Vom Mittag bis zum Morgen



Vom Blättern in Magazinen. Indie. Missy. Das illustrierte Wandern durch andere Leute Jugendwelt. Die Prüfung auf Welthaltigkeit. The melancholy hour of Mittagspause. Ein Hauch von etwas. Am Nebentisch eine junge Schauspielerin. Jenny oder Jana oder Juno. This year's Erscheinung. Oder war es etwa schon letztes Jahr. Die Zeit, die liebe Zeit. Im Fenster ein Windspiel. Eine nimmermüde Ente, die stur ihre Flügel dreht, immerzu, gefangen in einem Wahn, vor Augen ein Ziel, das sie vor lauter Mühen längst vergessen hat. Keinen Zentimeter kommt sie voran.

Heute morgen dann ein ähnliches Gefühl. Das Thema hieß "Blutabnahme", nüchtern bitte und früh, es ist eben ein Verteilungskampf da draußen und kein Kuschelspaß. Meine Flamme Ärztin eilte kurz grüßend vorbei, husch wie der Wind, so sind die jungen Damen, ich aber hatte heute nicht die Emo-Punk-MTA mit dem rasant geschnittenen Schwarzhaarpony und den blauesten Augen der Welt, sondern ihre skandinavisch-blonde Zwillingsschwester. Die hat einen Blick, den müßte man auch einmal malen. Vielleicht mit Blut, ich und mein Arm wären dann so frei.

Nach dem flotten Nadelspiel dann wieder auf der Straße, Zeit für den ersten Kaffee. Nach dem tollen Erlebnis vom letzten Mal, gönne ich mir noch einmal die Mitnehm-Variante. Der junge Mann hinter dem Glastresen trägt eine Nikolausmütze, so weit ist es auch schon wieder. Mein Kaffee kommt, dampfend, heiß, wie wunderbar, selbst der junge Mann ist entzückt. "Soll ich den Deckel draufmachen?", fragt er fast andächtig. Mein Mantra, seit einigen Tagen, denke ich. Was für ein Zeichen. "Ja bitte, machen Sie den Deckel drauf", antworte ich, verstaue meine Geldbörse und schaue gebannnt, wie der junge Mann mit der Nikolausmütze hinter dem Glastresen den Deckel aus Plastik nimmt und meinen Kaffee verschließt. Das scheint mir gar nicht so schwer, denke ich, danke dem jungen Mann mit der Nikolausmütze, nehme den Becher vom Glastresen und befinde so im Stillen für mich, so leicht kann das also sein. Einfach mal den Deckel drauf machen.

In der U-Bahn bin ich fast beschwingt, es mag am Blutverlust liegen, an der leise kichernden Hysterie, die seit Tagen in meinen Adern schwingt, vielleicht auch am Hunger oder dem frischbedeckelten Kaffee. Der Becher gibt mir ein gutes Gefühl, ich fühle mich jung, modern, zugehörig. Den jungen Mädchen, die mich müde unter ihrer Strickmützen hervor anschauen, zeige ich meine Trophäe, mein Signum des Urbanen: Schaut her, rufe ich (aber still), ich bin bereit für die Welt. Ich habe verdammt noch mal einen riesigen Kaffee. Aber ich habe den Deckel drauf.

Homestory | 11:08h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
cabman - Donnerstag, 27. November 2008, 12:21
Sagte ich Ihnen ja: Einen Deckel drauf, das bringt Sicherheit gegen Flecken auf dem Hemd und die auf der Seele. Ich weiß nun, dass Ihre -genauso wie meine- schon reichlich befleckt ist, gerade deswegen sollten wir zukünftig darauf achten, sie sauber zu halten.
Wer will schon schmuddelig abtreten? Das sollten wir dem Wetter überlassen.
Und vielen Dank nochmal für die Erleuchtung. Nächstens komme ich dann mit der Bahn und Sie nicht mehr mit 3 Bier davon! ;-)

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kid37 - Donnerstag, 27. November 2008, 12:39
Drei ist gut, sonst werde ich unsolide. Ich habe heute morgen festgestellt, durch dieses kleine Loch im Deckel schwappt nur wenig und auch nur, wenn die U-Bahn heftig rüttelt. Ein bißchen kleckert ja immer, aber das ist dann nicht mehr so schlimm. Und, man möchte es fast ins Notizbuch schreiben: Er wird nicht so heiß getrunken wie er sich anfühlt.

(Mein Gott, ich hab es! Mein Gott, ich hab es! Es grünt so grün wie Spaniens Blüten...)

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jean stubenzweig - Donnerstag, 27. November 2008, 13:11
So schön hin- und herhüpfen zwischen den Eindrücken, so scheinbar planlos, sie aber dennoch punktgenau beschreiben und hier ein Assotiatiönchen sowie dort was zwischen die Zeilen, um dann den Deckel draufzusetzen – das lese ich nur bei Ihnen. Sie sind eine Wonne.

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kid37 - Donnerstag, 27. November 2008, 15:36
Oh, Danke. Das freut mich.

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peddi - Donnerstag, 27. November 2008, 17:46
Da muss ich den feinen Worten von Herrn Stubenzweig zustimmen, ihr Cafe´ ist eine Wonne, überall auf der Welt verfügbar, rund um die Uhr geöffnet,
und wir haben zu danken...

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kid37 - Donnerstag, 27. November 2008, 18:25
Ich habe Stammleserinnen in Asien, das finde ich faszinierend. Für die halte ich auch nachts auf.

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nuss - Donnerstag, 27. November 2008, 21:48
Herr Kid, Sie Wonneproppen!

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fabe - Donnerstag, 27. November 2008, 17:20
wenn sie mal über die stränge schlagen wollen mit diesem zugehörigkeitsding, tragen sie kaffee mit deckel vor sich her + telefonieren sie über ein headset.

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kid37 - Donnerstag, 27. November 2008, 18:22
Man weiß dann nie, hat da jemand sein Lithium nicht genommen oder ist es der Vorsprung der Technik. Ich neige allerdings zu Selbstgesprächen und fürchte, sollte ich einmal ein Tourette-Syndrom entwicklen, daß das kein Spaß wird. (Ich habe öfter mal schlimme Wörter im unwirschen Modus parat. Muß ich mir abgewöhnen, das gibt sonst ein Unglück.) Ein Headset (muß ja nicht an sein) gäbe mir eine Entschuldigung. ("Nein, nein, ich rede mit meiner Frau.")

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giardino - Donnerstag, 27. November 2008, 17:29
Schnabelbecher als Kleinkind, geschlossener Becher mit Strohhalm als Kind und Jugendlicher, Kaffeebecher mit Deckel als Erwachsener, Schnabelbecher als alter Mensch. Dachte ich mir letztens, als ich urban und hip mit Kaffee in der Hand durchs Zentrum spazierte.

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kid37 - Donnerstag, 27. November 2008, 18:19
Es gibt da ja so feine soziologische Beobachtungen über die Infantilisierung (ich sag jetzt einfach mal) unserer Generation. Turnschuhe, Klettverschluß, Nuckelbecher, mobiltelefonische Mitteilungsdiarrhoe, weil man keine zehn Minuten mehr das kommunikative Wasser halten kann. - Meine Konzentrationsfähigkeit geht derzeit über Heimwerker-Dokus auch kaum noch hinaus.

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vert - Freitag, 28. November 2008, 04:03
infantilisierung? papperlapapp!
wer sich einmal seinen becher auf ärmel und hose gekippt hat, dem vergehen die soziologischen feinheiten.
die wird man dann mal deckeln müssen.

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kid37 - Freitag, 28. November 2008, 11:27
Ach was. Erwachsene halten Versprechen ein und Kaffee gerade. So sieht es doch aus.

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kid37 - Donnerstag, 27. November 2008, 18:28
Gerade festgestellt, die MTA mit den blauen Augen und dem scharfen schwarzen Pony sieht aus wie Cate Blanchett in Indiana Jones™℗®©. Klingt irgendwie toll - Cate Blanchett saugt meinen Arm bis aufs Blut. Womit das Leben einen alles überrascht.

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schneck08 - Freitag, 28. November 2008, 13:35
da fällt mir spontan meine fleischfachverkäuferin um die ecke zu ein...

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kid37 - Freitag, 28. November 2008, 23:48
Auch eine hübsche Blogidee: Menschen in meiner Umgebung, die aussehen wie Menschen, die wir sonst nur aus Film, Funk und Fernsehen kennen. (In der Regel.)

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fluechtig - Donnerstag, 27. November 2008, 18:36
Aber ich habe den Deckel drauf.

Ja. Das macht Sinn. Das macht, verdammt nochmal, Sinn. Ich habe, bin, kann, will alles mögliche, aber: ich habe den Deckel drauf.

Nehm ich mit. Mit Deckel!

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kid37 - Donnerstag, 27. November 2008, 20:49
Bei heißen Flüssigkeiten oder solchen mit Gärung - Obacht! Ab und an trotzdem mal Dampf ablassen, sonst geschieht ein Unglück. Dafür ist ja das kleine Trinkloch. (In manchen Gefäßen, lernte ich neulich, ist Essiggurkenwasser.)

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Lu - Donnerstag, 27. November 2008, 20:56
es gibt tage, da möchte ich mit dir flugzeug spielen.^

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nuss - Donnerstag, 27. November 2008, 21:49
Senfkörner! Vergessen Sie die Senfkörner nicht.

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kid37 - Freitag, 28. November 2008, 01:07
Ich trinke die Neige natürlich leer. Andere mögen vorschnell auf süße Brause umsteigen, ich nehm auch die Pfefferkörner Senfkörner. Danach: wie neugeboren!

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kid37 - Samstag, 29. November 2008, 17:45
Lu, ach ja, bitte.

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c17h19no3 - Donnerstag, 27. November 2008, 21:17
feiner text zum schmunzeln.

das mit dem soll-ich-den-deckel-draufmachen ist mir neulich auch passiert. die hyperaktiv wirkenden assistentin der filialleitung bei b*-coffee fragte mich das, nicht ohne hysterisch girrend darauf zu verweisen, dass ja nun bald weihnachten sei. ich wollte schon den filialleiter rufen, da die meisten kunden diese information ja nicht so gerne im kaffee haben, weil sie oft zusätzlich den magen übersäuert. aber dann war ich so milde und dachte bei mir, angst um den arbeitsplatz und das daraus resultierende adrenlin, welches uns zu 12-stunden-tagen motiviert, kennen wir ja alle.

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kid37 - Freitag, 28. November 2008, 11:28
Ich fand das sehr höflich, schließlich galt die Frage noch zu klären, ob ich Milch oder Zucker oder sonstige Dinge noch hineinhaben wollte. Der gute Mann mit der Nikolausmütze strahlte überhaupt eine heitere Gelassenheit aus, von der ich mir gleich eine Scheibe mitnahm, soweit mein blutentleerter Arm sie halten konnte.

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novemberregen - Freitag, 28. November 2008, 17:03
Ich hatte neulich gleich zwei Deckel auf einem Kaffee. Man mag es im ersten Moment nicht glauben, aber das wurde dann schon wieder zu einem Problem. Es zählt eben doch immer das richtige Maß.

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kid37 - Freitag, 28. November 2008, 23:50
Zwischen zwei Deckeln bildet sich leicht Schmodder. Und was bildet sich in Schmodder? Genau. Bakterien! Für die seelische Hygiene ist es also ratsam, ab und an den Deckel zu lüften. Das richtige Maß, genau. Sie haben Ahnung vom Geschehen.

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fishy_ - Samstag, 29. November 2008, 14:11
Achwas - Dreck reinigt den Magen!

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anousch o. - Freitag, 28. November 2008, 23:48
Eines meiner Lieblingsthemen: Blutabnahme. Beim Anblick meiner Venen geraten Ärzte und Schwestern regelmäßig in Verzückung. Denn selbst ohne Faust liegen sie prall gefüllt und blau leuchtend in den Armbeugen, so dass es eine wahre Lust ist, die Kanüle hineinzujagen.
Ich liebe es zu sehen, wie das Blut nun in den Zylinder schwillt. Einer der schönsten (quasi)-körperlichen Vorgänge.

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kid37 - Freitag, 28. November 2008, 23:55
Meine Venen sind auch so vom Typ Medic's and Paramedic's Delight. Aber ich schaffe es anders als früher nicht mehr hinzusehen. Da macht mein Kreislauf schlapp. Vor allem, wenn die Kanüle noch drin steckt und mit einigem Gewürge ein, zwei, drei weitere Spritzen zur Blutentnahme angeschlossen werden.

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mark793 - Samstag, 29. November 2008, 00:38
Ja,
geht bei mir auch nicht mehr so locker. Dabei habe ich früher regelmäßig Blut gespendet. Man verweichlicht halt doch mit dem Alter.

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gaga - Samstag, 29. November 2008, 00:24
Ein bildschöner Eintrag. Eins mit *!
Den müsste man eigentlich auch einmal malen!

(Der Becher gibt mir ein gutes Gefühl, ich fühle mich jung, modern, zugehörig. )
Oh, du Sternstunde der Internetprosa. Mit diesem Schlusssatz können wir das Bloggerjahr 2008 mit einem echten Höhepunkt beenden.

(Scheine ja aufrichtig begeistert zu sein - so schleimig schreibe ich doch sonst nicht!)

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kid37 - Samstag, 29. November 2008, 03:02
Hauptsache aufrichtig! Dann sind auch Rotz, Schleim und Tränen wie harte Währung!

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fishy_ - Samstag, 29. November 2008, 14:16
Outing
Fühle mich out of sync - coffee to go kann ich an einer Hand abzählen und dann nur ohne Deckel, weil ich mir sonst die Zunge verbrenne. Bin scheinbar eine der wenigen der last generation: Lieber Kaffee selbstgebrüht aus Keramiktassen im Warmen sitzend.

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kid37 - Samstag, 29. November 2008, 17:49
Hier ist Hamburg, wir können hier nicht sitzen. Wir haben Arbeit. (Also, noch.)

Bier geht jedenfalls besser, so als nächtliche Unterwegszehrung von einem Laden zum nächsten. Man muß halt alles mal ausprobieren.

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fishy_ - Samstag, 29. November 2008, 18:53
Ich kenn Fahrbier oder Gehbier, aber Bier im Becher mit Deckel? Da schreibt man doch für gewöhnlich die Zeche drauf. In diesen Breitengraden zumindest.

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kid37 - Samstag, 29. November 2008, 19:03
'tschuldigung, ich war schon wieder in Gedanken woanders. Becher + Gehen ist uns ja beiden nicht so, denke ich. Ich meinte ganz profan die Flasche, da gibt es ja jetzt auch ein Fachblog für. Auch auf Partys ein gutes Geländer, wenn man mal nicht weiß, wohin mit den Händen.

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lel - Samstag, 29. November 2008, 20:09
Herr Kid, manchmal sind sie so herzig, da möchte ich Sie in den Pappbecher packen, Deckel drauf und eingesteckt. :o)

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kid37 - Sonntag, 30. November 2008, 15:54
Das ist nur verständlich!



(Man muß aber aufpassen. Wenn einen Frauen "herzig" nennen, ist es quasi vorbei. In Wahrheit bin ich ja irgendwie auch ein wenig Tom Jones. Tiger und so.)

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sunny5 - Sonntag, 30. November 2008, 10:50
sehe ich das richtig, ihnen kann niemand mehr "in den kaffee spucken"™℗®© ? :-) (was ist: p? nur reinigung?;)

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kid37 - Sonntag, 30. November 2008, 15:56
Vielleicht in die Suppe noch, aber das bekomme ich auch noch in den Griff. Ich war ja nicht untätig dieses Jahr.

(Nur Alchemie.)

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patois - Sonntag, 30. November 2008, 17:55
In Wahrheit bin ich ja irgendwie auch ein wenig Tom Jones. Tiger und so.

T-Shirt = Sex Bomb.

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