Als der Dichter irrte
Viele kennen das. Man öffnet ein Buch und entdeckt den inneren Lektor in sich. Was erlauben Dichter! Die Sätze schlecht gestellt, die Zeilen plump gefüllt, die Wörter falsch plaziert! Schnell ist der Stift gezückt, ein Grollen unterdrückt, seufzend sitzt man wie ein Korrektor über den Arbeiten seiner Untersekunda, Hände über den Kopf zusammenschlagend, aber: Man hilft ja gern, so ist es nicht! Irgendwann ist die Arbeit getan, ein paar mutmachende Zeilen oder auch vernichtende dazugeschrieben, das Buch, nun verbessert und von Fehlern getilgt, zurück in den Verkehr gebracht. Wikilesia, demokratische Literatur, hochmodern, Partizipationsästhetik, hermeneutisches Zirkelschreiben, bis alles genehm und genehmigt und von höchstem Anspruch.
(Bibliotheksfund. Ein Leser hat Baudelaires Les Fleur du mal redigiert und zurückgestellt.)
via Bebellestrange und +
Ganz großer Spaß!
Eine meiner früheren Vermieterinnen machte sowas bevorzugt auch gerne mit Tageszeitungen und Magazinen, die ich immer vor meiner Wohnungstür fand, wenn sie ausgelesen und ausreichend kommentiert waren. Sie ahnen nicht annähernd wieviel Spaß ich damit hatte. Man hätte am liebsten alles aufgehoben...aber dann hätte meine Wohnung sicher der von Hermes Phettberg geglichen.
Dorothea Ottermann hat daraus mal eine schöne
Installation gemacht. Die hatte ordnerweise gefundene Zettel und Schriebe gesammelt, das geht in etwa in diese Richtung. Aber diese Editionswut... gibt es da wohl einen psychopathologischen Fachbegriff für? ICD-10?
In dem Fall wahrscheinlich F62.0
(Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung), weil die Person war im aktiven Berufsalltag Lehrerin und ist krankheitsbedingt in den vorzeitigen Ruhestand ausgeschieden.
Ich habe mir das Bild auf der Originalseite nochmal angeschaut, da mich die unbeschnittenen Seiten irritierten und mir die Eintragungen zu umfangreich erschienen für einen normalen Leser. Es handelt sich dabei ganz offensichtlich um einen Andruck, heißt es doch unter der Abbildung: «... un exemplaire d’épreuves des Fleurs du mal ...», auch stammt der Fund aus der eigenen Bibliothek (dans ma). Also eher keine frühverentete Lehrerin, sondern vermutlich ein schlichter Lektor.
Ah, das habe ich allgemeiner verstanden, wie in "mein Bäcker" oder "in meiner Videothek haben sie den Film nicht". So recht an einen Lektor glaube ich dennoch nicht, außerdem wäre eine solche Wahrheit doch längst nicht so amüsant. (Im Ausland wurden Bücher doch früher häufig unbeschnitten in den Umlauf gebracht, daher "Papiermesser"?!? Ich habe jedenfalls solche ältere US-amerikanische Ausgaben in "meiner" Bibliothek.)
Das war wahrscheinlich wieder der
Pastior, der verrückte Hund.
immerhin zurueckgestellt und der nachwelt ueberlassen. dafuer sollte man ihn / sie schon einmal loben. grossartig sind auch randzeilige anfeuerungs- oder schmaehrufe aus dem geist der fankurve. ich erinnere mich noch gut an ein der bibliohtek entliehenes schwergewicht aus der franzoesischen poststrukturalistischen schule, wo ein kritischer leser auf einer seite "nein!", "gut" und "unsinn" vermerkte. es gibt sie ja, die sendungsbewussten, die meinen, anderen derartige texte auf ewig verbindlich erklaeren zu muessen.
Die Tage las ich in der FAZ über
Oulipo. Zuvor war mir der Begriff gar kein Begriff - darf man auch nicht überall laut sagen.
Und ja, dieses Sendungsbewußtsein. Man stellt sich immer latent empörte Menschen vor wie sie ächzend und seufzend dicke Ausrufezeichen an die Seiten malen (mit dem Donnerhall eines Richterstempels) oder mit spitzem Bleistift gleich das Blatt durchstoßen in symbolischer Tötungsabsicht. Da! Nimm das, Sauhund! So ein Quatsch! Heutzutage gibt es dafür ja Blogs, das schont die Bibliotheksetats.
Die Verbindung zu Oulipo will sich mir hierbei nicht so recht erschließen.
ich vermute einmal oskar pastior.
Ja genau. Ich murmelte da sozusagen erstaunt vor mich hin, Synchronizitäten usw. Wie das die Dinge so an sich haben - plötzlich sind sie überall!
Ja, das mag sein. Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich Pastior nicht unbedingt mit Oulipo-Autoren in Verbindung bringe. Allenfalls bei Perec und La Disparition käme in mir eine Ahnung auf. Aber vermutlich kenne ich dann doch Pastiors Arbeit zu wenig, und meine Frage ist deshalb wohl unberechtigt. Also Kommando zurück.
Hatte auch nichts mit dem Thema an sich zu tun, ich stuzte nur über das plötzlich gehäufte Auftreten dieses Begriffs. Ich muß mich augenscheinlich mal wieder ein wenig mit ernsthaften Dingen beschäftigen, nicht immer nur Youtube gucken.
Demnächst dann: Perspektive bei Picasso korrigieren.
Dalís Bildtitel auf Logik prüfen.
Denke mir gerade, der fiktive
Auktionskatalog einer gescheiterten Beziehung wäre ja eventuell auch was für Sie...
Gescheiterte Beziehung? Und da denken Sie an mich? Ach, das war ja neulich im Zeit- oder SZ-Magazin. Das ist bloß fiktiv? Ach schade. Oder auch nicht. Nach den paar Seiten, die ich gesehen habe, war ich ein wenig unschlüssig, wie ich das finde. Die Idee ist aber nicht schlecht, vielleicht störte mich irgendetwas anderes.
Irgendwie muss ich ja von mir ablenken. Bei Fiktionen stört ja leider immer irgendetwas, aber Inspiration für Tagträume ist ja auch schon was wert.
Letztens im ICE saß mir ein älterer Herr gegenüber, der seinen Deutschland-Reiseführer hochkonzentriert las und ca. 90% des Textes mit Lineal und Bleistift sorgfältig unterstrich.
Ah, beklemmende Erinnerungen an einige Mitschüler, Zungenspitze im Mundwinkel, Stirn hochkonzentriert in Falten gelegt und dann mit triumphierendem Lächeln den Stift am Lineal langgezogen. Und als dann Textmarker aufkamen!
Das gibt's (oder gab es) auch mit Goethes Anfangsmonolog des FAUST und Teilen des fünften Aktes gleichen Stückes. Und zwar von Arnold Hau (das sind: Gernhardt-Berstein-Waechter). Im Buch "Die Wahrheit über Arnold Hau" ebenso wunderhübsch abgedruckt wie hier oben der Baudelaire.
Das ist doch mal wieder Anlaß, nach den berühmten Arnold-Hau-Filmen Ausschau zu halten, die ich leider nicht kenne. Ich bin ja nicht sooo ein Freund der Frankfurter ("Hier wird nicht gelacht!"), kann aber, wenn grad kein Eis liegt, über meinen Schatten springen.
Jetzt erst kapiert: Das ist ja auch ein Remix!