Stapfen im Schnee



Der Winter bäumt sich auf, leistet Widerstand wie ein kleines gallisches Dorf, legt, statt es auch mal gut sein zu lassen, immer wieder nach und oben einen drauf: Schnee. Schlaflos und zernervt und das ganz ohne Vollmond Sonntagsruhe gesucht. Kann man ja mal machen. Am Eingang zum Friedhof wartet eine junge sensible gotische Dame, die aufmerksam ihren Führer studiert, ansonsten aber scheu auf den schneebedeckten Grund starrt, ehe sie eintaucht, ein schwarzer Fleck im verwehten Weiß, der langsam kleiner wird. Ich harre weiter aus, zwei alte Damen kämpfen sich wacker durch den Schnee, die sonntägliche Runde zu den Ehemännern, so denkt man, verhangener Himmel, ich wälze Sätze von Thomas Bernhard im Kopf, Menschenfreundlichkeit zu üben.

Endlich geht es los, querbeet möchte man sagen, ein munteres Expeditionsteam im munteren Gespräch. Der Schnee nivelliert vieles, nicht aber Größenunterschiede und manchmal ragt von meiner Begleitung nur viel schwarzes Haar heraus. Mein Gerede verstehe ich als akustisches Leitsignal, während man kreist: um das Tote und das Lebendige, hop oder top, Pop oder Rock. Eiskalter Sauerstoff dringt ins Lungensystem, eine hochprozentig beeinflußte Frau steht plötzlich da, fragt nach dem Weg zu "ihrem Grab", hält dann ein Auto an und fährt davon, eine dieser Erscheinungen und Begebenheiten, mit denen, so sage ich, schlechte Horrorfilme beginnen. Per Anhalter auf dem Friedhof fahren, will man da zusteigen, jemanden mitnehmen?

Dort drüben, sag ich und stehe bis zur Hüfte im Schnee, hatte ich mal ein improvisiertes Picknick, das ist aber auch schon wieder her. Die eigene Landkarte, kleine rote Nadeln stecken. Immer neue Geflechte breiten sich aus, wie irregeleitete Kaninchenspuren im Schnee, dreibeinige Hoppler, sich überschneidende Wege, Verbindungen, Verkettungen, und am Ende steht man da, wie die Menschen in "Der Eissturm". Spiegelglatte Wege. Man muß so vorsichtig gehen.

Homestory | 11:31h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
dings - Montag, 8. März 2010, 13:03
Man kann ja so viel sagen.
Wer in letzter Zeit (in diesem Internet) Thomas Bernhard erwähnt, dem glaube ich solange nicht, bis er nicht einen kleinen Verweis wenigstens auf seine Menschlichkeit, ja fast schon Zärtlichkeit, macht. So habe ich Ihren Satz verstanden. Man kann ja so viel sagen. Bände redend ist, was zu einer Zeit ungesagt bleibt.

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kid37 - Montag, 8. März 2010, 13:25
Da haben Sie mir gleich wieder eine Denkaufgabe mitgegeben, wenn ich gleich mit Frost in die Mittagspause gehe. Harsche Täler zu durchschreiten.

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doloris - Montag, 8. März 2010, 14:00
"Menschenfreundlichkeit zu üben"

Ich vermute, dass das nicht die richtige Herangehensweise ist, aber das auszuführen würde einen ganzen Abend und eine schlaflose Nacht samt Rotwein überdauern.

Für Zartheit und Zärtlichkeit: Wittgensteins Neffe | Eine Freundschaft.

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dings - Dienstag, 9. März 2010, 01:43
Diese Titel fallen mir neben anderen auch ein. Bernhards Höhepunkt, und quasi der Herman van Veen der Misanthropie war für mich aber "Auslöschung".

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kid37 - Dienstag, 9. März 2010, 11:27
Ich bin grad bei Frost, darunter liegt Beton auf dem Nachttisch. Ist mir sozusagen das Pendant zu meiner derzeitigen Sonic-Youth-Retrospektive.

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doloris - Dienstag, 9. März 2010, 12:16
Rein chronologisch würden sich Wittgensteins Neffe und die Auslöschung ja geschmeidig anfügen nach den beiden Nachttischbewohnern, allerdings kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Nicht am Stück; dazwischen muss auch mal was fluffiges sein, sonst verlieren wir Sie viellicht noch an ein Exil, ein inneres oder äußeres.

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kid37 - Mittwoch, 10. März 2010, 11:47
Ja, mal sehen. Ist ja kein Wettbewerb.

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doloris - Mittwoch, 10. März 2010, 16:47
Nein, natürlich nicht.
[Scheint mir ja auch schon loszugehen, bei Ihnen, mit der Bernhardtschen Grantelei.]

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kid37 - Mittwoch, 10. März 2010, 18:11
Method Reading! Verstehen durch Einfühlung, das nächste große Ding.

[Neopathetisch, missmutig, somnambul]

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doloris - Mittwoch, 10. März 2010, 20:15
Jetzt musste ich in der Tat lachen bei der Vorstellung, dass Sie ja auch R. Pilcher auf derm Nachttisch haben könnten oder sonst irgendwas Ekliges, Sein und Zeit zum Beispiel und dann pilchern oder heideggern müssten, statt zu granteln. Made my hour.

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kid37 - Sonntag, 14. März 2010, 00:15
Nachtrag
Herr Dings, hier, September 2006. Schöner geht es bei Bernhard doch kaum.

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