Jungfrauen am Telefon

Nun kam der Wind auf, mild tastend, voll von Stimmen der Vergangenheit, vom Geflüster uralter Geranien, vom Geseufze der noch vor den hartnäckigsten Sehnsüchten erlebten Enttäuschungen.

Gabriel Garcia Marquez. Hundert Jahre Einsamkeit, 1967.

Halbabendliches Telefongespräch. Eine alte Freundin. Astrologisch versiert. Sternzeichen Jungfrau. "Das ist das Zeichen der Analyse." Tatsache. Nicht das der Intrige? "Ja, das ist der Schatten." Ok, laß uns über Schatten reden.

-Mich beschäftigt das Problem der Funktionaltheorie, Malinowksi, du weißt.
-Oh, Malinowski.
-Er sagt, anders als beim Tier gäbe es beim Menschen keine bestimmte Zeit der Brunst. "Das heißt, daß der Mann jederzeit zum Geschlechtsakt in der Lage ist und die Frau jederzeit fähig, sich ihm hinzugeben - Umstände, die, wie wir wissen, die menschlichen Beziehungen nicht vereinfachen."
-Das hat Malinowksi gesagt?
-Ja. Und er spricht über Kultur und Tabu, und er meint:
"Die Kultur übt aber nicht nur einen rein negativen Einfluß auf den Geschlechtstrieb aus. In jeder Gemeinschaft finden wir außer Verboten und Beschränkungen auch Anreize zur Partnerwerbung und sexuellem Interesse."
-Dieser Malinowski hat's voll drauf.
-Voll krass, würden jüngere Menschen sagen. Er erwähnt Festlichkeiten wie Tanz und so. "Solche Zeiten schaffen natürlich mit Hilfe der verschiedenen Stimulantien, künstlerischen Betätigung und der allgemeinen festlichen Stimmung Anreize zur Partnerwerbung."
-Karneval der Kultur? Oder was meint er?
-Fett, ich meine korrekt, ich meine, ja so was in der Art. Und ich dachte, Kunst diente der Sublimierung!
-Quatsch. Es geht doch immer nur ums ficken!
-Ist das nicht etwas platt?
-Du meinst, ich verallgemeinere?
-Du verallgemeinerst doch immer.
-Das ist jetzt aber auch verallgemeinernd.
-Ok, richtig. Ich meine, es ist ja nicht wie bei dem alten Roadie-Spruch: "If it moves, fuck it. If it doesn't move, put it on a truck."
-Nein. Ich meine ja auch auf einer tiefenpsychologischen Ebene. Dann reduziert sich halt alles.
-Hm, Du meinst tiefenpsychologisch reduziert sich gutes Essen auf McDonalds?
-Für den, der nur ans Ficken denkt, wahrscheinlich schon. Er wird es selbst nicht so sehen, weil er eine höhere Meinung von sich aufrecht erhalten will. Wahrscheinlich nimmt er ein gutes Buch mit, wenn er zu McDonalds geht.
-Das ist doch aber wieder Sublimierung?!?
-Oder ein Schwanzersatz.
-Ihr astrologischen Jungfrauen seid immer so direkt in eurer Ausdrucksweise.
-Man kann nicht immer rumeiern, haha, wenn du verstehst...
-Haha. Willkommen in Kalau. Manchmal versteht man ein Thema besser, wenn man es umkreist. Das Mäandrieren, Tasten, drumherum laufen. Stell Dir vor, jemand verlange von, sagen wir Garcia Marquez, komm mal auf den Punkt!
-Ha. Bei Marquez. Geil.
-Malinowski hat noch Interessantes über jugendliche Rivalitätskämpfe, Vatermord und so weiter...
-Na ja.
-Er spricht über das Fluchen. "Jede Form von Beschimpfung oder unflätiger Sprache enthält Aufforderungen, beladen mit starken emotionalen Möglichkeiten."
-Werd konkret.
-Aber voll fett, Alde: Also du sagst zwar, friß Staub! Leck mich! oder Stirb! aber das ist nur die Aufforderung, mit der du den anderen möglichst weit erniedrigen willst. Du Lügner! Je nach Kulturkreis: Je nachdem, welches Tabu herrscht. Fick deine Mutter! Du Idiot! Du Arschloch!
-Redest du mit mir?
-Äh, 'tschuldige, es ging gerade mit mir durch. Nein, ich dachte an jemand anderen.
-Ah ja. Was ist eigentlich mit Sonntag?
-Sonntag? Ja, ist ok.
-Vorher noch mal telefonieren oder sollen wir direkt was ausmachen?
-Wir telefonieren.
-Ha, rumeiern! Na ok, dann gute Nacht.
-Ja, schlaf gut.

(Zitate: Bronislaw Malinowski. Geschlecht und Verdrängung in primitiven Gesellschaften. 1962)

Homestory | 00:27h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
kid37 - Freitag, 16. Januar 2004, 10:15
Da sind sie hin...
... die Kommentare. Das scheint mir ziemlich widersprüchlich. Schade, aber denn. Nur als Hinweis: ICH habe sie nicht gelöscht. Es wäre konsequent gewesen, diese hier so stehen zu lassen, wie die, auf die sich das wohl bezog.
Aber man muss auch mal verlieren können.
Ich hoffe, lieber Kommentator, der Kater ist heute morgen nicht allzugroß, und Sie schauen mal wieder vorbei. Gelegentlich.

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maz - Freitag, 16. Januar 2004, 14:16
In der Tat
habe ich sie gelöscht. Ich hatte darauf keine Lust mehr. Ich spürte mich schützen zu müssen, weil nicht meine Beiträge kritisiert wurden, sondern ich angegriffen wurde (wie ich dich wahrscheinlich in meinem Kommentar verletzte und so zu deiner Muse avancierte).
...
Naja, bei einem guten Whiskey hat man am nächsten Tag nur wenig Probleme.
Außerdem gibt es einen guten Ratgeber in solchen Fällen: Katerfrühstück

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kid37 - Freitag, 16. Januar 2004, 15:48
Angriff und Verteidigung
... hm, wer austeilt, sollte auch einstecken. Oder? Dein Beitrag hier bot kaum Möglichkeit der konstruktiven Auseinandersetzung. Er ist in der Tat ein bloßer Angriff, wohl ein wenig alkoholinduziert. Insofern wäre es nett gewesen, nicht nur diese Kritik stehen zu lassen, sondern auch das "Lob" von der "gelungenen Retourkutsche" gestern Nacht ;-)
Vielen Dank übrigens für die eMail. Die erklärt immerhin ein, zwei Hintergründe. Es immer problematisch, komplexe Situationen - oder Texte - auf einfache Strukturen runterbechen zu wollen. Ich habe den Eindruck, es ging um Reizworte, weniger um das, was der Text eigentlich sagen wollte. Ich finde übrigens auf einer bestimmten Motivebene unsere vorletzten beiden längeren Texte sehr ähnlich. Vielleicht mache ich da mal was zu.

Das Katerfrühstück brauche ich bestimmt Samstag früh...
Bis dann.

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michael blasius - Freitag, 16. Januar 2004, 14:03
Das Problem
mit Vertretern irgendeiner Theorie ist, dass ihre Erklärungsversuche fast zwangsläufig einseitig werden. Man kann „soziokulturelle Erscheinungen“, wie es Funktionalisten wie Malinowski ausdrücken würden, eben nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion betrachten. Zeitweise kann dies angenehm sein, da durch sie die komplexe Welt übersichtlicher und erklärbarer wird, letztlich ist es aber bloß eine Vereinfachung.

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kid37 - Freitag, 16. Januar 2004, 15:37
Dies zu zeigen...
... war - unter anderem - Ziel der obigen kleinen Satire. Man hüte sich vor allzu einseitiger Betrachtungsweise - auch wenn man im Alltag immer wieder auf solche einfachen Strukturen und Erkenntnismuster zurückgreift. Man achte aber auch auf das Erscheinungsjahr der Abhandlung von Malinowksi. Immerhin hat er bestimmte Diskurse überhaupt angestoßen. Freuds These vom Vatermord als Ausgangspunkt kultureller Leistung ist im übrigen ja wieder aktuell.

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