Mittwoch, 22. September 2010


Lesarten

Hochgelobte Bücher können, das weiß man eigentlich, trotzdem enttäuschen. Nachdem mir schon auf Seite eins der belesenheitskraftstrotzende Ton auf den intertextuellen Sender geht, auf Seite zwei dann wichtigtuerisch witzelnd auf Jakob van Hoddis' "Weltende" angespielt wird, so als wolle mir der Autor verschwörerisch den Ellbogen in die Seite stupsen, dabei noch einmal nachfragen, den Witz, den habe man aber verstanden oder, haha? und mich dazu zwingen, mit ihm Brüderschaft zu trinken - dabei kennen wir uns doch gerade erstmal zwei Seiten lang! - lege ich Arno Geigers "Kleine Schule des Karussellfahrens" nach Seite drei entnervt zur, nun ja, Seite. Dieses postmoderne Reflektionsgehampel erinnert mich, je länger ich weg von der Uni bin, immer öfter an diese Demonstrationsschauen von überwältigend alleskönnendem Technikspielzeug im Baumarkt. Es erinnert mich zudem an diese unangenehmen Menschen, die man auf Partys trifft, solche, die einem nach fünf Minuten schon ihre angenommene geistige, soziale und kulturelle Überlegenheit und dazu ihre wirtschaftliche Potenz unter die Nase reiben. Lautstark.

Mag sein, daß der Roman noch richtig gut wird, und ganz so schlimm wie diese Partybesucher sind die ersten drei Seiten wahrlich nicht, und ich glaube zudem, der Autor sieht sich sicher mehr als eine Art moderner Laurence Sterne und ist ebenso sicher im Privaten grundsympathisch. Aber mein Mentor Raymond Chandler sagte einst zurecht, wenn es auf Seite 50 noch keine Leiche gibt, taugt der Krimi nichts. Ich selbst erlaube mir den höchstpersönlichen Luxus, und das sagt jetzt mehr über mich als über das Buch, einen Roman, den ich nur zur Lust und Erbauung lese, unter Umständen gleich an der Eingangstüre abzufertigen. Und, Arno Geiger, mit kumpelhaftem Du kommt man bei mir nicht weit.

Ganz anders hingegen das Vergnügen, durch eine weitere Ausgabe des besten Magazins der Welt zu blättern. Cabinet erscheint als vierteljährliches Themenheft und vereint angenehm unaufgeregt geschriebene, dabei ungeheuer wissensreiche Beiträge zu Kultur und Alltag. Hier sieht man, wie die Augabe Nr. 37 auf den Weg gebracht wird. Ich lese gerade das Themenheft "Dust", ein ganzes Heft also über Staub, Hausstaub, Sternenstaub und sogar Dreck, Alltagsphänomene also, die gemeinhin bloß als die Wollmäuse unter dem ausgeleierten Bett der Hochkultur verhandelt werden. Zu unrecht, der Spaß daran hält viele Seiten lang.