Mittwoch, 9. Februar 2022
In meinem Theaterstück (Debüt) "5 alte Herren zeigen ihren Sack" (Urauff. Berlin, 2023) kommen fünf als Kolumnisten verkleidete ältere Herren (sog. "Schauspieler") auf die Bühne und ziehen einen großen Sack voller sog. "Argumente" und Tiraden hinter sich her.
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© Aganetha Dyck
Der Sack wird vorne am Bühnenrand unter Geächze und Gestöhne geöffnet, und dann werden aus verschiedenen Perspektiven (fünf) in Stentor-Bühnenstimme Sack, Situation und Gesichter erörtert und starre Ansichten wachsweich verteidigt. Im Hintergrund steht eine Dame im ausladenden Kleid und wird während der Dauer der Aufführung (fünf Stunden) von naturgemäß fleißigen Bienen mit einer Schicht aus Wachs und Wabe überzogen. So wie hier im fantastischen Werk von Aganetha Dyck.
Die kanadische Künstlerin (*1937) stammt aus Winnipeg (offenbar einem Bienenkorb für gute Kunst, auch Marcel Dzama oder etwa Guy Maddin stammen von dort) und arbeitet für ihre Skulpturen seit Jahren mit Entomologen und Imkern - und natürlich Bienen - zusammen.
Dyck platziert dazu zum Teil präparierte Objekte in Bienenstöcke und lässt den bloß autodidaktisch geschulten Immen freie kreative Hand. Das Ergebnis ist ein Transformationsprozess der Natur, den wir als künstlerisch erkennen - jedenfalls solange Dyck als Regisseurin die Prozesse steuert und dabei Start, Umfang und Ende der Arbeiten bestimmt. Ihre Themen bilden vielfältige Motive aus der Welt von Heim und Hof (Kleidung, Puppen, Hochzeiten) ab , aber so wie Guy Maddin in seinem Film Cowards Bend the Knee (Kan. 2003) dem kanadischen Nationalsport zunickte, hat auch Dyck eine Serie über Eishockey-Totems im Gepäck - Helme, Schläger, Schuhe, alles, was so in einen Sportsack passt.
Ihre Bienenwabenschuhe hätte man gut auch im abgelaufenen Beuys-Jahr zeigen können, denn in Deutschland wurden ihre Arbeiten bislang nie gezeigt. Aber andererseits haben wir das Jahr zumeist eh abgeschottet im eigenen Stock wie Bienen im Winterschlaf verbracht.
>>> Website von Aganetha Dyck
Samstag, 29. Januar 2022
Neulich suchte ich auf eBay nach irgendwie abgegrabbeltem Baum- und Buschwerk in H0 für ein keines Diorama, das ich basteln wollte. Aber die deutsche Modellbauszene ist mein Endgegner. Es sollte eine skulpturale Inszenierung werden zum Thema "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?" Ich dachte, na, ich bin doch wie eine Lokomotive - ständig unter Dampf und am Zug und unerbittlich und stetig voran. Ehrlicherweise - muß man nach 5322 Tagen in Geiselhaft von Covid19 sagen - sind es aber wohl mehr die Aspekte schnaufend und ächzend, die mittlerweile an mir auffallen.
Nun sind Bäume aber eh überbewertet, wie man an den umfangreichen Fällaktionen sieht, die derzeit all überall in Hamburg stattfinden. Neulich war ich ein paar Stunden aus dem Haus, um meine Corona-Warn-App auf Trab zu halten, und als ich wiederkam, konnte ich am Horizont plötzlich Häuser sehen, von denen ich gar nicht gewußt hatte, daß sie dort stehen. Das Grün dazwischen, perdü, wech, häxel, häxel, es kam der Tag, da mußte die Säge sägen. Als Realist der Imagination werde ich also nur noch baumlose Dioramen bauen. Vielleicht wird dies auch ein neuer, werbewirksamer Slogan so wie "ohne Fleisch", "ohne Nitrate" oder "ohne Palmöl". Willkommen in unserem Stadtteil - jetzt auch "ohne Bäume"!
Meine Träume und Zukunftsvorstellungen als junger Mann waren übersichtlich. Im Nachtzug nach Paris, dort dann mit - nur als Beispiel jetzt - François Hardy durch die Cafés der Stadt ziehen, ganz lässig oder wie man dort sagt "leger". Und dann noch lässiger an einem Pastisgetränk nippen, hören, wie sie ihrer Freundin zuflüstert "Je veux qu'il revienne", und gut ist. Aber als ich endlich alt genug war, das Land im Nachtzug zu verlassen, waren die von der Bahn schnöde abgeschafft und so die halbe Romantique schon vorbei. Die Hardy hat dann extra Deutsch gelernt und mir 2:41 Min. lang was auf meinen Anrufbeantworter gesummt. Na ja. Comme ci, comme ça, wie man so sagt. Comment te dire adieu.
Traumdiebstahl, im übrigen ein schweres Delikt. Heute also entträumt und überfahren und ächzend und schnaufend statt im beschwingten YéYé-Schritt, wie gefesselt auf den Gleisen liegend und an bald auch noch verbotener Kohle lutschend statt Pastis. Fünf Jahre! Fünf Jahre! Fünf Jahre! hallt es durch lange, leere Flure. Aber auch auf den letzten Meilen heißt es: nach vorne sehen! Die Nachtzüge kehren zögerlich zurück. Man kann nach Wien, nach Zürich, Stockholm und vielleicht auch bald nach Paris. Im Grunde auch egal, einfach voran, zur Not ins Nirgendwo.
Montag, 24. Januar 2022
Nach drei Jahren, 372 Monaten und fünftausendsiebenhundertdreiundreißig Wochen Pandemie ist vielen ein wenig die Energie verloren gegangen. Dieser ewige, perspektivlose Nebel und eine ungewisse Zukunft greifen eben tief ins Nervenkostüm. zudem sind Ladesäulen zugeparkt, Energiepreise generell hoch, was also fehlt, ist eine Erfindung, die aus ungewöhnlichen Quellen Elektrizität zapfen kann. Zum Beispiel aus erwähntem Nervenkostüm oder besser noch: aus Gedankenkraft.
Aus haushaltsüblichen Utensilien habe ich in meinem geheimen Geheimlabor eine Maschine konstruiert, die mich als zweiten Edinson ins Licht der großen Bühnen stellen wird. Eine Hirnstromelektrode, die intensive Gedanken anzapft und den stream of consciousness in Energie umwandelt. "Mein Gott, es lebt!" wird man rufen, wenn so einem bleichhäutigen Quarantänezombie (oben Hemd und Krawatte, unten Pyjamahose) plötzlich ein Licht aufgeht.
Leider hat diese Technik noch ihre Tücken. Zum einen braucht man eine gewisse Gedankenstärke, um überhaupt ein paar Milliwatt zu erzeugen. Für Schwachstromdenker nicht geeignet. Dann ist das Prinzip höchstwahrscheinlich gar nicht einmal nicht regenerativ, sondern degenerativ. Da sind wir wieder beim Nervenkostüm. Hierzu braucht es noch erleuchtende Studien. Möglicherweise sitzt man Ende also im Hellen, aber verblödet unter der Lampe, kann das Buch zwar lesen, aber nicht mehr verarbeiten. Aber das sind die Einwände braver Bürger. In der Fringe-Forschung am Rande des Möglichen muß man mutige Schritte gehen.
Dienstag, 18. Januar 2022
Im letzten Herbst war ich kurz Gast im Museum für Hamburgische Geschichte, ein charmantes historisches Gebäude am Rande einer großen Parkanlage mitten in der Stadt mit wirklich sehr freundlichen Menschen an der Kasse und bei der Aufsicht. (Ein Aspekt, der in Ausstellungsberichten ja meist sträflich unterschlagen wird.)
Zu sehen war unter anderem eine Ausstellung über das Leben des jüdischen Fotografen Max Halberstadt (1882-1940) in Hamburg. Halberstadt gründete 1907 ein Fotostudio in der Hansestadt, mußte aber 1936 dem Druck der Nazis nachgeben und emigrierte nach Südafrika. Als Fotograf schuf er viele Porträts im Auftrag, heute interessante Dokumente des jüdischen Lebens im Hamburg des frühen 20. Jahrhunderts. Berühmt wurde er auch: Beinahe jeder kennt seine Porträts von Sigmund Freud, dessen Schwiegersohn er war. Die Bilder vom ergrauten Psychoanalytiker und seiner Zigarre sind längst ikonisch geworden.
Der Schwerpunkt der Ausstellung lag allerdings weniger auf den fotografischen Arbeiten denn auf die Rekonstruktion einer Biografie: auf das Leben eines "Lichtbildners", seine Verbindungen zur Hamburger (jüdischen) Gesellschaft und Tempelgemeinde, die Auftrags- und Gebrauchsporträts von Familien, höheren Töchtern, der Nachbarschaft und Handwerkern und seine Korrespondenz mit den Behörden, den Anträgen und Genehmigungen rund um seine beschwerliche Ausreise. Am Ende trägt man aber doch ein Bild nach Hause - vom Leben in der Hansestadt und von dem, was heute fehlt.
Alltagsgeschichten wie diese konstruieren sich oft über Zufallsfunde. So hatte ich vor einiger Zeit eine kleine Unterhaltung auf Instagram mit dem US-Künstler Dave Benz, der unter dem Namen Benz and Chang auftritt. Für seine wunderbar nostalgischen Aquarellbilder bezieht er sich immer wieder auf gefundene Fotos und sogenannten Cartes de Visite vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Darunter war eine Werbeaufnahme des jüdischen Kaufhaus Heilbuth in der Steinstraße in der Nähe des Chile-Hauses. Die Brüder Heilbuth hatten 1903 Hamburgs erstes Kaufhaus eröffnet, an der Stelle, wo heute die Mundsburg Towers stehen und ein großes Einkaufszentrum existiert. Sie betrieben drei weitere Filialen in der Stadt, eine davon war die erwähnte in der Steinstraße. Im Fotostudio der Firma entstanden allerlei Ansichts- und Werbepostkarten, von denen eine den Weg über den Atlantik nach Portland gefunden hatte.
So wandern Geschichten durch die Zeiten, tauchen an unterschiedlichen Orten in neuen Zusammenhängen auf, transformiert, verwandelt oder auch bloß nur verdreht.
>>> Website von Benz and Chang
Dienstag, 4. Januar 2022
Weil ich jetzt in meiner filmschaffenden Rückreise im Jahr 1954 bin, habe ich das Feuerwerk zu Silvester (das Ghetto zeigte sich stabil, Verkäufe aus dem Kofferraum machten es möglich) zu einem abstrakten Gemälde umgearbeitet. Für übers Sofa. Das neue Jahr verspricht, glaubt man einer bekannten US-Astrologin, von allem ein bißchen: Geld, Spaß, Reise, Erfüllung, Liebe usw. Das paßt mir gerade gut, meine Tür, mein Reisekoffer und insbesondere mein vermögensreduziertes Konto stehen offen.
Leider konnte ich dieses Jahr keine Stöcke von abgebrannten Feuerwerksraketen zum Basteln sammeln. Die waren wohl in den zahlreichen Garagen und Kofferräumen schon abgebrochen. Eine unvorhergesehen Ausgabe, die mir hoffentlich kein all zu großes Loch ins Budget fressen wird. Duschen also vorerst nur noch kalt, Fernsehen nur noch aus der Konserve.
Gestern sah ich, es gibt keine Zufälle, einen Rückblick auf zehn Jahre "Die Geissens", zunächst ein bißchen erschöpfungsdämmernd, dann elektrisiert. Was für ein Bündel an guten und bedenkenswerten Haushaltstipps! "Vom Geldausgeben ist noch keiner reich geworden!", so der Benjamin Franklin unserer Zeit, Millionärsgattin Carmen G. "Sie ist die Hausfrau" (Robert G.), wurde sie vorgestellt, doch "Ich bin ja nicht nur Hausfrau"-Carmen gab sich gewitzt. Ihre Ratschläge zum Umgang mit der eigenen Prominenz ("war auch nicht immer leicht") und Fans ("ich umarme immer alle") sind auch für Blogger lehrreich. Ihre Charakteranalysen ("Robert hat sechs Luxusautos. Der ist so was wie ein Sammler") treffen bei der ("Sie hat 500 Paar Schuhe") kölschen Lebefrau ins Mark. Wie das "Selber Arschloch" zu einem Landsmann im Urlaub, der Gatte Robert als ebensolches bezeichnet hatte. Sagt man nicht, aber das weiß man als umarmender und Hände schüttelnder Blogger ja.
Fühle mich jetzt wohl präpariert wie ein altes Klavier vom Sperrmüll, um 2022 noch ein paar Lieder zu klimpern.
>>> Geräusch des Tages: Die Sterne, Abstrakt
Freitag, 31. Dezember 2021
(Terror aus dem Weltenraume - demnächst 1954 im Kino!)
In meiner Reise rückwärts durch die Zeit bin ich nun im Jahre 1954 angekommen und eine Art Ed Wood (letzter Autorenfilmer) in einer Art Jack-Arnold-Studio (Tarantula) geworden. Was dem einen Plan 9 from outer Space ist mir Terror aus dem Weltenraume, ein epochales Sci-Fi-Werk mit ungewöhnlichem Twist. In meinem Film kommen nämlich Aliens auf die Erde, um eine gefährliche Krankheit zu bekämpfen: Cowrona, eine durch Rinder übertragene Virusinfektion, gegen die die Menschheit kein Mittel gefunden hat. Extraterrestrische Wissenschaftler aber können mit ihren Labor-UFOs die befallenen Kühe aufspüren und unschädlich machen. (Sie werden auf einem kleinen Exoplaneten ausgesetzt und können dort friedlich grasen.)
Werke wie dieser Film sollen Frieden und Freundlichkeit in die Welt bringen. Davon erhoffe ich mir für 2022 ganz viel. Schluß mit Krankheit, Einbruch, Plünderungen, Zerstörung, Seuchen, Arbeitslosigkeit und andere Niederlagen des Lebens. 2022 soll das Geschichte sein, denn - bringt nichts. Ist nicht schön. Braucht kein Mensch.
Samstag, 25. Dezember 2021
Der erste Weihnachtstag ist immer der schönste, wenn auch atmosphärisch "kühler" als Heiligabend. Diesem Tag liegt aber inne, das "Gröbste geschafft" zu haben: Staubsaugen, Baum schmücken, Essen totkochen, letzte Geschenke besorgen, einpacken oder es gleich ganz sein lassen, klingelnde Nachbarn, Telefonate quer durch die Weltgeschichte, Flötenkonzert, Bescherung mit emotionaler Aufwallung oder gleich gar keiner... Wie schön also der erste Weihnachtstag. Man trägt die neuen Pantoffeln, die Krawatte um den Kopf oder gleich gar nichts, schaut die Peanuts aus nostalgischen Gründen, spielt mit der Modelleisenbahn oder anderen Geschenken, doziert über Weihnachten früher?, sucht diese eine zerkratzte Schallplatte, die unbedingt jetzt und nur heute abgespielt werden muß - und das war's auch schon. Man macht vielleicht einen Spaziergang um den zugefrorenen Ententeich (müßte sich dazu aber umziehen, muß also nicht), bringt Altpapier zum Müll oder all die schlechten Gedanken, aber sonst - nichts.
Ich kann jetzt zufrieden mein kleines Impfpflaster streicheln, das vielleicht nicht schönste, aber beste Weihnachtsgeschenk, das allerdings durch unvorhergesehenes langes Schlangestehen auch schwer erarbeitet war. Aber manches geht ja, wenn man es einfach nur tut. Sonst kann man es gleich ganz sein lassen.
Frohe Weihnachten.