Montag, 24. Januar 2022


Energie!



Nach drei Jahren, 372 Monaten und fünftausendsiebenhundertdreiundreißig Wochen Pandemie ist vielen ein wenig die Energie verloren gegangen. Dieser ewige, perspektivlose Nebel und eine ungewisse Zukunft greifen eben tief ins Nervenkostüm. zudem sind Ladesäulen zugeparkt, Energiepreise generell hoch, was also fehlt, ist eine Erfindung, die aus ungewöhnlichen Quellen Elektrizität zapfen kann. Zum Beispiel aus erwähntem Nervenkostüm oder besser noch: aus Gedankenkraft.

Aus haushaltsüblichen Utensilien habe ich in meinem geheimen Geheimlabor eine Maschine konstruiert, die mich als zweiten Edinson ins Licht der großen Bühnen stellen wird. Eine Hirnstromelektrode, die intensive Gedanken anzapft und den stream of consciousness in Energie umwandelt. "Mein Gott, es lebt!" wird man rufen, wenn so einem bleichhäutigen Quarantänezombie (oben Hemd und Krawatte, unten Pyjamahose) plötzlich ein Licht aufgeht.

Leider hat diese Technik noch ihre Tücken. Zum einen braucht man eine gewisse Gedankenstärke, um überhaupt ein paar Milliwatt zu erzeugen. Für Schwachstromdenker nicht geeignet. Dann ist das Prinzip höchstwahrscheinlich gar nicht einmal nicht regenerativ, sondern degenerativ. Da sind wir wieder beim Nervenkostüm. Hierzu braucht es noch erleuchtende Studien. Möglicherweise sitzt man Ende also im Hellen, aber verblödet unter der Lampe, kann das Buch zwar lesen, aber nicht mehr verarbeiten. Aber das sind die Einwände braver Bürger. In der Fringe-Forschung am Rande des Möglichen muß man mutige Schritte gehen.


 


Dienstag, 18. Januar 2022


Halberstadt



Im letzten Herbst war ich kurz Gast im Museum für Hamburgische Geschichte, ein charmantes historisches Gebäude am Rande einer großen Parkanlage mitten in der Stadt mit wirklich sehr freundlichen Menschen an der Kasse und bei der Aufsicht. (Ein Aspekt, der in Ausstellungsberichten ja meist sträflich unterschlagen wird.)

Zu sehen war unter anderem eine Ausstellung über das Leben des jüdischen Fotografen Max Halberstadt (1882-1940) in Hamburg. Halberstadt gründete 1907 ein Fotostudio in der Hansestadt, mußte aber 1936 dem Druck der Nazis nachgeben und emigrierte nach Südafrika. Als Fotograf schuf er viele Porträts im Auftrag, heute interessante Dokumente des jüdischen Lebens im Hamburg des frühen 20. Jahrhunderts. Berühmt wurde er auch: Beinahe jeder kennt seine Porträts von Sigmund Freud, dessen Schwiegersohn er war. Die Bilder vom ergrauten Psychoanalytiker und seiner Zigarre sind längst ikonisch geworden.

Der Schwerpunkt der Ausstellung lag allerdings weniger auf den fotografischen Arbeiten denn auf die Rekonstruktion einer Biografie: auf das Leben eines "Lichtbildners", seine Verbindungen zur Hamburger (jüdischen) Gesellschaft und Tempelgemeinde, die Auftrags- und Gebrauchsporträts von Familien, höheren Töchtern, der Nachbarschaft und Handwerkern und seine Korrespondenz mit den Behörden, den Anträgen und Genehmigungen rund um seine beschwerliche Ausreise. Am Ende trägt man aber doch ein Bild nach Hause - vom Leben in der Hansestadt und von dem, was heute fehlt.

Alltagsgeschichten wie diese konstruieren sich oft über Zufallsfunde. So hatte ich vor einiger Zeit eine kleine Unterhaltung auf Instagram mit dem US-Künstler Dave Benz, der unter dem Namen Benz and Chang auftritt. Für seine wunderbar nostalgischen Aquarellbilder bezieht er sich immer wieder auf gefundene Fotos und sogenannten Cartes de Visite vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Darunter war eine Werbeaufnahme des jüdischen Kaufhaus Heilbuth in der Steinstraße in der Nähe des Chile-Hauses. Die Brüder Heilbuth hatten 1903 Hamburgs erstes Kaufhaus eröffnet, an der Stelle, wo heute die Mundsburg Towers stehen und ein großes Einkaufszentrum existiert. Sie betrieben drei weitere Filialen in der Stadt, eine davon war die erwähnte in der Steinstraße. Im Fotostudio der Firma entstanden allerlei Ansichts- und Werbepostkarten, von denen eine den Weg über den Atlantik nach Portland gefunden hatte.

So wandern Geschichten durch die Zeiten, tauchen an unterschiedlichen Orten in neuen Zusammenhängen auf, transformiert, verwandelt oder auch bloß nur verdreht.



>>> Website von Benz and Chang

flanieren | von kid37 um 17:07h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 4. Januar 2022


Bin so abstrakt



Weil ich jetzt in meiner filmschaffenden Rückreise im Jahr 1954 bin, habe ich das Feuerwerk zu Silvester (das Ghetto zeigte sich stabil, Verkäufe aus dem Kofferraum machten es möglich) zu einem abstrakten Gemälde umgearbeitet. Für übers Sofa. Das neue Jahr verspricht, glaubt man einer bekannten US-Astrologin, von allem ein bißchen: Geld, Spaß, Reise, Erfüllung, Liebe usw. Das paßt mir gerade gut, meine Tür, mein Reisekoffer und insbesondere mein vermögensreduziertes Konto stehen offen.

Leider konnte ich dieses Jahr keine Stöcke von abgebrannten Feuerwerksraketen zum Basteln sammeln. Die waren wohl in den zahlreichen Garagen und Kofferräumen schon abgebrochen. Eine unvorhergesehen Ausgabe, die mir hoffentlich kein all zu großes Loch ins Budget fressen wird. Duschen also vorerst nur noch kalt, Fernsehen nur noch aus der Konserve.

Gestern sah ich, es gibt keine Zufälle, einen Rückblick auf zehn Jahre "Die Geissens", zunächst ein bißchen erschöpfungsdämmernd, dann elektrisiert. Was für ein Bündel an guten und bedenkenswerten Haushaltstipps! "Vom Geldausgeben ist noch keiner reich geworden!", so der Benjamin Franklin unserer Zeit, Millionärsgattin Carmen G. "Sie ist die Hausfrau" (Robert G.), wurde sie vorgestellt, doch "Ich bin ja nicht nur Hausfrau"-Carmen gab sich gewitzt. Ihre Ratschläge zum Umgang mit der eigenen Prominenz ("war auch nicht immer leicht") und Fans ("ich umarme immer alle") sind auch für Blogger lehrreich. Ihre Charakteranalysen ("Robert hat sechs Luxusautos. Der ist so was wie ein Sammler") treffen bei der ("Sie hat 500 Paar Schuhe") kölschen Lebefrau ins Mark. Wie das "Selber Arschloch" zu einem Landsmann im Urlaub, der Gatte Robert als ebensolches bezeichnet hatte. Sagt man nicht, aber das weiß man als umarmender und Hände schüttelnder Blogger ja.

Fühle mich jetzt wohl präpariert wie ein altes Klavier vom Sperrmüll, um 2022 noch ein paar Lieder zu klimpern.



>>> Geräusch des Tages: Die Sterne, Abstrakt


 


Freitag, 31. Dezember 2021


Fight Cowrona!



(Terror aus dem Weltenraume - demnächst 1954 im Kino!)

In meiner Reise rückwärts durch die Zeit bin ich nun im Jahre 1954 angekommen und eine Art Ed Wood (letzter Autorenfilmer) in einer Art Jack-Arnold-Studio (Tarantula) geworden. Was dem einen Plan 9 from outer Space ist mir Terror aus dem Weltenraume, ein epochales Sci-Fi-Werk mit ungewöhnlichem Twist. In meinem Film kommen nämlich Aliens auf die Erde, um eine gefährliche Krankheit zu bekämpfen: Cowrona, eine durch Rinder übertragene Virusinfektion, gegen die die Menschheit kein Mittel gefunden hat. Extraterrestrische Wissenschaftler aber können mit ihren Labor-UFOs die befallenen Kühe aufspüren und unschädlich machen. (Sie werden auf einem kleinen Exoplaneten ausgesetzt und können dort friedlich grasen.)

Werke wie dieser Film sollen Frieden und Freundlichkeit in die Welt bringen. Davon erhoffe ich mir für 2022 ganz viel. Schluß mit Krankheit, Einbruch, Plünderungen, Zerstörung, Seuchen, Arbeitslosigkeit und andere Niederlagen des Lebens. 2022 soll das Geschichte sein, denn - bringt nichts. Ist nicht schön. Braucht kein Mensch.


 


Samstag, 25. Dezember 2021


Keine Tränen unterm Weihnachtsbaum



Der erste Weihnachtstag ist immer der schönste, wenn auch atmosphärisch "kühler" als Heiligabend. Diesem Tag liegt aber inne, das "Gröbste geschafft" zu haben: Staubsaugen, Baum schmücken, Essen totkochen, letzte Geschenke besorgen, einpacken oder es gleich ganz sein lassen, klingelnde Nachbarn, Telefonate quer durch die Weltgeschichte, Flötenkonzert, Bescherung mit emotionaler Aufwallung oder gleich gar keiner... Wie schön also der erste Weihnachtstag. Man trägt die neuen Pantoffeln, die Krawatte um den Kopf oder gleich gar nichts, schaut die Peanuts aus nostalgischen Gründen, spielt mit der Modelleisenbahn oder anderen Geschenken, doziert über Weihnachten früher?, sucht diese eine zerkratzte Schallplatte, die unbedingt jetzt und nur heute abgespielt werden muß - und das war's auch schon. Man macht vielleicht einen Spaziergang um den zugefrorenen Ententeich (müßte sich dazu aber umziehen, muß also nicht), bringt Altpapier zum Müll oder all die schlechten Gedanken, aber sonst - nichts.

Ich kann jetzt zufrieden mein kleines Impfpflaster streicheln, das vielleicht nicht schönste, aber beste Weihnachtsgeschenk, das allerdings durch unvorhergesehenes langes Schlangestehen auch schwer erarbeitet war. Aber manches geht ja, wenn man es einfach nur tut. Sonst kann man es gleich ganz sein lassen.

Frohe Weihnachten.


 


Dienstag, 21. Dezember 2021


Merz/Bow #70



Der US-Autor T.C. Boyle führt auf Twitter einen absichtslosen Strang mit absichtslosen Fotos, Malereien und Bilder und Bemerkungen insbesondere über Eier. Da ich nur schwer einen Witz auslassen kann, kam es zu einem kleinen Match in der Kategorie Games with Names, bei dem es nach der ersten Runde 1:1 steht. Sehr nett.

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Am Morgen darauf erwachte ich aus intensiven Träumen, in denen ich an meinen neuen Freund T.C. dachte. "T.C.", sagte ich mit einer an Hardy Krüger erinnernden rauen Stimme, "T.C., wir sollten mal ein Bier zusammen trinken". Vielleicht könnten wir dabei auch in Schwarzweiß auf ein nebelverhangenes Flugfeld starren. Jedenfalls sollte der Beginn einer ganz wunderbaren Freundschaft auch standesgemäß begossen werden.

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Auf Social Media ist es übrigens leichter, mit international bekannten Menschen in Kontakt zu treten als mit deutschen Sozialkanalbetreuern ab einer gewissen Followerzahl. Hier ist die Chance auf eine Reaktion sehr gering, während (vorbildlich) Patti Smith, Gillian Anderson, Viv Albertine, Kim Gordon, aber auch Caroline Peters zum Beispiel (um mal in meinem Social-Media-Autogrammbuch zu blättern) einfach unkompliziert freundlich sind bzw. wissen, wie man Fans und Publikum bespielt. Es liegt wahrscheinlich schlicht daran, daß die zunächst mal einer anderen Profession nachgehen und nicht als bloße Meinungs- und Kommentierberühmtheiten auf ihren Internetstatus achten müssen.

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Bin vom Hamburger Boosterspiel überfordert, das liegt aber deutlich auch an mir und nicht nur daran, daß etwa mein Drucker ausgefallen ist und keine geforderten Einwilligungserklärungen ausliefert oder an starren "Sechs Monate, sonst heim!"-Grenzen oder Warteschlangen ins Ungewisse. Aber von allem eine Messerspitze, das macht schon was aus. Mental Overload, auch ein schöner Bandname. Ich bunker mich einfach ein.

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Interessanter als solche Banalbetrachtungen sind übrigens Projekte wie The Alternative Limb Project. Funktional bis Spielerisch werden hier Prothesen aufgebohrt, umgedreht, verschnörkelt oder in neue Sinnzusamenhänge verwoben. Das ist immer überraschend, oft verblüffend, manchmal auch provokant. Schönes Freispiel für enge Reha-Räume.

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So oder so, am Ende gilt: "You're the only one who matters".

MerzBow | von kid37 um 19:05h | 9 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 11. Dezember 2021


Illust



In meinem Beruf als Wissenschaftsillustrator muß ich häufig bei Laborexperimenten dabei sein, um Prozesse und Stadien live ("Live und in Farbe", sagt man) festzuhalten, damit sie nicht für die Nachwelt vergessen sind. Das ist nicht ganz ungefährlich, vor allem bei Experimenten, deren Ausgang ungewiß ist.



So wie bei diesem mit einem geheimen Edelgas gefüllten Glaskolben, der durch Hochspannung (Kids, don't try this at home!) in ebenso hochfrequente Schwingung versetzt wird und eine (hier noch viel geheimere) Trägersubstanz transformiert. Die dahinterliegende chemische Formel muß ich nicht verstehen, ich bin nur der Maler, der mit unbestechlichem Auge akribisch die Wunder der Reaktion in allen Details festhält, damit sie später exakt studiert werden können. Leider kann ich als Illustrator nicht die Geräusche festhalten, das Summen und Brummen der Transformatoren, das Blubbern in den Inkubatoren, der schwere Atem der fleißigen Experimentatoren.

Ähnlich betriebsam war die Woche, ein Brizzeln und Bruzzeln, wie man in Entenhausen sagt, am Mittwoch wurde ich ein bißchen gegrillt und schon Donnerstag bereits fielen mir sozusagen postkonversational die richtigen Antworten ein. Weshalb es grundsätzlich praktisch ist, sein Leben rückwärts zu leben! Da hat man die Antworten schon, ehe überhaupt die Frage gestellt wurde. Nächste Woche noch mal Stube kehren, Vorräte aufstocken und dann bis Jahresende in meinem von blubbernden Glaskolben umgringten Bett liegen bleiben und auf einen Booster-Termin warten.