Auch wenn ich aus der Gegend von nirgendwo stamme, bin ich als Kind sozusagen in Schleswig- Holstein aufgewachsen. Meine Großmutter väterlicherseits bewohnte dort eine alte Bauernkate, in der sie nach dem Krieg sechs oder sieben Kinder großzog. (Da meine Mutter ebenfalls sechs oder sieben Geschwister hat, geht mir da schon mal der Überblick verloren. Wie das in solch großen Familien üblich ist, besteht auch nicht mehr zu allen Teilen Kontakt.) Als kleines Kind war ich die ganzen Sommer über da, später dann zumindestens die sechs Wochen in den großen Ferien.
Die Sommer früher™ waren bekanntlich heiß und endlos. Ich war die ganze Zeit draußen, hing wahlweise im Kirsch- oder Apfelbaum oder auf dem Plumpsklo in dem kleinen Schuppen vor dem Haus, wenn die Früchte noch nicht reif genug gewesen waren. Das Haus war ein langgezogener Flachbau, in dem links und rechts jeweils Familien wohnten. In der Mitte befand sich ein ehemaliger Kuhstall, damals dann Lagerort allerlei geheimnisvoller Schätze und Piratenkisten. Das Leben war einfach und für uns Kinder nicht hart. Das war die Gegend, wo man kilometerweit barfuß durch den Schnee zur Schule ging. Aber, he, es war Sommer, und ich hatte große Ferien. Vier Steckdosen gab es in dem Haus, in jedem Zimmer eine. Wollte man zusätzliche Geräte anschließen, wurde eine mürbegewordenes, baumwollumsponnenes Kabel durch den Raum gespannt. Eines nachts holte ich mir an der wackligen Steckverbindung den ersten Stromschlag meines Lebens.
Der Tag begann damit, daß man Wasser von der Pumpe auf dem Hof holen mußte. Zwei Eimer voll wurden geholt. Einen für Trinkwasser, den anderen für Waschwasser. Großes Abenteuer. Dann ging es raus in die ewige Sonne (geregnet hat es selbstverständlich nie oder nur nachts). Ich spielte auf dem Kopfsteinpflaster rings ums Haus (auf denen konnte man sich prima aufgeschlagene Knie holen, wenn man zu schnell um die Hausecken peste) oder sah den Schwalben zu, die unter der Dachrinne im meterabstand ihre Nester bauten. Oder ich traf mich mit den anderen Kindern aus der Umgebung. Dann rasten wir durch die Getreidefelder oder besuchten die Kälber in den Ställen. Häufig waren auch zwei meiner Cousinen dabei, von denen die eine immer wollte, daß ich mich auszog. Ich spielte aber lieber mit den Katzen vom Nachbarhof.
Als ich älter wurde, war die ländliche Einöde Schleswig-Holsteins nicht mehr wirklich interessant, und ich verlebte meine Ferien anderweitig. Dreißig Jahre bin ich nicht mehr dort gewesen.
Bis neulich. Von Hamburg aus ist es mit dem Auto nicht so furchtbar weit, und vor ein paar Tagen habe ich es denn endlich einmal geschafft, die Orte meiner Kindheit aufzusuchen. Dunkel erinnerte ich mich an den Namen des kleinen Dorfes irgendwo bei Neumünster. Von der Bundesstraße links ab, hatte ich ein diffuses Bild vor Augen. Und tatsächlich ging es von der Bundesstraße links ab. Und tatsächlich kamen da die Bauernhöfe, und dann gabelte sich der Weg, und statt der von mir erwarteten endlosen Reihen nutzloser Einfamilienhäuser, waren da immer noch die Felder, in denen sich meine Cousine verdächtig oft die Schlüpfer geraderücken mußte, während ich nach meinem Kätzchen suchte. Und dann war da immer noch der große Baum (nun ja, es waren sogar zwei. Keine Ahnung, woher der andere auf einmal kam), an dem sich der Weg erneut gabelte. Und wieder ging es links, und ich dachte, na, nun werden hier aber nutzlose Einfamilienhäuser stehen. Aber dann kam der Bauernhof, wo meine Großmutter und ich abends immer die Milch holten, und die Scheune, wo ich einmal fast im Stroh erstickt wäre. Und dann stand da die alte Kate.
Und was soll ich sagen? Die alte Kate ist sozusagen eine neue Kate. Hübsch hergerichtet, der Dachboden ausgebaut, die Tür in den Kuhstall versetzt. Alles noch da, bis auf die Pumpe. Aber selbst die Schuppen mit den Plumpsklos stehen noch, nunmehr als reine Lagerräume für Gartengeräte genutzt.
Das war natürlich Anlaß für tolle Erinnerungsrückstürze. Wie kurz doch der Weg vom Haus meiner Großmutter bis zu dem großen Baum, der eigentlich zwei ist, geworden ist! Da entlang kam einmal die Woche der fahrende Supermarkt, ein umgebauter Laster, mit vielen Regalen, auf denen Lebensmittel aller Art angeboten wurden. Meine Großmutter kaufte mir immer Lakritzschnecken. Die Packung hielt aber nie bis zur nächsten Woche. Einen Briefkasten gab es dort auch, aber kein Postamt. Man warf den Brief einfach hinein und zwanzig Pfennig für die Marke hinterher. Auf der Post wurde das dann alles abgerechnet. Soll noch mal einer sagen, die Deutschen könnten nicht lässig sein.
Die neuen Bewohner waren nicht daheim. Aber mit den direkten Nachbarn und mit den Leuten von gegenüber habe ich mich unterhalten. Zugezogene, die sich aber noch dunkel an den Namen meiner Familie erinnern konnten. Die Nachbarn ließen mich sogar hinters Haus in den alten Garten gucken. Da stand noch der Kirschbaum. Meine Großmutter hatte dort ein Bündel alter Blechdosen gehängt, an denen eine lange Schnur befestigt war, die bis zum Haus reichte. Kein Dosentelefon, um mich zum Essen zu rufen, sondern ein Schreckapparat, um die Vögel zu verscheuchen. Ab und an ging man im Haus ans Fenster, wo das Ende der Schnur verknotet war, zog ein wenig und ließ die Dosen klappern. Dann rauschten ungezählte beleidigte Kirschendiebe mit wildem Gezeter davon.
Ein schönes Gefühl. Es ist alles noch da. Nicht zu einem Haufen alter Steine zermahlen, sondern schöner denn je. Erinnerungen, mal nicht zertrümmert. Meine Cousine bekam früh ein Kind. Ich weiß aber nicht, was sie heute so macht.
Ich glaube, so ein Bild mit komischen Mützchen haben wir wohl alle irgendwo. Manchmal ziehe ich das heute noch über und lärme mit der Rassel. Bis die Pfleger kommen.