-Geschäfte beleben jedes Stadtbild. Offenbar hat die Wienerin auch einen hohen Verschleiß Bedarf, wenn es so viele Filialen gibt. Man kann sein Geld aber auch ungeschickter ausgeben. ;-)

Über diese Fotos hätte ich mich aber sehr gefreut. Ab und an bekomme ich so was ja von Lesern geschickt - tote Tiere, Ringelstrümpfe. Ich bin dann regelmäßig sehr gerührt.

 link  
 
c17h19no3 - Samstag, 7. Oktober 2006, 07:35
egon-schiele-torte. holla. ich kredenze dann einen klimtschen goldregen-tee dazu, denn die vollkommene extase endet bekanntlich immer tödlich und nicht nur mit abgespreizten fingern.
statt servierschürzchen natürlich in ringelstrümpfen, der fetisch ziert den rausch. ;)

 link  
 
ana - Freitag, 6. Oktober 2006, 20:51
Doch weiß ich noch nicht, wohin ich will
Frankfurt, Berlin, Wien ... das sind natürlich Stationen. Aber vielleicht wollen Sie zur Abwechslung mal in die Provinz kommen. Nach Bamberg zum Beispiel. Da gibt es auch ein schönes Naturhistorisches Museum und sogar eines über E.T.A. Hoffmann. Wenn das als Werbung nicht reicht, dort kann man täglich das "Abendmahl" und zwar verbilligt verzehren.
Der Bamberger Dichter hat übrigens einen schönen Satz über Mensch und Tier geschrieben.
"Ist denn das auf zwei Füßen aufrechte Einhergehen etwas so Großes, dass das Geschlecht, welches sich Mensch nennt, sich die Herrschaft über uns alle, die wir mit sicherem Gleichgewicht auf vieren daherwandeln, anmaßen darf?
Wie kamen die Spinnen, die haben noch mehr als vier Füße, nur hinter das Glas?

 link  
 
kid37 - Samstag, 7. Oktober 2006, 03:23
Der Hoffmann besaß ja so eine pfiffige Dachwohnung mit Transportkorb für Katze und Vesperverzehr. Als Dachwohnungbewohner finde ich das ja sehr faszinierend. In der Tat fand ich es sehr nett und passend, die Lesereise in Wien zu beenden, eine Stadt, die mich trotz aller Unkenrufe bislang immer mit offenen Armen empfangen hat. Wäre von dort das Meer nur nicht so weit!

Talking about Provinz: Seit Jahren plane ich eine Moselreise, mit kruden Fotos und nachdenklichen Betrachtungen. Eine Expedition ins weinselige deutsche Herz. Aber Bamberg wäre auch schön.

 link  
 
ladys smock - Sonntag, 8. Oktober 2006, 02:32
Das Meer ist jederzeit erreichbar.
Ich trag es immer in meinem Herzen.
Denn die Sehnsucht bringt einem alles näher als es die Wirklichkeit je könnte.

 link  
 
kid37 - Sonntag, 8. Oktober 2006, 04:53
Manchmal ist die Sehnsucht wie klebriger Kaugummi unter einer Profilschuhsohle. Aber was wäre ich ohne sie. Und wo.

 link  
 
ladys smock - Sonntag, 8. Oktober 2006, 18:28
Diese Profile hinterlassen ganz schön tiefe Eindrücke in weichen Untergründen.

 link  
 
nicodemus - Freitag, 6. Oktober 2006, 20:53
…na das ist doch was für einen Wortpräparator toter Viecher, dort wo der Tod eine zelebrierte Feierlichkeit und jede Hochzeit nur der erste Akt zur Vermehrung der Anzahl von Trauergästen ist. Dort wo die Leich` das Attribut „Schön“ trägt und die schwarzen Damenhüte nie aus der Mode kommen, wo man rechtzeitig mit einen Fuß ins Grab steigt um ein wenig, noch lebendig die Ergriffenheit zu genießen… Servus Suizid in Wien!

 link  
 
kid37 - Samstag, 7. Oktober 2006, 03:24
Das Land, dessen Kultusminister früher singen durfte: "Ich spreng mich aus sämtlichen Meldekarteien - und Sie, Sie fliegen mit!" (Franz Morak)

 link  
 
l9 - Sonntag, 8. Oktober 2006, 18:29
Schade an Wien nur, dass der Tod so nach und nach wegrenoviert wird und Wien langsam, schleichend, fast unmerklich zu Tode kommt. Und nach dem Tod kommt bekanntermaßen Disneyland.

 link  
 
engl - Montag, 9. Oktober 2006, 02:03
ist das so? naja, ich zumindest habe neulich beschlossen, daß ich unbedingt in wien sterben muß. vielleicht hilft das ein wenig. ;-)

 link  
 
kid37 - Montag, 9. Oktober 2006, 14:58
Es gibt Städte, da möchte man nicht begraben sein. Wien gehört definitiv nicht dazu.

 link