Hinter dem schwarzen Schleier



Während also im Zimmer das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble vor sich hindrohnt, wie honigverklebte Schmetterlinge, die über einen blütenverzierten Teppich kriechen, schlürfe ich verhalten an einer Tasse Ersatzkaffee (das Leben als Ersatzhandlung) und blättere im neuesten Band aus dem Last Gasp-Verlag. Der hätte vor nicht allzulanger Zeit beinahe selbst den letzten Atemzug getan, obwohl er mit seinem Programm zu den zehn besten Verlagen der Welt gehört. So ungerecht geht es zu in dieser Unordnung, in der wir uns alle befinden. Nun läßt sich heute glücklicherweise Geld sammeln für allerlei Projekte, übers Internet, und so kam 2014 Beyond the Dark Veil heraus.



Viktorianische Fotografien aus dem Thanatos Archiv, aus einer Zeit also, die uns mit einem bizarren Toten- und Gedächtniskult erstaunt. Vom Liebsten die Locken, die ersten verlorenen Milchzähne, solcherart Alltagsreliquien bewahren viele auch heute noch auf. Tote werden nur noch selten aufgebahrt (hierzulande sowieso nicht offen) und selten fotografiert. In verschiedene Kapitel aufgeteilt (Totenbett, Kinder und Familie, Verbrechen und Unglücke, Haustiere), reihen sich in Beyond the Dark Veil leere Gesichter oder solche wie schlafend aneinander, ernste Verwandte, erstarrte Mütter mit ihren toten Kindern, ertrunkene Matrosen, verlorene Zwillinge, Abschied um Abschied um Erinnerung. Manche Bilder wie ein Schnappschuß, andere mit einer - durch die langen Belichtungszeiten bedingten - Strenge inszeniert, die an unterkühlte Modestrecken erinnern.

Eine sorgsam aufbereitete Bildergalerie. Mit Goldschnitt und einer nachgeahmten Lederprägung, für Nachmittage, wenn eine schrägstehende Sonne den Staub im Zimmer tanzen läßt.

Beyond the Dark Veil: Post Mortem & Mourning Photography. San Francisco: The Last Gasp, 2014.

>>> Geräusch des Tages: The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble, The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble

Ex Libris | 17:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nnier - Samstag, 28. Februar 2015, 20:23
Oh, Last Gasp of San Francisco, die gibt's noch!? Als ich noch ein wilder Heftchensammler war, kam ich an denen natürlich (get it?) nicht vorbei. Diese unabhängigen Publisher rühren mich immer noch an.

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gaga - Sonntag, 1. März 2015, 01:58
Sollte ich eines Tages einmal wieder Hamburg besuchen, müssen Sie mit mir durch das Buch blättern.

(ich will es keinesfalls selbst besitzen, nur sehen.)

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kid37 - Montag, 2. März 2015, 20:51
Bei den Rutles gab es den Hit "Let's Be Natural", so schließen sich die Kreise. Die haben über die Jahre ein, ich möchte sagen, aufregendes Programm veröffentlicht. Und allesamt sehr liebevoll gestaltet.

Liebe Gaga, wenn ich dem Herrn Kulturinvestor sein Mausoleum abgeluchst und crowdfinanziert saniert habe, können wir darin schön bei einer Tasse Jasmintee blättern. Sie können aber auch vorher bereits mal zu Besuch kommen, das ist ja alles viel zu lange her.

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gaga - Montag, 2. März 2015, 21:13
ich kann auch tolle Einrichtungstipps geben!

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schneckinternational - Sonntag, 1. März 2015, 03:03
"Ertrunkene Matrosen", schauerlich tief, dies Bild. Da arbeitet sich einiges am Zeitlosen ab, vorstellungstechnisch. Neuerdings ertrinken ja sogar auch Matrosinnen.

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kid37 - Montag, 2. März 2015, 20:46
Und werden ohne Stiefel gefunden! Die See indes behält ihr Geheimnis.

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nnier - Sonntag, 1. März 2015, 12:19
(Extrem gute Musik, übrigens, das habe ich mir gleich zweimal komplett angehört.)

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kid37 - Montag, 2. März 2015, 20:45
Der konsequente Weg, wenn man aus dem Bubblegum-Alter heraus ist.

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carodame - Sonntag, 1. März 2015, 15:33
Das nenne ich einen Volltreffer! Eine gebundene Galerie des Abschiedes. Hm, das kann ich mir hinlegen für kürzer werdende Zeiten, mit den ganz langen Schatten und rettender Melancholie.
Die Musik ist sehr gut und erinnert mich an meine seltsame Idee, mit dem Fahrrad um besagten Berg zu fahren...

Wie ich sehe, ist das Buch bereits vergriffen.

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kid37 - Montag, 2. März 2015, 20:44
Sieh an, es gibt weitere Liebhaber. Gebraucht offenbar noch, aber bestimmt gibt es eine weitere Auflage, das Buch wurde gut besprochen. Wenn jetzt der sehr lange Herbst kommt, ist das ein wunderbarer Begleiter.

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frau eff - Mittwoch, 4. März 2015, 08:29
Diejenigen, die den "sehr langen Herbst" am beharrlichsten herbeigeredet haben, werden dafür zur Verantwortung gezogen, wenn das wirklich so kommen sollte. Heute wieder Nachtfrost. Ziehen Sie sich warm an. Bilderbücher helfen Ihnen dann nicht.

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ana - Sonntag, 1. März 2015, 23:29
"Weil es so schön ist, legen sie es in einen gläsernen, mit Schneewittchens Namen und Titel, beschrifteten Sarg, in dem es aussieht, als schliefe es nur."

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ana - Montag, 2. März 2015, 19:51
Wir photographieren unsere Toten nur noch selten, aber solche Photos können wichtige Erinnerungen sein. Ich habe von meiner Mutter, obwohl sie nicht zu Hause aufgebahrt wurde, bevor sie im hölzernen Sarg verschwunden ist, noch ein Polaroid gemacht.

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kid37 - Montag, 2. März 2015, 20:39
Die Kindersterblichkeit war immens hoch, der "Schneewittchen"-Moment sicher nicht selten.
Die Scheu ist da oft sehr hoch. Ich habe meine Tante noch im Sarg gesehen, aber vergessen, ein Foto zu machen. Ich bilde mir ja ein, solche Erinnerungen machen es greifbarer.

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novesia - Montag, 2. März 2015, 18:33
Also, diese Musike könnte wirklich als Soundtrack eines schwarzen Bestattermovies durchgehen (und mir gefallen die Titel).

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kid37 - Montag, 2. März 2015, 20:42
Die haben noch ein hübsches Nebenprojekt, Mount Fuji Doomjazz Corporation. Auch lebensbejahend.

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