Mittwoch, 22. Juli 2020


Merz/Bow #61



Es muß Geld ins Haus. Deshalb schreibe ich jetzt romantische Unterhaltungsromane wie Am See der Liebe. Da geht es, so viel sei verraten, um eine Familienreise an einen See, um eine alte Jugendliebe, um Komplikationen und ein Ende, dessen Ende ich hier nicht verraten will. Ich bin da sehr fleißig und habe schon zehn oder elf Zeilen geschrieben. Das ist ganz gut. Ian McKeown zum Beispiel schreibt 600 Wörter am Tag, aber der hat viel Routine.

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Zur lautmalerischen Unterhaltung meines Schreibmaschinengeklappers höre ich ein altes Album von Rowland S. Howard, Teenage Snuff Film mit dem Kracher Sleep Alone. Ein uplifting Soundtrack für die Fahrt mit der Rolltreppe abwärts an den See. Mit dabei sind auch Mick Harvey und Howlands langjährige Weggefährtin und Partnerin Genevieve McGuckin. Nach seinem frühen Tod, eine berührende Anekdote, wurde Howland übrigens eine Straße in Melbourne gewidmet. (Mir, auch berührend, wurde als Autor des erwarteten Erfolgs Am See der Liebe bereits eine in New York (das ist eine große Stadt in den USA) gewidmet, die 37th Street.)

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In der Schreib- und Bildschirmarbeitsplatzpause schaue ich mir an, wie meine Visitenkarte als Autor leichtfüßig-eleganter Unterhaltungsromane vielleicht ausschauen könnte. Anregungen bieten mir die Bilder von Alex Gross. Der hat alte Aufwartungskarten, sogenannte Cabinet Cards, mit Pinsel und Anspielungen auf die aktuelle Popkultur übermalt und so ihre Retro-Atmosphäre aufgehübscht. Ich bin sehr entzückt.

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Menschen stehen vorwärts in den Straßen und schauen den Kometen. Irgendwo unterm Großen Wagen im Nebelwald aus Wolken und städtischer Lichtverschmutzung wird er vermutet, bislang bin ich bei der Suche am Fenster aber immer rasch eingeschlafen. (Als Autor eleganter Unterhaltungsromane gehe ich ja früh zu Bett, ich heiße ja nicht Rowland S. Howard.) Ich bin mir aber insgeheim sicher, daß der Himmelsreisende am See der Liebe viel heller strahlt.

>>> Webseite von Alex Gross

MerzBow | von kid37 um 17:46h | 8 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 15. Juli 2020


Provisorisch



Eine Bekannte von mir mokierte sich früher (stets liebevoll!) ab und an über meine "Provisorien", wie sie einen Gutteil meiner charmant kreativen Lösungen für allerlei Alltagsherausforderungen bezeichnete. Das empfindet der sensible Heimwerker natürlich rasch als Kastrationsgefühl, ähnlich dem, wenn Frauen nicht verstehen, warum man als Mann einen Stapel Holz in der Garage liegen hat. Selbstverständlich, weil man daraus wunderbare, vielleicht sogar völlig nutzlose Dinge basteln kann. Vorausgesetzt, der richtige Zeitpunkt ist gekommen - und das richtige Werkzeug liegt zur Hand.

Nachdem man also die erste Lebenshälfte damit verbringt, sich verletzen zu lassen (oder sich beim Heimwerken selbst zu verletzen), besteht ja die zweite Lebenhälfte aus Genugtuung. Wenn man ein Schloß und einen Weinberg, etwas Zeit (und Werkzeug) besitzt, und vor allem eine gewisse Ruhe. Dann fühlt man sich plötzlich bestätigt von David Lynch, der als eine Art "Bob Ross der Heimwerker" auf Youtube kleine Projekte vorstellt. Lynch weiß natürlich, was man im Laden kaufen kann, perfekte Dinge. Aber er bastelt die Dinge eben gerne selber.

Zwischen uns paßt in der Hinsicht wenig überraschend kein Stück Schleifpapier. Da gibt es kaum etwas, was ich nicht mit einem alten Flaschenkorken, etwas Leim und Bindfaden richten kann. Gebrochene Vasen, gebrochene Herzen, abgefallene Griffe, zersprungene Träume, abgefallene Knöpfe, aus dem Leim gegangene Hoffnungen. Zumindest provisorisch hält's.


 


Samstag, 11. Juli 2020


Traumwebereien



Neulich träumte ich von Fischen. Ich komme mit Fischen an und für sich gut klar, auch wenn ihr immer wieder unvermitteltes Abtauchen befremden kann. Schön, wenn dann auch mal wieder einer aus den Tiefen auftaucht. So wie der von Fred Stonehouse. Ein guter Fang.



Der stellt gerade mit den Kollegen Heiko Müller, Femke Hiemstra, Ryan Heshka und El Gato Chimney bei Feinkunst Krüger in Hamburg aus. Ein pop-surrealistisches Dreamteam, das versponnene Welten und Landschaften zeigt, merkwürdige Tiere, unerklärliche Situationen und hier und da einen Auszug aus euren eigenen Träumen. Nur wußtet ihr das bislang noch nicht.



Es ist ein interessantes Gefühl, den Bildern maskiert zu begegnen. So als wäre man selbst als andere Persona unterwegs - aus einem Bild gestiegen, aus dem Traum eines anderen, aus einer U-Bahn mit lauter Maskierten. Ein bißchen zu spät, gehetzt wie ein kunstliebender Hase oder einfach mit noch schärferem Auge, wenn die anderen Sinne schon blockiert sind. Wem die Welt gerade merkwürdig scheint, kann hier noch ganz andere entdecken, und wer diese entrückten Geschichten sieht, findet unsere Welt vielleicht doch wieder ganz normal. Man sollte sich hier erleuchten lassen.

>>> Ansicht der Ausstellung

"Dream Weavers - Neo Fabulist II". Bis 25.7.2020. Feinkunst Krüger, Hamburg.

Flanieren | von kid37 um 01:35h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 7. Juli 2020


Fernrohr geradeaus

So you turned
your days into night-time/
Didn't you know, you can't make it
without ever even trying?

(Karen Dalton, "Something On your Mind")



Mit Sucherblick auf alte Backsteinfenster, rückwärts Geschichte, vorwärts bloß Skizzen, heißt es jetzt wieder, volle Muckikraft an festgefranzte Hebel setzen. Weichen stellen. Sprache finden. Und eine Sprachregelung, alles aber deutlich loud and clear durch eine Maske gesprochen. Von Selbstabsolution Besoffene von den Schulterstücken bürsten, happy bouncing mit Partybrille. Bücher zusammenschnüren, Leitsätze notieren, einen karierten Picknickdeckenblick für verregnete Sommertage üben.

Bin bereit für Mondbäder, die letzten Wolken vom Himmel kratzen, mit dem Wassersprenger alle nass machen und sich selbst. Weggefährten aufreihen, nachts eine Allee pflanzen, die großen Bäume hier, die Fähnchen dort, tumbleweed verwehen lassen. Schleppwaltzing am Ufer entlang wie Ringos* Schlagzeugspiel, während der Sommer Tag für Tag verkommt. Aus dem Nachbarhaus klingt Fleetwood Mac, in welchem Dachterrassenpartyjahrzehnt leben wir denn hier? Ich warte auf "thunder only happens when it's raining" aus diesem Lied, das nur scheinbar wie der Wetterbericht klingt.

Empire State of Mind mit Brettern vernagelt, befremdliche Bilder, verschobene Pläne, Knistern in der Leitung. Man muß eben lauter singen, mit dem Finger über Straßenkarten malen, sein eigenes Theaterstück schreiben oder überhaupt und endlich mal auch sonstwas tun.

>>> Geräusch des Tages: Karen Dalton, Something On Your Mind


 


Freitag, 26. Juni 2020


Arcadia




Mittsommer und Ofenhitze, nachts höre ich, wie sich das vom Tage ausgeglühte Metalldach meines Leuchtturms mit Plop und Ploing wieder zurückformt. Aber auch Gezischel und Getuschel im benachbarten Grün, ein Rauschen und Knacken, Frauen in Weiß huschen an den Anlegern umher. Ein wenig unheimlich und beklemmend. Ganz wie der britische Collagenfilm Arcadia von Paul Wright. Komponiert mit Material aus dem BBC-Archiv, meist Dokumentationen neben ein paar Spielfilmen (aber keine thematisch allzu offensichtlichen wie zum Beispiel The Wicker Man) verwandelt er das problematische Verhältnis von Mensch und Natur in einen rauschhaften Bilderstrom. Der dunkel gefärbte Soundtrack dazu stammt von Adrian Utley (Portishead) und Will Gregory (Goldfrapp).

Aufgeteilt in mehrere Kapitel sehen wir den Wandel der britischen Landschaft, ihre Unterwerfung durch den Menschen, die Verstädterung und die Industrialisierung. Und dann die Versuche der Rückeroberung, die Suche nach Arkadien. Freikörperkultur der letzten Jahrhundertwende und allerlei undurchsichtige paganistische Rituale suchen die verlorene Einheit mit Natur und ihren Kräften. Volkstänze und unverständliche Feierlicheiten bis hin zur Ravekultur der 90er-Jahre zeigen die eine Seite. Immer gespiegelt mit der bösen: Landnahme, Raubbau, immer wieder die Jagd, Kriege, monströs industrialisierte Landwirtschaft.

Am Ende bleibt man erschöpft und etwas verschwitzt nach diesem düsteren Folk-Horrortrip zurück. Will sich die Kleider vom Leibe reißen, auf nassen Wiesen und durch Büsche herumspringen oder einfach nur gesittet und matt mit Kuchen und Tee am Flußufer sitzen.

Super 8 | von kid37 um 17:06h | 5 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 20. Juni 2020


Faust in der Tasche



Schnauze voll von Pandemie: Mit dem Walter-Serner-Wort der "letzten Lockerung" auf den Lippen ist vieles wieder begehbar geworden. Zum Glück auch Galerien, laut einer von mir in meinem geheimen Geheimlabor durchgeführten Kleinstudie soll sich Kunst ja positiv auf vielerart Krankheitsverläufe auswirken. Die Affenfaust in Hamburg zeigt die beiden Leipziger Künstler Doppeldenk mit 100 + 1 Jahre Bauhaus.



Ungewohnt bunt für meine kleine verregnete Welt, aber voller Tiere und trauriger Sensationen (auch Jesus am Kreuz ist dabei). Neonskulpturen, bauhausgrafische Holzklotzmännchen, flächig gemaltes. Wie Street-Art im Galerieformat präsentieren sich die Werke im ehemaligen Supermarkt in der Nähe der Reeperbahn.



Maskenpflicht bleibt, wer bunte hat, fügt sich hier gut ein, geht bitte nah ran an die Kunst und hält Abstand zu den anderen Menschen. Ein vorbildliches Konzept, das ich mir für weitere Lebensbereiche wünsche. Die Doppeldenker Marcel Baer und Andreas Glauch kommen grellbunt, vordergründig unschuldig, dabei aber ganz schön ironisch daher - und irgendwie macht das nach einer Weile Süßkramhunger.



Wie schön wäre eine buntsortierte Eisdiele anbei oder ein Marshmallow- oder Fruchtgummiverkauf mit lustigen Erdbeerflamingos oder sauren, rosa Schaumgummischweinchen. Ums Eck liegen Kaffee & Kuchen im Café, auch hier bitte keine angestrengt überdachten Fantasienamen angeben. Anschließend entspannt durchs Revier streifen, jeglichen Groll in der Tasche lassen und alle Gesellschaftsteile freundlich grüßen.

Doppeldenk, "100 + 1 Jahre Bauhaus". Affenfaust-Gallery, Hamburg. Bis 8.8.2020.


 


Dienstag, 16. Juni 2020


Zwei und zwei zusammenzählen



Vor Jahren ist mal eine Bekannte von mir mit ihrem Steuerberater durchgebrannt. Das hat mich aus verschiedenen Gründen so pikiert, daß ich seither meine eigene Erklärung nur noch über die Elster abgebe. Das wird diesem Berufsstand eine Lehre sein. In die beamtenschelmisch benannte Elster trage ich einfach alles, was ich an Zahlen finde, in das (hoffentlich) entsprechende Feld ein - und am Ende bekomme ich 200,- Euro erstattet und habe meine Ruhe. Ich werde dann immer ausgelacht, weil andere jedes zweite Wochenende stundenlang Quittungen und Belege in einen Leitz-Ordner kleben und ächzen und anschließend einen "Termin beim Berater" haben, ächzen, und dann 400,- Euro zurückkriegen, aber auch viel Stress im imaginierten Arbeitszimmer und in der Lebensgemeinschaft haben. Also manchmal.

Ich jedenfalls habe gerade meine übers Jahr gut versteckten Tresore raufgeholt und sortiere meine drei Unterlagen, weil ich langsam die zweihundert Euro gut gebrauchen könnte. Pandemiefolgen. Nach langer Quarantäne habe ich kaum noch etwas anzuziehen, dabei kann man am Horizont fast den Herbst schon sehen, der seine Kollektionen Ende August bereits in die Läden wehen wird. Und dann geht's schon schnell an die Weihnachtsgeschenke und das Silvesterfondue. Dann sitzt man da und nuschelt undeutlich in seine Maske, Mensch, 2020 war jetzt auch nicht so ein schönes Jahr. Gut, daß ich noch 200,- Euro von der Steuer zurückerhalten habe.

Das war jetzt schon die ganze Moral von der Geschichte. Aufgeschrieben an Tag #537 der Quarantäne.