Lesarten

Hochgelobte Bücher können, das weiß man eigentlich, trotzdem enttäuschen. Nachdem mir schon auf Seite eins der belesenheitskraftstrotzende Ton auf den intertextuellen Sender geht, auf Seite zwei dann wichtigtuerisch witzelnd auf Jakob van Hoddis' "Weltende" angespielt wird, so als wolle mir der Autor verschwörerisch den Ellbogen in die Seite stupsen, dabei noch einmal nachfragen, den Witz, den habe man aber verstanden oder, haha? und mich dazu zwingen, mit ihm Brüderschaft zu trinken - dabei kennen wir uns doch gerade erstmal zwei Seiten lang! - lege ich Arno Geigers "Kleine Schule des Karussellfahrens" nach Seite drei entnervt zur, nun ja, Seite. Dieses postmoderne Reflektionsgehampel erinnert mich, je länger ich weg von der Uni bin, immer öfter an diese Demonstrationsschauen von überwältigend alleskönnendem Technikspielzeug im Baumarkt. Es erinnert mich zudem an diese unangenehmen Menschen, die man auf Partys trifft, solche, die einem nach fünf Minuten schon ihre angenommene geistige, soziale und kulturelle Überlegenheit und dazu ihre wirtschaftliche Potenz unter die Nase reiben. Lautstark.

Mag sein, daß der Roman noch richtig gut wird, und ganz so schlimm wie diese Partybesucher sind die ersten drei Seiten wahrlich nicht, und ich glaube zudem, der Autor sieht sich sicher mehr als eine Art moderner Laurence Sterne und ist ebenso sicher im Privaten grundsympathisch. Aber mein Mentor Raymond Chandler sagte einst zurecht, wenn es auf Seite 50 noch keine Leiche gibt, taugt der Krimi nichts. Ich selbst erlaube mir den höchstpersönlichen Luxus, und das sagt jetzt mehr über mich als über das Buch, einen Roman, den ich nur zur Lust und Erbauung lese, unter Umständen gleich an der Eingangstüre abzufertigen. Und, Arno Geiger, mit kumpelhaftem Du kommt man bei mir nicht weit.

Ganz anders hingegen das Vergnügen, durch eine weitere Ausgabe des besten Magazins der Welt zu blättern. Cabinet erscheint als vierteljährliches Themenheft und vereint angenehm unaufgeregt geschriebene, dabei ungeheuer wissensreiche Beiträge zu Kultur und Alltag. Hier sieht man, wie die Augabe Nr. 37 auf den Weg gebracht wird. Ich lese gerade das Themenheft "Dust", ein ganzes Heft also über Staub, Hausstaub, Sternenstaub und sogar Dreck, Alltagsphänomene also, die gemeinhin bloß als die Wollmäuse unter dem ausgeleierten Bett der Hochkultur verhandelt werden. Zu unrecht, der Spaß daran hält viele Seiten lang.

Ex Libris | 13:21h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
lorilo - Mittwoch, 22. September 2010, 14:23
Klugscheissende, naseweisen Autoren wie unangenehm tösende Partygäste sind eine Plage - in der Tat.
Allerdings: Hochgelobt? Hm. Die Rezensenten, die ich lese und denen ich ab und an im Sinne meines Geschmackes vertraue, fanden Geigers Erstling bestenfalls "mutwillig überaus belanglos" (FAZ).

Wenn Sie also jetzt Platz auf dem Nachttisch haben und einen guten Erstling wollen: "The broom of the system" von David Foster Wallace beschert mir seit Tagen ununterbrochen zuckende Mundwinkel und augenfältchenvertiefendes Mimikspiel. Nicht nur wegen der Komik, sondern besonders aus Freude daran, dass einen hier mit voller Wucht das später "gezähmte" Talent des Autors förmlich von jeder Seite unkontrolliert anspringt.
Und ich bin heilfroh, "Infinite jest" noch aufgehoben zu haben.

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kid37 - Mittwoch, 22. September 2010, 15:14
Vielleicht sollte ich auf "gelobt" reduzieren. Aber Bücher, bei denen man sich amüsiert? Ich glaube, ich bleibe lieber bei meiner Staub-Lektüre. Auf Anregung von Miss Wurzeltod habe ich jetzt William Hazlitts "On the Pleasure of Hating" erworben. Das wird ein Spaß. Und erst lese ich noch Roberto Arlt zuende. Der ist eine hübsche Entdeckung.

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lorilo - Mittwoch, 22. September 2010, 17:49
Zwischen Amüsierliteratur und "(...) mistaken as I have been in my public and private hopes, calculating others from myself, and calculating wrong, always disappointed where I placed most reliance; the dupe of friendship, and the fool of love; have I not reason to hate and to despise myself? Indeed I do; and chiefly for not having hated and despised the world enough." (p. 119)
muss es doch noch was geben, selbst für einen Herbstblogger.
Im Übrigen - Wallace ist in seinem Humor so garstig, dass man seine helle Freude haben kann. Arlt mit seinem bitter"bösen Spielzeug"-Roman hübsch zu finden, passt ja wieder zu Ihnen.

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kid37 - Mittwoch, 22. September 2010, 18:10
"Arlt widmete sich in seinen letzten Lebensjahren der Erfindung des synthetischen Damenstrumpfes." [Q]

Das könnte nun wirklich ich sein. Geringelt natürlich.

(Und Sie sollen doch nicht das Ende verraten!)

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nuss - Freitag, 24. September 2010, 13:56
Sie haben natürlich recht. Aber ich hatte nach dem Catcher ja auch tonfallentnervt mit Salinger abgeschlossen, und dann waren Sie höchstselbst der Grund, dass ich das geschenkte Franny and Zooey doch noch las, und tatsächlich ein bisschen das Herz verlor an die Familiengeschichten.

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kid37 - Freitag, 24. September 2010, 17:37
Das freut mich dann aber. Und sollten Sie mir jemals einen weiteren Roman von Geiger nahelegen, werde ich es einfach noch mal wagen.

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