Vom Lesen und Lernen, I.

Doktor Seidelbast und der faule Puck

Vielleicht nicht mein erstes Buch, aber das, mit dessen Hilfe ich lesen lernte, war Doktor Seidelbast. Noch heute weiß ich den Anfang auswendig, "'Hatschi, Hatschi!' niest Dixie das Wichtelkind." Hunderte Male mußte meine Mutter mir die eindringliche Geschichte vom kranken Wichtelkind Dixie vorlesen, das mit dem Heuschreck und dem Käfer im Regen getanzt und sich in der Folge bös' erkältet hatte. Ein Besuch beim guten Doktor Seidelbast war unabwendbar, in der Waldapotheke wurde eine Arznei angefertigt ("Ein Deka Salbei..."), die Freunde kamen zum Krankenbesuch, die besorgte Mutter hegte und pflegte, und am Ende - man hielt es als junger Leser kaum noch aus vor Spannung - schien die liebe Sonne wieder und alle waren froh und gesund.

Oft lag ich in Sichtweite meiner Mutter, die meist an der Nähmaschine beschäftigt war, auf dem Boden herum, blätterte wichtig in dem illustrierten Buch und murmelte aus der Erinnerung, aber schon mit dem Finger unter der Zeile, die Geschichte herunter. Bis sich eines Tages, und ich behaupte, ich kann mich an den Moment genau erinnern, sich die wild durcheinandertanzende graue Buchstabensuppe plötzlich zu Worten und Sinneinheiten formte. Ich konnte lesen! Es war ein Augenblick wie beim Fahrradfahren oder Schwimmen - auf einmal ging es, ich wußte selbst nicht wie, und es wurde nie mehr verlernt. Aufgeregt sprang ich zu meiner Mutter, den Finger auf den Seiten, stolzgeschwellt und erklärte ihr gewichtig, was dieses oder jenes Wort zu bedeuten habe. Noch hatte ich bei längeren Worten Schwierigkeiten, aber der Durchbruch war geschafft.

Die Gesellenprüfung war die zweite Geschichte in Doktor Seidelbast:

"Der faule Puck" war eine weitere Variante der bekannten Fabel von der Grille und der Ameise. Nur daß diesmal ein bequemer Waldgnom den Sommertag einen guten Mann sein ließ, während Familie Eichhorn fleißig Nüsse und Eicheln für die kalte Jahreszeit sammelte. "Der Winter ist doch noch lange hin", erklärte unser Hippie-Wichtel lässig und spielte auf seiner Fidel. Aber eines Tages - o weh! - erwachte der alte Gammel-Puck vom eisigen Wind, der durch den Wald fegte, und bald hatte sich Schnee über Gras und Bäume gelegt. Da war das Zähneklappern groß, denn aus war es mit fetten Früchten, die verlockend von den Zweigen hingen.

So faul der Puck aber war, so tapfer war er auch. Als nämlich das verirrte kleinste Eichhornkind von einem bösen Marder (oder war es ein Fuchs?) attackiert wurde, griff der Wichtel ein und schlug das Raubtier in die Flucht. Puh, das war knapp! Aus Dankbarkeit nahm Familie Eichhorn (die schon total in Sorge war) das verfrorene Männchen bei sich auf, steckte ihn unter dicke Daunen und Mutter Eichhorn servierte eine köstliche heiße Suppe. Nun ja, et hät noch immer jot jejange! sagt dazu der Rheinländer bekanntlich.

Nach diesen ersten beiden prägenden Leseerfahrungen wird sicherlich klar, warum aus mir am Ende ein arbeitscheuer Hypochonder werden mußte.

Ex Libris | 13:35h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
mark793 - Mittwoch, 8. Juni 2005, 14:01
Erstaunlich,
dass Sie sich noch so genau daran erinnern. Ich weiß zwar noch, dass die erste Zeichenfolge, die ich mehr nachmalte als schrieb, das Autokennzeichen des elterlichen VW Variant war. Aber wie ich es mit dem Lesen geregelt kriegte, weiß ich nicht mehr im Detail. Irgendwann war der Knoten geplatzt, und sehr schnell entdeckte ich den Polizeibericht in der Lokalzeitung als spannende Lektüre für mich. Dieser Sozialisationsfaktor blieb auch nicht ganz folgenlos für mein weiteres Leben. Aber zunächst hatte erst mal meine Grundschullehrerin ein Problem, mich zu beschäftigen, während der Rest der Klasse sich durch die Mühsal des Lesen- und Schreibenlernens kämpfte...

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kid37 - Mittwoch, 8. Juni 2005, 18:41
Das plötzliche Zusammengehen der Buchstaben war ein Schlüsselmoment, darum weiß ich das wohl noch. Deshalb habe ich dieses Buch auch aufbewahrt.

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k.tastrophe - Mittwoch, 8. Juni 2005, 18:42
den "faulen puck" kenne ich gar nicht, nur den fleissigen briefträger (pitje) puck. vielleicht ne generationssache ;-)
meine mama hat übrigens immer alle grausamen bücher- und märchen- passagen in schön umgedichtet. lief gut bis meine älteren geschwister, die bereits selbst lesen konnten, mir erzählt haben, dass das alles erlogen und ganz anders ist. aus mir konnte am ende nur eine misstrauische zweiflerin werden.

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mue - Mittwoch, 8. Juni 2005, 20:50
dann sind sie ja ein richtiges wunderki(n)d! die jugend von heute sollte sich ein beispiel an ihnen nehmen.

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kid37 - Mittwoch, 8. Juni 2005, 21:51
Nun ich war schon zwölf... Die Jugend sollte sich mich nicht in allem zum Beispiel nehmen, will sie nicht der Frühverspießerung anheimfallen. Aber was Anständiges lernen und nicht ältere Herrschaften in der U-Bahn anrempeln den ganzen Tag, jawohl, da bin ich sehr für. Und so Klamotten habe ich auch nie getragen. That's official!

@Frau K.tastrophe: Zweifel sind immer gut, Mißtrauen vielleicht hinderlich. Ab und an. Im zweiten Teil berichte ich von den schaurigeren Leseerfahrungen im Anschluß. Bleiben Sie dran, das wird Ihnen gefallen.

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arboretum - Mittwoch, 8. Juni 2005, 23:40
Stets gefährlich ist's zu reisen,
wenn im Wasser Strudel kreisen.


Ihre Mutter war da ja noch gut dran, musste sie doch nur einem Kind Hunderte Male vom kranken Wichtelkind vorlesen. Wir waren drei Geschwister, und Lurchi gehörte zu den Büchern, die unsere Mutter deshalb auswendig konnte. Wir allerdings auch, was sämtliche Versuche, die Abenteuer etwas abzukürzen, zum Scheitern verurteilte.

Einer meiner Favoriten war Frederick, die Maus. Ein großer Geschichtenerzähler. Wahrscheinlich rührt daher meine fatale Leidenschaft für arme, musische Männer. Hätte ich mal lieber mehr für den abenteuerlustigen Salamander geschwärmt, der hatte wenigstens immer ordentliche Schuhe an. Zudem gingen ausnahmslos alle Geschichten mit dem gut aus.

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l9 - Mittwoch, 8. Juni 2005, 23:41
Oh ja. Was bei mir besonders schlimm war: ich lernte Lesen auf Waschmitteltrommeln (Omo) und Klebstofftuben (Uhu) und kämpfte deshalb lange Zeit mit der Leserichtung (von links nach rechts oder von rechts nach links?). Auch mit der Semantik hatte ich Probleme. Herzlichen Dank, Herr Kid, für diesen erinnernden Beitrag. Seidelbast, oh ja.

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fabe - Donnerstag, 9. Juni 2005, 00:55
räuber hotzenplotz, sag ich.

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modeste - Donnerstag, 9. Juni 2005, 01:00
Bei mir war´s ja ein brauner Bär, der an Dynamik mit Doktor Seidelbast nicht mithalten konnte. Der auf diesen Kompetenzgewinn folgenden Langeweile in den ersten Schuljahren schreibe ich indes bis heute einen ganzen Haufen meiner Unfähigkeiten zu. Dann ist wenigstens meine Mutter schuld, und nicht ich selber.

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mark793 - Donnerstag, 9. Juni 2005, 01:13
Hm.
Den Vorwurf kann ich meinen Eltern nicht machen, dass sie mich dazu getriezt hätten, vor der Einschlulung Lesen und Schreiben zu können. Ich wollte es wirklich selber wissen.

Würde Ihnen aber insoweit zustimmen, Frau Modeste, dass ich mir damit langfristig gesehen nicht wirklich einen Gefallen getan habe. Zumindest die weitere schulische Laufbahn hab ich mir einigermaßen versaut, weil ich mich zu lange in dem Gefühl gesonnt habe, es eh drauf zu haben...

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modeste - Donnerstag, 9. Juni 2005, 01:20
Meine Mutter spricht ja bis heute von einem Akt purer Notwehr im Umgang mit einem schon eher etwas zu anstrengenden, verhältnismäßig überaus kommunikativen Sproß. Aber natürlich, Herr Mark, wären wir beide ohne diesen frühkindlichen Kardinalfehler splendide Schüler geworden, das steht mal fest.

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burnster - Donnerstag, 9. Juni 2005, 03:27
faul und nichtsnutzig, aber im rechten moment selbstlos. wenn das kein echt cineastisches heldentum ist.

der vorläufer von allen filmprivatdetektiven mit heruntergekommenen büros. the wasted way = the right way.

und am ende wartet das sorgende weib. im puck beispiel zwar offensichtlich die eines anderen, aber wer weiß wie's hinter den kulissen weiterging.

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au lait - Donnerstag, 9. Juni 2005, 17:48
Abgesehen vom Bezug auf Lesetexte völlig themenfern, aber: Lohnt sich "Ein Mensch jagt nach Liebe"? "Kokain" von Pitigrilli zählt zu meinen absoluten Lieblingsbüchern, und ich hatte schon länger mit anderen Werken von ihm geliebäugelt. Wobei "Ein ein Mensch jagt nach Liebe" und seine anderen Werke scheinbar nurmehr antiquarisch verfügbar sind. Große Grüße aus Absurdistan,
Ole

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kid37 - Donnerstag, 9. Juni 2005, 19:08
Pitigrilli ist eine Entdeckung, lassen Sie sich bloß nicht aufhalten. Er hat sich ja später wieder sehr der Moral zugewandt, eine spannende Entwicklung, wenn man die frühen Werke liest. "Ein Mensch jagt nach Liebe" ist etwas griffiger als "Die Jungfrau von 18 Karat". Es geht darin um die Aspekte der Liebe: Betrug, Verrat, Moral. Ehrlich gesagt, kommen Frauen darin vielleicht nicht ganz so gut weg. Aber genauso steht der männliche Held, ein Richter, als naiver Tor da, weil er an die Gerechtigkeit in der Justiz und in der Liebe glaubt. Sie merken, es ist auch ein sehr komisches Buch.

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arboretum - Freitag, 10. Juni 2005, 00:32
Ich frage mich gerade, was ich mir unter einem Vegetarier der Liebe vorzustellen habe.

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mark793 - Freitag, 10. Juni 2005, 00:35
Vielleicht jemand,
der fleischlichen Genüssen abhold ist?

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arboretum - Freitag, 10. Juni 2005, 00:39
Ach so, Der Keuschheitsgürtel (1951) ist dann der darauffolgende Band?

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