Montag, 8. April 2024


Merz/Bow #76


Just mit dem Postboot überbracht: nachempfundene Fotografie einer Sonnenfinsternis im 19. Jahrhundert [Symbolbild]

Helle Aufregung in den USA (das ist ein großer Staatenbund in Nordamerika) über eine finstere Sache: Die Total Eclipse of the Sun lockt Sonnenhungrige in den mittleren Westen und Anrainerstaaten. "The Great American eclipse" sagt Susan Miller und wagt einen Ausblick in die Sterne. Wer es wissenschaftlicher haben möchte, kann den Verlauf der schwarzen Sonne auch auf der Seite der NASA verfolgen.

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"Ersatzzüglein": Im Aufzuchtgehege der großen Bahn

Hin und her in der kleinen Stadt. Ostern in Wuppertal, mit Muttern im Museum, kleine Speise, Familienrundfahrt, dann wieder heim vor der großen Rückreisewelle ("vor die Welle kommen"). Der Nachtzug aus der Schweiz hat Verspätung, Warten in der zugigen Halle am Hauptbahnhof. Dort spielt ein Obdachloser, genervt von seinem labernden Sitznachbarn ("Ich geh' jetzt mal ans Klavier"), Klavier. Große, vom Alkohol aufgedunsene Hände und Finger bei einstudierter, filigraner Musterarbeit. Kein rumpeliger Boogie-Woogie, sondern ziselierter Frühlingswalzer im verlorenen Hall des großen Wartesaals, I Like Chopin sozusagen als Überbrückungshilfe. Wir hatten alle mal ein Leben vor diesem Leben. Dann mit dem federnden Eurocity in die Nacht, schlummernde junge Leute, erschöpft von irgendeinem Festival, draußen Gewitter, Starkregen, zuletzt wieder verschlierte Lichter der aufgereihten Städte. Nocturne.

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Hilde & Gretl. Ein Haus voller Geschichten.

Einem Hinweis im wunderbaren Wieselblog folgend, habe ich kürzlich das ebenfalls wunderbare Buch Hilde & Gretl von Tarek Leitner und Peter Coeln erworben. Zwei Cousinen, eben diese Hilde und Gretl, bewohnen ein Haus, musealisieren es entlang ihres Weges, hinterlassen das, was eben so hinterlassen wird: flüchtige Spuren einer alten Republik, Profanes und Banales, Kitsch und Krempel zwischen Nachtschrank und Wohnzimmertisch. Archäologisch aufgearbeitet, aus dem Abfall erhoben und in klugen Texten in Beziehungen und Deutungen gebracht, ist das Buch ein Katalog einer Zeitreise in die Welt der Tanten und (Groß-)Eltern, in die Provinz und Wendehammer-Siedlungen. Ganz toll.

MerzBow | von kid37 um 19:31h | 10 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 26. März 2024


Hin und her in der großen Stadt


Mein neues kleines Motto: Über dem ZNIT

Als ich das Bahnticket buchte, war mir klar, dass es Streik (oder eine Naturkatastrophe) geben würde. Es blieb zum Glück beim Streik, so konnte ich einen dieser verflixten Alternativzüge nutzen, was - sitzt man tatsächlich im richtigen Wagen - ganz unkompliziert ist. Zuvor hatte mir noch ein jüngerer Herr geholfen, meinen Koffer in die Ablage zu wuchten. Aber, der Lohn der guten Tat war keiner, falscher Platz, weil bedenkenswerte Wagenreihung, und schon wurde ich weiter gescheucht.

Dann aber da, Schnellkurs Berlin, weitergescheucht in einen dieser Stadtteile. Wedding mit Deutschlandticket aber entspanntes Navigieren. Einfach in eine Tram, eine U-Bahn, ja sogar mit einem Bus bin ich gefahren. (Bus nur nach Anweisung.) Ringe, Zonen, Sprach- und Sachgebiete völlig egal. Kleine Pension ("looks a bit shady" - man spricht viel Englisch in Berlin) überm Orchideengarten, Blick in den Hinterhof auf Mülltonnen und Altflaschen, dafür aber ruhig. (Irgendwann fand ich auch das warme Wasser, das war aber reine & eigene Begriffsstutzigkeit. Härtet ab, und andere bezahlen für so eine unerbittlich eiskalte Wellnesstour viel Geld. Mein Haar formt sich zu Eiszapfen.)



Lust for Life: ein Berlinbild

Das Programm: Kurzes Hallo und long Welcome, Kaffeehaussitzerei unter Wiedersehensbedingungen (macht bekanntlich Freude) und Kaffeehaussitzerei unter Kennenlernbedingungen (macht bekanntlich Freunde), Absagen, Hinwendungen, dazwischen immer wieder Erschöpfungsnickerchen vorm Mini-TV-Gerät, daher auch rasch die Hälfte des Tourneeplans gestrichen. Nicht nur der Koffer war schwer, die Füße waren es auch.

Kleine Party in Charlottenburg. Von Kunst umhüllte Hausmusik, es spielen Geige, Klavier, Gitarre, es singt eine Dame aus Übersee. Um 23:00 Uhr klopft keine Polizei, man fängt ja gerade erst an, nimmt sich die Nacht und künstlerische Freiheiten und fordert mich nebenbei auf, das Gitarrespielen dringend wieder aufzugreifen. Fingermotorik, neuronale Verbindungen, alles muss trainiert werden. Wieder einmal stelle ich fest, dass Ermunterung sich viel erfreulicher anfühlt als Eingrenzung. Verzichte dennoch darauf, zum Ausgleich eines meiner beliebten Zwölfton-Kunstlieder zum Besten zu geben. Der Abend ist zu schön, und die U-Bahn fährt noch lange.


Verlockung mit dem Unterton einer Gefahr: Essen nicht vergessen!

Meine Idee, die Imbisswelt der Großstadt auszutesten, endet nach höchst unterschiedlichen Erlebnissen in teils auffällig obszön benannten Stuben an einer historischen Wurstbude an einem berühmten Platz. Vor der isst eine Familie am Stehtisch, bis sich die Teenagertochter abrupt abwendet und überraschend projektil die Blumenrabatte gelb-rosa färbt. Gleichwohl ich die Braterei nicht anklagen will und stattdessen die Möglichkeit einer Morgenübelkeit in den Raum stelle, waren damit Lust und Appetit vergangen. Auch hier aber, wie ich recherchierte, gilt wie an anderen solcher Plätze: Die Google-Rezensionen lesen sich höchst unterschiedlich, von hui bis pfui. Mahatma Glück, mahatma Pech, Mahatma Gandhi, wie es in einem Karnevalslied heißt.


Frühlingsanklang im Tierparkgarten: Auslüften an Berliner Luft

Kurbadqualität haben vielfach die Kaffeehauspreise. Offenbar zahlt man - wie all überall - die während der Lockdowns nicht konsumierten Kuchenstücke nun mit jedem Backwerk zurück. Zu loben ist da der Schleusenkrug, ein für mich fast mythischer Ort, den ich nach jahrzehntealten, verschlungenen Geschichten um Irrungen und Versprechen endlich mal besuche. Man reagiert belustigt, als ich erkläre, wir seien jetzt in einem Stage Play. Besser, man holt sich klugerweise Kuchenstück für Kuchenstück im Leben alles auf angenehme Weise zurück. Ein fantastischer Tag also auch ohne Orchideengarten: Schwäne auf dem Landwehrkanal, freundliche Berliner erklären mir den Weg, der Schrittzähler auf dem Telefon spendet beständig frühlingshafte Herzchen.


 


Sonntag, 3. März 2024


Maus im Haus


Taxidermisches Präparat einer Maus, um 1900

Es begab sich ja so, dass ich begonnen hatte, gewohnheitsmäßig Erdnüsse in meiner Manteltasche mitzuführen. Ich wollte mir die große Krähenkolonie am alten Schwimmbad zum Freunde machen. Sachte angefüttert würden sie mich als "duften Typen" in Erinnerung behalten, und das ist ja nicht nichts im Leben.

Stand dann aber eines Morgens im Halbdunkel meiner Garderobe (ein weiterer Grund, sich weitgehend uniform anzuziehen) vor einem detektivischen Rätsel. Die Tatortlage zeigte sich zunächst wie folgt: Auf dem Boden merkwürdiges, braun-gelbes "Mehl" unklarer Herkunft. Eine solche Spur führte auch zwischen Mantel A und Mantel B entlang bis zur Seitentasche von Mantel A (Beweisstück anhand). Dortselbst ein kleiner Beutel mit besagten Erdnüssen.


Fotografie einer Krähe, die einem Mann mit Erdnüssen auf der Landstraße folgt, um 1900 [Symbolbild]

Als erfolgreicher Detektiv habe ich natürlich einen einprägsamen Spruch als Erkennungsmerkmal, so wie "Kombiniere!" oder "Elementary!" oder "Is that a mouse in your pocket or are you just happy to see me?" Meiner lautet "Nanu?!" oder so sagte ich "Nanu?!" und begann, die Indizien zusammenzubringen. Zunächst, man soll immer mit dem Wahrscheinlichsten beginnen bei der kriminalistischen Arbeit, schloss ich rasiermesserscharf, dass mich eine Krähe wohl derart als "duften Typ" identifiziert hatte, dass sie mir gefolgt, sich vielleicht in die Manteltasche geschmuggelt und danach im Schutze der Nacht (meine Garderobe ist dann komplett dunkel) den Diebstahl begangen hat.


Fotografie einer Krähe, die Erdnüsse auf einer Anrichte pickt, um 1900 [Symbolbild]

Nun heißt es aber, dass man, ehe man etwas zur Anzeige bringt, die augenscheinlichen Fakten noch einmal ruhig mit dem anderen Auge betrachten soll. ("Wenn du das eine Auge hingehalten hast, so sollst du aber auch das andere hinhalten". Handbuch der Detektive, Bd. II. Um 1900.) So kam ich zu einem anderen Schluss: Eine Maus muss der Täter sein! Es ist ja so, seit die nicht mehr urheberrechtgeschützt ist, findet man sie plötzlich überall. Das Szenario musste sich also folglich, wir beginnen wieder mit dem Wahrscheinlichsten, derart abgespielt haben: Ähnlich wie im berühmten Film Rififi (F 1955. R: Jules Dassin) hat sich eine Maus vom Dachboden aus ein Loch gebohrt und mit einem Regenschirm herabgelassen (fotografische Nachempfindung anbei), die Beute in der Manteltasche verzehrt und "flitzeflink die Biege gemacht", wie man in den 1950ern so sagte.


Fotografie einer Maus, die sich mit einem Regenschirm von der Decke herablässt [nachgestellte Szene]

Eine andere Möglichkeit, denn "I want to believe", wie der Sinnspruch eines anderen berühmten Kriminalermittlers lautete, war natürlich auch folgendes Szenario: Eine extraterrestrische Mausspezies hatte mich mit einem kleinen UFO verfolgt (möglicherweise hatte ich es für eine handelsübliche Spielzeugdrohne gehalten und nicht weiter beachtet) und sich unbemerkt (oder per Teleportation, warum nicht) Einlass in die Wohnung verschafft. Der Rest folgelogisch: Traktorstrahl auf die Erdnüsse, Sofortverzehr, Abflug.


Fotografie einer Maus in einem kleinen UFO, um 1900 [Symbolbild]

Hier aber: Kevin allein mit Maus, Trutzburg Leuchtturm am Rande der Stadt infiltriert, höchster Alarm am Vorratsschrank! Mit Taschenlampe und Vergrößerungsglas begab ich mich auf Inspektion und fand dann auch ein Loch in der Wand unter der Spüle, wo die Abflussrohre in die Abseite führen. Das machte die Theorie mit dem UFO und dem Regenschirm obsolet, übrig blieb die Hypothese vom gewöhnlichen Räuber, der auf vier nackten Pfoten durch die Stube schlich. Statt aber mit Nachtsichtbrille und Schmetterlingsfangnetz auf der Lauer zu liegen (dann auch noch im Dunkeln), entschloss ich mich zur Fallenstellung.


Fotografie einer Maus auf einer selbstkonstruierten Falle mit komplizierter Auslösemechanik, um 1900 [nachgestelle Szene]

Wie ein Inspektor Murdoch aus der nach ihm benannten Serie (ebenfalls berühmter Detektiv) tüftelte ich eine kleine Konstruktion mit Feder und Mechanik aus, bestückte die Köderbox mit Erdnüssen, selbst angerührtem Schokoladenmus, Grana Padano von Feinkost Luigi (Käse wird zu schnell trocken, das lockt nicht) und wartete auf das Klingeln der kleinen Alarmglocke, die ich an die Falle montiert hatte. Allein: kein Erfolg. Nacht um Nacht lauschte ich mit einem Ohr (das andere schlief), nichts. Tagsüber umwehten mich mittlerweile hypersensibilisiert immer mehr Maus-Anspielungen. Im Fernsehen lief Tom & Jerry, in einer Dokumentation sang ein mittlerweile verstorbener berühmter Schlagersänger von "Speedy Gonzalez" ("die schnellste Maus von Mexiko", wie wir wissen), überall nur Maus! Maus! Maus! überall biss die Maus einen Faden ab - nur bei mir nicht. Ich schien dem Wahnsinn nahe, aber das wäre ja nicht... nicht rational, nicht logisch.


Fotografie einer auffällig dunkel gekleideten Maus [Symbolbild]

Gerade als ich dachte, diese "Maus" existiere vielleicht nur in meinem Kopf und es sind doch die Krähen, die mich "gaslighten" wollen, begegnete ich ihr Auge in Auge und unvorbereitet in der Küche. Ich glotzte, sie glotzte, ich war irritiert von ihrem merkwürdig dunklen Mantel (mittlerweile denke ich, es war wohl doch nur eine dunkle Fellzeichnung) und vergaß darüber, zu einer Waffe zu greifen und eine Ingewahrsamnahme einzuleiten, inklusive Rechtsbelehrung und Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht. Schon war der feige Nager flink wie Speedy Gonzalez unter der Spüle verschwunden.

Nun war Schluss mit lustig: Ganz wie in einer Erzählung des Polizeireporters E.A. Poe griff ich entschlossen zur Spachtelmasse, summte ein Lied, in dem es um ein Faß Amontillado geht, und verschloss Schicht für Schicht, gleichwohl mein linkes Auge dabei merkwürdig zuckte, das Loch in der Wand, lachte dabei wohl auch, sprach "Nanu, nanu, nanu" und lobte mich, dass ich den Fall so rational wie sonst kein anderer gelöst hatte.


 


Samstag, 24. Februar 2024


Mimi Joconde. Die Splitternackte



Was für eine Geschichte. Die für ihren Ausziehtanz berühmte Unterhaltungskünstlerin Mimi Joconde ("La Belle sans Chemise") sitzt nach ihrer Show gerade erschöpft in der Garderobe vom Pariser Vergnügungsladen Aphrodision, als im Theater ein Feuer ausbricht und die Panik dazu. Mimi, todesmutig und lebensunerschrocken, steigt mitten in der Nacht in ihrem Arbeitskostüm (sprich: ohne was) aus dem Fenster und flieht im Schein der Flammen über die Dächer in ein Abenteuer, bei dem einem abwechselnd heiß und kalt werden wird. Immer in der Angst, von braven Bürgern oder aber der Polizei erwischt zu werden, trifft sie in ihrer Not auf nur anfangs galante Herren, trunkene, wohlhabende Unternehmer am Ende ihrer nächtlichen Schwarmtour, fremde Ehemänner und andere Einbrecher, Räuber und Betrüger, "Damen eines gewissen Hauses", die sie zu einem "Vorstellungsgespräch" schanghaien, Schamlose und Ignoranten, schlüpft abwechselnd in geliehene oder gestohlene Kleider oder Mäntel, die sie auf überraschende Weise immer wieder verliert, schlüpft aber auch nackt in Pelze, in Autos, geistert durch die Etagen und sozialen Schichten abgelegener Mietshäuser, findet manchmal Schlaf und Etwas zu Essen, aber einen Hafen, den findet sie nicht.



Erfunden (nehme ich an) hat diese wilde Kolportage über eine junge Damsel in Distress die Schriftstellerin Renée Dunand (1882-1936), die aber auch keiner mehr kennt. In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts abenteuerte sie als Journalistin, Autorin, Anarchistin und Dadaistin, verkehrte mit den Surrealisten um André Breton, Philippe Soupault, Louis Aragon, Paul Éluard, Francis Picabia, war Nudistin und Feministin, kurz also sehr modern, mondän und überaus de jour. Unter verschiedenen männlichen wie weiblichen Pseudonymen veröffentlichte sie Krimis und reißerische Krawallgeschichten, psychologische, erotische und esoterische Romane, fantastische Erzählungen und Science-Fiction.



Ein paar wenige Titel erschienen auch auf Deutsch, wie etwa neben Mimi Joconde auch Jean und Bekenntnisse eines Cynikers, heute allesamt nur antiquarisch erhältlich, obwohl sie einst offenbar weit verbreitet waren und selbst in Hamburg Hammerbrook gelesen:



Das Blog Renée Dunan trägt dankenswerterweise akribisch zusammengeführte bibliografische Listen und Notizen zusammen. In Frankreich wird Dunan offenbar auch aktuell noch viel besprochen und neu aufgelegt, im Comic Renée Dunan contre les mutants (La Ligue des Écrivaines Extraordinaires) wird sie gleich selbst zur Heldin. Hierzulande bleibt sie (und auch dieser Comic) weiter eine Verschollene. Und die kecke Mimi?

Nun, das Ende, so viel sei verraten, endet wieder im Pelz, mit einer überraschenden Wendung, bei der man denkt, puh, Mensch Mimi. Alles Gute!


 


Samstag, 17. Februar 2024


𝖁𝖔𝖓 𝖉𝖊𝖗𝖊𝖓 𝖐𝖞𝖓𝖘𝖙𝖑𝖎𝖈𝖍𝖊𝖓 𝕸𝖊𝖓𝖘𝖈𝖍𝖊𝖓



Manches Mal liege ich vom Tagewerk erschöpft auf dem mir gegenüber sehr nachgiebigen Sofa und versuche, nur mit der Kraft meiner Gedanken, ektoplasmische Materien und Formen aus dem Äther herbeizuondulieren. Wolken, Spiralen dimensionieren sich dann wie aus dem Nichts (so weit bin ich schon), pulsieren, atmen und lösen sich alsbald wieder auf. Es ist ein mühsames Training auf dem Weg, eine künstliche Kreatur zu schöpfen, mit einem beseelten Korpus, aber möglichst ohne eigenen Willen, sonst wird es wieder anstrengend.

Diese "Nebelwerke", so seien sie im Übergange genannt, mögen von geringerer Natur sein, doch befriedigen sie den Wunsch des Menschen, etwas zu erschaffen, sich gottgleich zu erheben, Leben in tote Materie zu hauchen, sich ein Ebenbild zu geben, eine Kreatur zu wecken, die im Haushalt niedere Dienste erledigen und abends als Freund mit am Tarocktische sitzen mögen. Oder schweigend vor dem Fernseher.



In der Werkstatt sitze ich dann bis weit in die Frühstunde an Holzarbeiten, verberge mein Ungeschick durch unbedingten Willen und figurative Freizügigkeit und einem wohlwollendem "das bleibt jetzt so". Bis nach und nach ein Automaton Gestalt annimmt, ein bewegter Holzmensch oder -mannikin. Eine mechanische Alraune, ein Wunderwerk der Technik, der nur ein Funken fehlt, auf dass es lebe.



Durch Ätherkraft beseelt wird mein hölzerner Doppelgänger für mich Einkäufe erledigen können oder Briefe zur Post tragen. Eine Packstation wird ihm zu kompliziert sein, das begreife ich ja selbst nur schwer. Die Spülmaschine ist hingegen sicher schnell erlernt. Ein paar Geselligkeiten abends auch. Ein Spiel mit Karten oder Holzfiguren, ein höfliches Gespräch über gemeinsam geschaute laufende Bilder. Ich werde ihm dazu tausende von Büchern in einen Lochkartenspeicher füttern. Mit der Zeit wird der Holzmensch "wissen", welche Wörter und Sätze aufeinanderfolgen, um wie eine sinnvolle Äußerung zu klingen. Eine Art Grammatik aus Drahtnägeln und passenden Löchern in derart ineinandergreifenden Pappkarten wird die Reihenfolge einzelner Satzglieder bestimmen. Ein großes Projekt, sicher. Und sicher nur für große Geister. Aber am Ende wird es vielleicht eine Armee von Doppelgängern geben, die galant die behandschuhte Hand reichen und artige Komplimente geben können.

Während ich, wie gesagt, auf dem mir wohlmeinend zugewandten Sofa liege, Wolken aus dem Äther emmaniere, flüsternden Stimmen lausche und überlege, wie ich meine Holzkopfarmee in die Parlamente bringe [aufgew.]

Homestory | von kid37 um 17:37h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 14. Februar 2024


Valentinstag



Heute am Tag der Herzgesundheit fand ich es an der Zeit, mir etwas Gutes ohne Augenrollen und Fremd- und Selbstgeißelung zu gönnen. Seit einiger Zeit vermisse ich ja meine Ausgabe von García Márquez' Hundert Jahre Einsamkeit, die auf bislang ungeklärte Weise abgängig ist. Wie lang schon, hundert Jahre vielleicht, ich weiß es nicht.

Nun gibt es in meiner Nachbarschaft die recht gut sortierte Bücherstube (der Ramsch geht gleich in die Filiale nebenan mit der Aufschrift "Papiercontainer") einer kleinen Kirche, die auch sonst ganz rühriges Veranstaltungsengagement hier im Viertel zeigt. Gemeinsam mit mir war ein freundlicher Herr im Raum, der eifrig und offenkundig kundig das nur grob sortierte, aber sehr preisvernünftig (meist ein, zwei Euro) ausgezeichnete Sortiment durchstöberte. Auch ich suchte eifrig, aber offenkundig unkundig umher, sah viele Volker Kutschers, neuere Sachen wie Gone Girl oder einen Kriminalroman von dieser Zaubererfrau, daneben viele alte und moderne Klassiker (von Washington bis John Irving), aber eben nicht diesen doch sicher hundertfach hin- und herverschenkten Márquez. Normalerweise bitten viele Männer und ihre dreijährigen inneren Kinder ja bei solchen Gelegenheiten nicht um Hilfe ("Kann ich selber!"), aber ich dachte, komm' ist Valentinstag, Freundlichkeit hilft heute weiter. Und tatsächlich war der von mir angesprochene Mitstöberer sofort im Bilde und wies daher beinahe wortlos auf einen Kasten quasi zu meinen Füßen, dortselbst seit hundert Jahren das gesuchte Buch auf Käufer wartete. Gibt es denn so was!

So was gibt es, sogar mit freundlicher Widmung, vielleicht zum Valentinstag, ein paar Zeilen mit "Topf" und "Deckel" an eine Person mit männlichem Vornamen, die/der sich jetzt aber mal schämen darf (nicht nur an diesem Tag). War doch 2005 sicher lieb gemeint! Jetzt sind - ebenfalls offenbar - wohl Betten und Bücher getrennt und auf den lieben S. warten, wenn er Pech hat, na?, genau, hundert Jahre EINSAMKEIT! (Letzter Narrhalla-Marsch, jetzt aber Aschermittwoch.)

Bei den DVDs wie meistens weder irgendwas von Lanthimos oder Kurosawa oder Bergman, dafür aber viel Romantika mit Hugh Grant oder was von Garry Marshall wie Valentinstag, in dem jeder mitspielt, nur nicht Hugh Grant. Da hätte heute aber manch einer ein schönes Mitbringsel gefunden! Nun bleibt es bei Tulpen von der Tanke. Ich fand hingegen beim Rausgehen im CD-Stapel Rosen aus Athen - die damals sehr wohlwollend aufgenommene Veröffentlichung von Nana Mouskouris musikalischem Ausflug nach New York (das ist eine große Stadt in den USA). Die Sängerin, die man hier nur im Schallplattenfach "Schlager" findet, war ja in ihrer Musikkarriere sehr versatil und eben zunächst eine Jazzerin. Produziert von Quincy Jones nahm sie 1962 eine Reihe von Jazz-Standards auf, darunter Titel wie "Love Me Or Leave Me", "Hold Me, Thrill Me, Kiss Me" oder "Smoke Gets In Your Eyes". Nur "My Funny Valentine", das fehlt.

>>> Geräusch des Tages: Nana Mouskouri, I Get A Kick Out Of You


 


Montag, 12. Februar 2024


Merz/Bow #75



Als kleine kreative Schmuckbegleitung kann man sich für die glücklicherweise kaum abreißende Demonstrationswelle gegen Rechtsaußen passende Embleme basteln. Zum Beispiel ruckzuck mit dem Antifascist-Logo-Generator. Es gibt noch weitere solcher Generatoren im Netz. Auf Mastodon konnte man in den letzten beiden Wochen einen ganzen Schwung sehr kreativer Entwürfe bestaunen, sehr hübsche Farbtupfer gegen braune Suppe.

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Apropos Schwung, wir geben weiter zum Sport. Aus einer Reihe von teils auch altersbedingten Gründen habe ich ja ein weiches Herz für Darstellungsformen vitalkraftstrotzender Unbekümmertheit junger Leute. So war ich doch bestimmt auch mal, könnte man rhetorisch fragen (Antwort: Nein.) und sich nostalgisch verklärt erinnern. Schlittschuhe und Rollschuhe hatte ich in meiner Kindheit nicht. Einmal war ich mit einer Rollschuhmeisterin liiert, aber die riet mir dringend ab, so was "in meinem Alter" noch zu probieren. Recht hatte sie, ich kann mir das ja - ohne Helm und Knieschoner - gemütlich vom Internetrand aus anschauen.

Kids, don't do this at home! Geht auf die Skaterbahn. So wie Jamma Lynn, die mit ihren Rollschuhvideos Schwung in die Instagrambude bringt. Dabei immer mal wieder auf haarsträubendem Kollisionskurs mit ihrem munterem Hund, Rampen und Eisengeländern, schreddert sie - wenn die Eltern nicht gucken - ganz frisch auf acht Rädern daher. So wie, hier [IG] im Kalifornientraum. Ziiiiisch! Mein Motto für 2024.

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Mutti macht derweil Punkrock, heißt es bei Arte. Dort läuft eine Doku mit diesem vielleicht nicht ganz glücklich formulierten Titel, der aber andererseits genau beschreibt, um was es geht. Statt Deckchen zu häkeln, haben sich ältere Frauen in Leicester, England ein Projekt ausgedacht, bei dem es heißt: auf die Bühne, drei Akkorde und los. Ganz fantastisch und mutmachend, und man möchte sich sofort eine Gitarre kaufen und mitjammen, aber für irgendwelche Macker ist das gar nicht gedacht - die sollen bitteschön Rollschuhlaufen gehen.

Hier geht's aber erstmal zur Doku [Arte].

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Noch etwas luftige Kunst: Nicole Banowetz konstruiert bunte Sky Machines, amorphe Zeppeline, ausgestellt in dem möglicherweise nach mir benannten Kid's Awesome Children's Museum in Taipai. Alles für hochfliegende Träume, Vorstellungen und Ideen.

MerzBow | von kid37 um 17:15h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link