Samstag, 22. April 2023


Autopilot Is For Lovers



"It's alive!" Der Geruch, der Geschmack von Elektrizität in der Luft einer lauen Nacht hängt in der Stadt, sicher auch hochtransformiert vom anstehenden Fußball-Derby, aber erstmal raus, raus, raus. Die lahmgelegten Jahre der Pandemie kurzerhand für beendet erklärt, aus dem Hintergrund müßte Rahn schießen, aber es ist Autopilot is for Lovers aus Portland, Oregon, die als Support von The Builders and the Butchers derzeit auf kleiner Deutschland-Tour sind. (Eure Stadt ist auch dabei.)



Adrienne (mit drei weiteren Musikern als Band unterwegs) fiel mir vor einiger Zeit auf Instragram auf, weil sie da charmante Split-Screen-Videos zeigt, in denen sie selbst alle Instrumente spielt. Das alles sehr geerdet, auch selbstironisch, ohne Gehabe und große Kompliziertheit. So kann man auch mir eine Slide-Gitarre unterjubeln, und das heißt schon ein bißchen was.



Schöne Stimmung im freundlichen Nochtspeicher, das gut gefüllt war mit entspannten Menschen (selten so viele Gespräche auf Konzertabenden geführt), selbst auf dem Klo war jemand so freundlich, mir den geheimen Sensor vom Seifenspender zu erklären (hermetisches Wissen!) - sage noch mal einer, auf dem Herrenklo würden keine Gespräche geführt. Wahrscheinlich waren alle entzückt, daß so ein älterer Herr wie ich aus dem Leuchtturm herabsteigt und sich auf Konzerte begibt. Als Vorband hatten Autopilot is for Lovers nicht alle Zeit der Welt, sie hämmerten ihre Stücke (u.a. "Elephant") aber konzentriert, handwerklich einwandfrei und mit unaufgeregtem Arbeitsethos von der Bühne. (Für drei Stücke kehrt Adrienne bei The Builders and the Butchers auf die Bühne zurück, also nicht zu früh gehen!).

Mit der Warnung im Rücken, wer da gerade das Stadt-Derby für sich entschieden hatte, erstmal ein paar S-Bahnen voller "Derbysieger! Derbysieger!" durchgelassen, einem etwas betüddelten, aber zahmen HSV-Fan auf seine Frage "Nur der...?" "Rock'n'Roll?" geantwortet, dann noch ganz freundlich Ghetto-Faust ausgetauscht, als wäre ich gerade auf Abi-Exkursion. Es geht doch, wenn man sich zusammenreißt. Reißt euch zusammen!

>>> Geräusch des Tages: Autopilot Is For Lovers, Elephant

Radau | von kid37 um 18:00h | 7 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 16. April 2023


Aus dem Leuchtturmbüro



Tief eingegraben in Arbeit stecke ich seit einiger Zeit im Heimbüro fest, wälze Tabellen und Messberichte, technische Unterlagen und übe mich in einer Lingo, die nicht ganz die meine ist. Zur Begleitung zwitschern mir Vögel was ins Ohr, manches verlockend, manches auch gar nicht mal so sehr. Immer wieder erwische ich sie dabei, wie sie Lesezeichen, Notizzettel und ganze Seiten aus meinen Manuskripten zupfen, um damit Nester zu bauen. Frühling, diese lästige Jahreszeit zwischen triebhafter Aufgeregtheit und unentschlossenem Wetterverhalten.

Man soll auf Internetversprechen nichts geben, also auf Texttafeln wie "Hier entsteht eine Webpräsenz" oder "Ich blogge bald öfter"; das sind Ankündigungen, denen selten Taten folgen. Das hat man in der Regel rechtzeitig im Leben gelernt, etwa wenn es heißt "Bald gehen wir gemeinsam in den Zoo" oder "Mit dir gehe ich mal tanzen" oder "Laß uns einen Kaffee trinken". Ich werde also einfach heimlich öfter was in das Blog schreiben und am Ende alle überraschen.

Vielleicht eine Geschichte über Erik Sanko, der gemeinsam mit seiner Partnerin in Manhattan lebt. "Imagine the laboratory of a Victorian-age mad genius, and you’d probably come up with something like the Tribeca apartment of impish polymath Erik Sanko. An emporium of wonders, the place is jam-packed with creaky cabinets, bones, skulls, taxidermy (watchful birds, wild pigs, a small kangaroo), anatomical models, and—hanging everywhere from delicate strings—some of the creepiest marionettes you’ll ever encounter", schrieb die Village Voice, wo ich zunächst nicht sicher war, ob sie nicht meine Wohnung hier im Leuchtturm meinten. Bilder gibt es auch hier bei The Selby.

Erik Sanko hat mal ein Lied gemacht mit dem Titel "The Beekeeper's Daughter", ein Begriff, von dem ich sicher war, dass ich ihn selbst mir mal ausgedacht hatte. Aber wie das heutzutage nicht eben selten ist: Man liegt in unruhigem Schlaf in einer 90-Zentimeter-breiten Koje, und durchs Fenster klettern vermummte Gestalten mit merkwürdigen Instrumenten herein, die mit langen, verknöcherten Fingern einem die Ideen mühsam aus dem Kopf herausprokeln, nur um sie auf dem schwarzen Markt zu verhökern.

Aber ich schreibe das alles auf!

>>> Geräusch des Tages: Erik Sanko, The Beekeeper's Daughter


 


Sonntag, 2. April 2023


Dämmerschlaf

Ich hege ja eine gewisse herzliche Verbundenheit zur Fabrik der Künste, die letztes Jahr nach dem überraschenden Tod des Eigentümers in unruhiges Gewässer geriet, nun aber mit regelmäßig interessantem Programm zurück auf Kurs ist. Immer weitermachen.



Zum Palmsonntag lockte Sonne, eine gute Gelegenheit, noch schnell die Fotoausstellung von Seb Agnew anzuschauen, der mit beachtlichem Aufwand die beiden Etagen der Fabrik der Künste bespielt. In Vitrinen und Winkeln sind einige Requisiten und Kostüme zu sehen, sein Arbeitsplatz wurde dort aufgebaut, an dem das Feilen und Montieren der Set-Modelle mit digitalem Compositing zusammenfällt, und natürlich die großzügig gehängten Fotoserien Grown, Syncope, Epiphany und Cubes.



Agnew ist ein Raumerkunder, der gefundene oder als Modell gebaute Räume mit Ideen vollstopft, Einfälle im Sinne von Invasion, die stutzig macht. Wer lange wartet, sitzt am Esstisch allein, während die Spaghetti wie ein melancholischer Fungus aus dem Kochtopf gewuchert ist und die Küche von Decke bis in die letzten Winkel erobert hat. Vielleicht mein Lieblingsbild (was mich von der Komposition bis hin zur Farbpalette ein wenig an Jeff Walls "Invisible Man" erinnert hat, ein Bild, das mich vor vielen, vielen Jahren fast atemlos machte. Man entdecke die Möglichkeiten!



Niemals klein denken, heißt es zurecht, obwohl Agnew zuletzt mit kleineren Sets experimentiert. Akribisch zusammenbaute Dioramen (die in der Ausstellung zu sehen sind) bieten Modellen und Ideen die virtuelle Bühne für die digitale Nachbearbeitung. Verstörende Orte, Fetzen aus losen Träumen, ein Sessel, der im Kino brennt, wir lagen doch alle mal im Halbschlaf und haben im Augenwinkel einen dunklen Ziegenbock gesehen.



Ein beachtlicher Spaß, diese erfundenen Filmstills und im Moment eingefrorenen unwirklichen Szenen. Vielleicht die interessanteste Ausstellung in Hamburg derzeit, nur leider nur noch bis zum Ostersonntag.

(Seb Agnew, "Dämmerschlaf". Fabrik der Künste, bis 9.4.2023)


 


Donnerstag, 23. März 2023


Die tote Stadt



Zwischen der Stille und ihrem Lärm lese ich. Einem Hinweis von Cegeste folgend, stieß ich auf Georges Rodenbachs Das tote Brügge, einem symbolistischen Roman von 1892, der in zwei Übersetzungen auch in Deutschland verlegt ist. Ich kannte den gar nicht, Huysmans reicht, war ich lange überzeugt, aber man kann ja auch mal über die dunklen Schatten in den Gassen einer alten belgischen Stadt springen. Rodenbach, ein Freund des Dichters Émile Verhaeren, falls jemand fragt, war eigentlich Anwalt, arbeitete zuletzt als Journalist und hinterließ ein alles in allem überschaubares Werk (vier Romane, einige Gedichtbände).

Versehen mit den Fotos der französischen Ausgabe, was damals natürlich sehr modern war, ist der schmale Band Das tote Brügge rasch bewältigt, und die Geschichte schadlos knapp zusammengefasst: Junger, sensibler Mann wird Witwer, trauert endlos und drei Tage um seine verstorbene Liebe, hegt ein paar kultische Erinnerungsstücke (Locke vom Haar und usw.) und grübelt in seinem Haus in Brügge vor sich hin. Bis er eines Tages, der Zufall und seine Streiche, eine Tänzerin vom Theater trifft, die seiner toten Liebsten bis aufs Haar gleicht! Es entspinnt sich eine heimliche, neurotisch-makabre Affaire d'Amour, bei der nicht klar ist, wer hier wen benutzt, und am Ende ist alles gar nicht mal so schön. Auch weil die Tänzerin das Spiel durchschaut und immer mehr aus dieser Folie, die über sie gelegt wurde, heraustritt. Verdammte Unterschiede.

Das ist doch die Geschichte von Vertigo, dachte ich. der Hitchcock-Film, in dem Kim Novak den schwindelgeplagten James Stewart beschwindelt als freilich angeheuertes Double seiner verstorbenen Liebsten usw. usf. Hitchcock verfilmte dabei einen Roman von Pierre Boileau und Thomas Narcejac (D'entre les morts) , aber man darf vermuten, dass den beiden Franzosen das kanonisierte Buch von Rodenbach bekannt war.

Wie bei den meisten guten Gedanken, darf man davon ausgehen, dass er bereits gedacht worden ist, und ja, Elisabeth Bronfen hat in ihrem Standardwerk Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik darüber geschrieben. Jetzt erinnert ihr euch auch.

Stilistisch herrscht viel Silberklang und kristallene Farben, es wird gesehnt und getadelt (die Liebesaffäre ist im erzkatholischen Brügge ein Skandal), die Innenschau des Helden lässt alle anderen Figuren etwas hölzern zurück. Aber sie sind eh nur Darsteller auf der Bühne seines Moraltheaters. Ich empfehle es zu Ostern, als Beiwerk weiterer liturgischer Lesungen.

>>> Buchbesprechung im DLF


 


Dienstag, 21. Februar 2023


Lieber Maler, male mir



Ein, zwei Personen der Ehre haben es erkannt - hier war es ungewöhnlich ruhig für ein paar Tage. "Living la vida industrious", wie es in den Milchbars entlang der grauen Bergbauanstalten und Stahlwerkagenturen heißt. Wie hört man so oft? "Diese Blogger, die sollen mal arbeiten gehen!"

Und so was kommt von so was: Durch fleißiges Wohlverhalten und allerlei Artigkeit fiel ich Industrieverbänden auf, wohlbeleibten Patriarchen mit Filzhut und Zigarre. Auch dort wird das Zeitungsforenklagelied gesungen: Der Wirtschaftsstandort Deutschland schwächle, die Deindustrialisierung drohe, der zusammengeplünderte Wohlstand entschwände durch den qualmenden Schornstein des Niedergangs. Usw. usf., Mittelständler kennen das. Wo Klage ist, bleibt aber nur die Flucht nach vorne. Wenigstens Andenken gilt es zu retten, und so kam man auf mich als frisch gekürten Malerfürsten und funkfernsehbekannten U-Boot-Porträtist, und ich ward zum Industriemaler bestellt!

Ich werde daher in diesem Jahr mit dem 49-Euro-Ticket (Dienstwagen nebst Steuerprivileg ist nicht drin) durch die Lande reisen und die letzten Fabriken (hier eine Vorstudie zu "Fabrik Nr. 37" aus dem Skizzenbuch) und rauchenden Schlote auf die Leinwand bannen. Hier bietet sich das Hochformat an, so habe ich es als Experte für multipel gefärbte Perspektiven entschieden beschlossen, da so ein Schornstein schon von seiner technischen Natur her oben höher ist als unten breit. Der Rest ergibt sich von selbst. eine Ausstellung "Ich glaube an den Dax, und der Dax glaubt mir" wird folgen und rechzeitig angekündigt. Bleiben Sie fleißig!


 


Freitag, 3. Februar 2023


Sieh an, sieh an

Gute Geschichten sind niemals auserzählt. Während meiner Recherchen über die wohl erste Reise zum Mond (die älteren Leser erinnern sich) stieß ich natürlich noch einmal auf die frühen Werke von Georges Méliès und dessen berühmten (und zum Glück erhalten gebliebenen) Film Die Reise zum Mond (1902). Von dort war es nur einen Kürbiswurf weit zum ebenfalls berühmten Video zum Smashing Pumpkins-Song "Tonight, Tonight" (1996), dessen Erzählstruktur (ergänzt um eine wirklich auch sehr schöne Unterwasserszene) verdächtige Parallelen zum eingangs erwähnten Überraschungsfund (Dachboden! Rar! Nichtraucherhaushalt!) aufweist. Vorsichtig bemerkt: Da Billy Corgan als sehr kunstinteressiert gilt, würde ich mich nicht wundern, wäre ihm das frühe Fundstück bekannt gewesen. (Die Idee geht offziell auf Wayne White zurück, künstlerischer Direktor für das Video. ) Ich bleibe dran.


 


Sonntag, 15. Januar 2023


Merz/Bow #72



Wie ich so bei Windstärke 9 im sturmböenumtosten Haus sitze, dem sanften pling pling im Bad lausche, wo Wasser friedlich durch die Decke in eine Emailleschüssel tropft und ein Geräusch wie eine Klangschale in einem Zen-Garten macht, dachte ich, es ist vielleicht an der Zeit. Zeit, ins Jahr 2o23 hineinzuschreiben. Das hat ja nun auch schon vor zwei Wochen angefangen. Das Feuerwerk war nach der pandemiebedingten Pause wieder ganz ordentlich, bunte Tupfer und Girlanden, Bang-bang, Ziiiiisch, alles dabei. Der Neujahrsspaziergang, die EU-zertifizierten Böllerinhaltsstoffe hatten den Himmel wie eigentlich jedes Jahr ins Sonnige freigesprengt, ebenfalls sehr ergiebig: Gleich ein ganzes Bund Raketenholzstöcke sammelte sich schnell zusammen, Bastelmaterial für hochfliegende Pläne.

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Die Sternsinger haben in den Zwischentagen-Tagen die rauhe Zeit dann abgesungen, Licht aus und ab zurück zum den magisch-realistischen Alltag eines zunehmend endgrau gewordenen Normalzeitmenschen. Die zwar rauhreiflosen, aber nicht weniger harschen ersten Januartage genutzt, Formulare, Bescheide, Amtsgeschäfte vom Tisch zu räumen. (Habe jetzt sogar einen Termin bei der Landesverkehrsbehörde. Muss ja noch den Lappen umtauschen.) Gute Nachrichten zur Lasterleichterung, so mag es gerne weitergehen. Zwei Projekte auf zwei Schultern verteilt (linke Schulter, rechte Schulter), eingehüllt in die jährliche, exquisite Musikrückschau. (Danke!)

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Angefangen, dass Skulpturenjahr 2023 einzuläuten. Erste Studien zu nachgiebigen, amorphen Körpern in rigiden Strukturen. (Symbol für Lebenssituation.) Die Reihe wird fortgesetzt, habe jetzt den Segen von Amts wegen. Ansonsten nur gute Vorsätze: Weiter keinen Fußbreit für negative Nörgelei, akzeptiere nur noch sog. positive Nörgelei. Oder eigentlich gar keine. Jeder solle leuchten in seiner eigenen Fassung, heißt es ja bekanntlich.

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Schöne Entdeckung und wirklich empfohlen für alle [Technik jetzt], die digital Musik machen oder Klang bearbeiten: Walhalla Supermassive bietet tolle Sounds für gar kein Geld, und hat die Größe meiner Wohnung ins Massive erweitert. Jedenfalls akustisch, und ich sage es, wie es ist: Mehr Hall war in der Halle selten. (Wortspiel.) Sehr hilfreiches VST-Plugin. Drone, drone, drone.

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Weniger Rückblick, mehr Ausblick. Gegenüber werden immer mehr der großen Bäume gefällt. Der eine wegen Schaden (bin gespannt, wann man mir so gegenübertritt), der andere und zwei, drei mehr, weil sie Bauarbeiten im Wege stehen (bin gespannt, wann man mir derart entgegentritt). Die Projekte fräsen sich nun durch den Ostteil der Stadt. Das neue El Dorado, tendenziell große, vernachlässigte Flächen, tendenziell wenig zu erwartender Widerstand. Baggerzähne der Zeit, wie gerade anderswo in der Republik.

MerzBow | von kid37 um 15:55h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link