Immerhin schon wieder Bilder sehen



Vor längerer Zeit bereits habe ich Joann Sfars Comicreihe Professor Bell vorgestellt. Der französische Strip-Auteur gilt vielen ja als die große Hoffnung des Comics, und allein seine manische Arbeitsweise (er betreut gefühlt 30 verschiedene Serien und Einzelwerke und führte zudem Regie bei der tollkühn-großartigen Biografie Gainsbourg) holt die neunte Kunst aus etwaig gefühltem Stillstand. Ich bin kein Freund von Funnys, an denen Sfar auch in vielfälitger Weise beteiligt ist, lese überhaupt wenig Comics, mal von Loustal abgesehen. Dessen grafisch-malerisches Werk bestimmte für mich die Grenzen der Kunstform in den 80er Jahren neu, die Melancholie, die klaren Linien, die Atmosphäre einer ewigwährenden Nachsaison, so auch der Titel eines seiner Büsher, die lakonischen Eisbergsätze, die die darunterliegende Tragik und von Stuab bedeckte Wucht bloß andeuten ("Der Onkel aber stellt Ansprüche.")

Sfars mittlerweile auf fünf Bände angewachsene Reihe Professor Bell hat seinen Titelhelden nach dem Lehrer von Arthur Conan Doyle (der im fünften Band einen Kurzauftritt hat) gezeichnet, dem jener schottische Pathologe und Forensiker wiederum Vorbild für seine berühmteste Romanfigur Sherlock Holmes war [*]. Der Comic-Bell ist ein von Obsessionen und Albträumen geplagter Einzelgänger, dessen Frauengeschichten tragisch enden, der mit Geistwesen und geistigen Substanzen verkehrt, eigenwillige moralische Vorstellungen hegt, sich allerlei devianten Neigungen und Nachstellungen erwehren muß und quasi als Ablenkung von allem persönlichem Kummer und Gram Monster und Verbrecher jagt.

Gleich der zweite Band fällt innerhalb der Reihe extrem ab, ich führe Arbeitsüberlastung des Schöpfers entschuldigend ins Feld. Seither betätigt sich Sfar nur noch als Szenarist und überläßt die zeichnerische Arbeit Hervé Tanquerelle, der den berühmt-berüchtigten Krikel-Krakel-Stil Sfars in geduldigere Linien überführte und die einzelnen Charaktere schärfer herausgearbeitet hat. Jedenfalls war Band 3 gleich wieder sehr versöhnlich, der extrem surrealistisch verträumte (Unterwasserstädte, schräge Sexpraktiken, bunte Tentakelmonster, die nicht mal meine Albträume kennen, und ein skrupelloser, brutaler Gegenspieler) vierte Band, Die Gesellschaft der toten Königinnen, ist für mich ein Höhepunkt der Reihe. Der rührige Berliner Avant-Verlag ließ sich für die deutsche Ausgabe besonders viel Zeit, legte nun aber den fünften (gerüchteweise auch letzten?!?) Band relativ zügig nach.

Der trumpft mit einer Radtour auf (leider durch Irland, einem Land, zu dem ich überhaupt keinen Zugang finde), einem extrem angeschlagenen, substanz- und vergangenheitsgeschädigten Titelhelden und allerlei frivolem Elfen-Schäferidyllen-Spiel auf. Shakespeare- und Lewis-Caroll-Zitate wabern durch den Subtext, der eigentlich Grundton der Geschichte, und das ist die gute Nachricht, ist aber extrem düster. Bell, heutzutage würde man ihn als Burnout-Opfer bezeichnen müssen, kann nur mit Mühe gerettet werden - und das zu einem hohen Preis. Leider schlägt sich die französische Unart des albernen Witzes in diesem Band extrem nieder, etwa in einem kleinen Potpourri an pubertären Anal-Witzen, die rasch ermüden. Da hätte man sich mehr psychologische Tiefe in der Ausgestaltung von Bells Niedergang gewünscht. Der brillante Geist ist geistig völlig im Arsch, um im Thema zu bleiben, paranoid und möglicherweise vom jahrelangen wissenschaftlichen Drogenabususexperiment körperlich und psychisch zerrüttet. Dieses Leben in verdunkelten Arbeitszimmern, Radtouren im Regen, dann dieses Geheule um Frauen aus seiner Vergangenheit - irgendwie erinnert der mich an jemanden, ich komme nur gerade nicht drauf.

Wer sich in die tolle Serie einkaufen möchte, sollte beim Verlag bestellen. Kostet nicht mehr, wird portofrei geliefert und unterstützt ein editorisch wirklich lobenswert agierendes Kleinstunternehmen und Kulturinstitution.

Zum anderen gelangte in meinen Besitz diese hübsche Ausgabe einiger der bekanntesten Stories von Edgar Allan Poe (zumeist in der Schmidt/Wollschläger-Übersetzung). Die kann nun jeder auswendig, aber die Ausgabe Unheimliche Geschichten von Jacoby & Stuart glänzt mit den extrem aufwendigen pop-surrealistischen, morbiden Illustrationen von Benjamin Lacombe. Man stelle sich Burtons Sleepy Hollow vor und findet eine ähnliche Atmosphäre in den Bildern und Geschichten wieder. Hier gibt es einen kleinen Trailer zum Buch. Ein schönes Gefühl, wenn man das alles sehen kann.

Ex Libris | 02:23h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
fishy_ - Freitag, 20. Januar 2012, 12:23
Oh wie überaus zauberhaft! Magisch. Gibt es das Buch im Trailer nur auf französisch? Und wo kann man die Tablet-Variante erhalten?

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kid37 - Montag, 23. Januar 2012, 00:23
Also diese Ausgaben sind so liebevoll gemacht, die muß man richtig in der Hand halten können.

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au lait - Montag, 23. Januar 2012, 22:34
Wie schön positive Überraschungen sind - nichtsahnend umherzusurfen und dann derart Schönes zu entdecken. Jetzt bin ich neugierig. Mindestens. Danke!

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novesia - Freitag, 20. Januar 2012, 15:08
Metamorphose Collection, ich liebe sie!!
Und der Prof. Bell klingt ganz nach meinem Geschmack, danke für den Tipp.
Sehr erfreulich, dass Sie wieder richtig gucken können, das sage ich keineswegs aus purem Eigennutz :)

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kid37 - Montag, 23. Januar 2012, 00:29
Der ist auch nach meinem Geschack, allerdings lebt er recht gefährlich. Ich kann ja derzeit nur Schongang.

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novesia - Montag, 23. Januar 2012, 15:07
Das kommt schon wieder. Man geht da hin, wo man hin guckt ;)

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ladys smock - Freitag, 20. Januar 2012, 18:37
Scharfsinnig.
So sind Sie mir am liebsten :-)

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kid37 - Montag, 23. Januar 2012, 00:30
Mit einem zugekniffenen Auge geht das schon ganz gut.

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gaga - Freitag, 20. Januar 2012, 19:08
Der letzte Satz in dem Aufsatz ist der beste!
Eins mit Stern!

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kid37 - Montag, 23. Januar 2012, 00:31
Sehen können ist schon ein Vorteil. Die Beichte nimmt man ja eh im Sitzen ab.

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carodame - Montag, 23. Januar 2012, 11:27
Ach, vielen Dank für die Tipps. Die Illustrationen sind ja eine Weide. Fürs Auge.
Für beide.
Benjamin Lacombe ein Favorit.
Weiden Sie sich weiterhin satt. Und seien Sie der Schatzgräber für uns Unwissende.

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kid37 - Sonntag, 29. Januar 2012, 02:30
Ich mühe mich mit Grubenlampe. Derzeit leider sehr langsam.

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jean stubenzweig - Donnerstag, 26. Januar 2012, 19:23
Außerordentliches
zur Genesung: Konstante: er ist äußerst kidkompatibel.

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kid37 - Sonntag, 29. Januar 2012, 02:29
Super. Kidkompatibel. Ich glaube, dann hat man es geschafft, hat man nicht? Wenn Wörter nach einem gebildet werden. Fehlt noch: Einen Siebenunddreißiger machen.

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kristof - Montag, 30. Januar 2012, 10:15
"Trotz Schwächeln omnipotent", das muss es sein ...

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