Mittwoch, 6. Mai 2020


Mode zur Zeit


Larry Calkins, "Charity"

Nun, da wir alle endlich Masken tragen, wird viel auch nachgedacht über Muster, Formen, flotte Sprüche, um die Gesichtsbandagen aufzuwerten, anzupassen, zu individualisieren und als It- und Statement-Piece zu etablieren. Durchatmen mit Distinktionsgewinn.

Warum sollte Kleidung da hintenanstehen? Einzelne Entwürfe greifen bewährte Traditionen aus dem Barock auf, sind von der Maschengröße her allerdings nicht dicht genug zur Virenabwehr und ziehen zudem Motten an wie eine Straßenlaterne.

Der aus Harlem in New York (das ist eine große Stadt in den USA) stammende Künstler Larry Calkins hat vor einigen Jahren bereits Kleider als Textilskulpturen geschaffen
(siehe auch hier und hier). Sie schienen aus der Zeit gefallen, vielleicht auch nicht leger genug. Aber angesichts der Weltläufte wären diese (ausreichend beschichteten!) Stücke heute wohl eine angemessene und angemessen vernünftige modische Wahl.

Ernsthaft, aber auch ein wenig verspielt, eine A-Linie ohne althergebrachte Strenge, im klassischen Leinen-Baumwoll-Mix, aber mit Schellack gegen Aerosole ausreichend geschützt. Die gedeckten Farben, Ocker, Rost- und Erdtöne, und sparsamen Muster verbreiten eine Ruhe, die in der aufgeheizten Öffentlichkeitsatmosphäre angenehm auf die Psyche wirken. Man stelle sich das Straßenbild vor: Statt Leggins in Feuerwerks- und Safarimustern eine aufgeräumte Struktur und das Vertrauen von Materialien, die nicht bei Berührung statische Blitze schlagen. Dazu das Gefühl, ein Kunstwerk zu tragen. Ein subtiler, unaufgeregter Auftritt für die Dame von heute.

Dieses kleine Videoporträt zeigt Calkins Arbeitsweise, und lustigerweise, wenn auch nur nebenbei bemerkt, sieht es bei ihm genauso aus wie bei mir letzte Woche, als ich ähnlich grauhaarig meine kleine Abstellwerkraumdunkelkammer ausräumte, um mit Hilfe meines neu erworbenen Akkuschraubers (big love!) ein stauraumbietendes Regal dort aufzubauen. Große Geister act alike, wie man in Harlem, New York sagt.

>>> Webseite von Larry Calkins


 


Mittwoch, 22. April 2020


Quarantäneforschung

Während ich wie Burroughs' Dr. Benway (natürlich ohne die Drogen) in meinem Bunker hoch oben im Leuchtturm sitze und Gedanken ausbrüte, nutzen andere die Zeit, die ein oder andere nützliche Fertigkeit zu erlernen. Die einen widmen sich einer Fremdsprache, dem Japanischen etwa, andere verkleiden ihre Katzen oder vertreiben sich die Zeit mit monotonen Puzzles und viele kochen sich mehr oder weniger kompliziert und schmackhaft durchs Hefeland.

Aus New York (das ist eine große Stadt in den USA) erreichte mich dazu eine weitere Folge der Quarantäne-Dokus von Max Sharam, wo ohne Chichi und exaltiertes Tamtam einfache und effektive Gerichte erklärt werden. Dabei geht es getreu dem in westlichen Herzenskulturen klebrig verankerten Motto "Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar" zu. Ich kann bestätigen: Genau mein Geschmack!



Als ernsthafter Wissenschaftler, der abwechselnd Sterne zählt, dann wieder in Ganglien bohrt, habe ich mich derweil mit den medizinisch relevanten Auswirkungen von Quarantäne beschäftigt. So habe ich verschiedene Wasserproben genommen (unter anderem im Spülkasten, gerne auch als "drittes Mikrobiom" bezeichnet, bei dem das Gewicht der Bakterien das eines normal augebildeten, erwachsenen Gehirns erreicht) und zudem Abschabungen von Wänden in einer Petrischale zur Kultur angeregt. Und siehe da, es herrscht Gefahr: Bei länger andauerndem Lockdown droht durch feuchte Aussprache und unnötige Tränen akute Pilzbildung, die sogar auf den Menschen übergreifen kann (auch wenn ich diese Schlußfolgerung persönlich für extrem übertrieben halte)!

Deshalb mein Rat: immer gut lüften und den Kopf frei halten. Vielleicht noch was einfaches Kochen und Gymnastik am offenen Fenster.


 


Samstag, 18. April 2020


Fundstücke from the Wunderkammer #1

Am 14. August 1901 startete der aus Bayern in die USA ausgewanderte Gustav Weißkopf* zum ersten Motorflug der Geschichte. Begeistert und beeinflußt von den Leistungen Otto Lilienthals und nach genauen Beobachtungen des Flugs von Kondor und Albatros, konstruierte der Nachtwächter Weißkopf mit seinem Modell 21 schließlich ganz ausgeschlafen einen motorbestückten Fluggleiter. Der Rest ist umstrittene Geschichte. Die Brüder Wright bestanden darauf, ihren eigenen Ruhm mit dem Flug der Kitty Hawk vergolden zu wollen und schrieben herabsetzende Artikel (in der Zeitung!) über ihren Konkurrenten. Beweise hatte der nur wenige, ein paar Zeugen, ein unscharfes Foto. Nun habe ich beim Aufräumen (mein neues Kellerregal steht!) und nächtlichem Umstapeln von Papier und Aufbewahrungsdosen eine noch unbearbeitete Filmrolle entdeckt, die ich einst auf einem Flohmarkt in Berlin für 3Markfuffzich einem alten, bärtigen Mann, der daraufhin schnell in der Menge verschwand, abgekauft hatte.

Die Neugier trieb mich in meine Dunkelkammer, wo ich den Film mit einigen Mühen und aus der Übung geratenen Fingern in die gute alte Kaiser-Dose spulte. Natürlich war die lange Lagerzeit dem Material nicht zuträglich, auch fehlte mir die geeignete Chemie (mit Kodaks XTol aber geht ja auch fast alles). Dennoch mögen sich interessierte Menschen meine pochende Überraschung vorstellen, als ich erkannte, was sich auf dem Film verbarg: ein Mitschnitt des ersten Motorflugs! Deutlich erkennt man den an Otto Lilienthals angelehnten Gleiter, und ebenso deutlich ist an der sanften Topografie die Wiese in der Nähe von Fairfield zu erkennen, wo das spektakuläre Ereignis damals stattfand.

Man darf eben nichts wegwerfen! Irgendwann wird alles einmal seinen Nutzen finden oder wenigstens für die Geschichtsschreibung interessant sein. Ich bin jetzt bei der weiteren Kellerverräumung wie von einer Teslaspule elektrisiert. Wer weiß, was ich noch finde!

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* In einer ersten Version wurde der Pionier fälschlich "Weißhaupt" genannt.


 


Montag, 13. April 2020


Hefeland

"Was, wenn es jetzt für immer so bleiben wird?" fragte Eva, während sie sich kleine Krümel von Sauerteig von den Fingern puhlte. Gedankenverloren schaute sie aus dem Fenster. In der Ferne bellte ein Hund.

So beginnt mein aufsehenerregender Debütroman Hefeland, der eine melancholische, aber schonungslose Studie über ein Land und seine Bewohner in Zeiten der Pandemie abliefert. Ich hoffe, daß mir die Kaltmamsell dieses Einkaufsfoto für das Cover zur Verfügung stellt. Der Rest geht dann fluffig wie von selbst auf: Bachmannlesung, Sondertisch, Dennis Scheck, Abverkäufe.



Bis dahin lebe ich maskiert und weitgehend distanziert (aber nicht arrogant) in meinem kleinen Leuchtturm am Rande der bewohnten Stadt, höre abwechselnd Karen Daltons schonungslose, aber melancholische Interpretation von Something On Your Mind und dem schonungslosen, teilweise wild enthemmten Konzert der Gänse unten auf dem Wasser. Die Natur holt sich derzeit eben alles zurück, da beißt die Maus keinen Faden ab oder der Fuchs ins Gänsebein. Nur immer mehr Sonntagsausflügler, die früher über Land gefahren sind, verirren sich jetzt hier ins Gewerbegebiet, wo ich meine zart verhüllten Radausflüge unternehme. Unangenehm.

Zur Ablenkung lese ich in einer munteren Sammlung von schundigen Polizeiberichten aus dem viktorianischen England. Da fallen von einem Supermond gelockte Somnambulisten von Dächern und gehen entzwei, rippern sich Bösewichte durch fahl beleuchtete Straßen, Geister irren umher und erschreckem unschuldige Leute. Verwirrte ältere Damen hamstern Katzen in ihrer Wohnung, kluge Hunde helfen Polizeimännern oder retten Kinder vor dem Ertrinken, in Schaubuden sind seltsame Menschen zu betrachten, der ein oder andere Artistentrick schlägt auf fatale Weise fehl. Eine nicht sonderlich gut erzählte, eher anekdotenhaft aneinandergereihte Sammlung aus dem Vermischten früherer Tage. Aber unterhaltsam, akkurat zusammengetragen (aus dem Revolverblatt Illustrated Police News) und mit einem Index versehen - etwas, das man aus deutschen Verlagen ja kaum noch kennt.

(Jan Bondeson. Strange Victoriana. Stroud, Gloucestershire: Amberley Publishing, 2016.)


 


Freitag, 3. April 2020


Das Haus der Krokodile



In Zeiten der großen Heimisolation haben manche begonnen, komplexe Sprachen zu lernen, Kochrezepte oder sogar ein bislang unterrepräsentiertes Musikinstrument. Andere bringen ihren Haustieren lustige Tricks bei. Mir ist ja die ganze Welt ein Instrument, daher sah ich meinem Hauskrokodil ins noch unfertige Auge und lehrte es geduldig, selbst noch einen Tick geduldiger mit weit geöffnetem Maul dazusitzen. Wir haben das jetzt ein paar Mal geübt, und ich kann nun meinen Kopf zwischen die beiden kräftigen Kiefer legen (und im zweiten Schritt drei Rollen Klopapier jonglieren, die ich gerade noch im Supermarkt ergattern konnte). Wie Krokodilbesitzer wissen, neigen diese Tiere leider zu Halitosis, weshalb es ratsam ist, die über der Nase gut geschlossene Behelfsmaske auch in der Manege zu tragen. Ich habe bislang leider noch keinen diplomatischen Weg gefunden, das Thema Mundgeruch anzuschneiden, ohne die bekanntlich empfindsame Seele des Krokodils zu verletzen.

Wofür braucht man das? Das ist eine Frage, die sich selbstverständlich aufdrängt, wenn die Gedanken sonst nur um "Mehl" und "Hefe" kreisen. Ich aber muß an die Zukunft denken. Irgendwann werden wieder Straßenkünstler gesucht, die vor einer imaginären Glasscheibe stehen oder aus dem Atem eines Krokodils die Zukunft vorhersagen. Vielleicht ruft auch der Cirque du Soleil an, der mich bittet, meinen Kroko-Akt auf dem Hochseil vorzuführen. Bleibt gesund und habt Ideen!

>>> Geräusch des Tages: Echo and the Bunnymen, Crocodiles


 


Mittwoch, 1. April 2020


Merz/Bow #60

Vor ein paar Jahren hatte ich einen zarten Flirt mit einem Pferd, das einer Bekannten gehörte. Seither erst weiß ich, daß Pferde für den Auslauf auf gut ausgestatteten Reiterhöfen in so Karussells gepackt werden, wo sie - hübsch getrennt in einzelnen Kammern - eine halbe Stunde im Kreis laufen und Strecke machen können gegen die Langeweile. Na ja, ihr kennt das ja sicher gut von euren eigenen Hamsterrädern.

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Als gesetzter Herr von roundabout 37 Jahren kann ich natürlich rund um meinen kleinen Leuchtturm nicht mehr so Rumhüpfen, aber der Kontakt zur Außenwelt soll ja nicht völlig abreißen. Ich habe daher umständlich ein modernes Bildübertragungssystem installiert, um vor interessiertem Publikum regelmäßige Quarantäneansprachen zu halten und besonders Vertraute zum Greifen nah zu haben. Was es alles gibt fürs Heimkontor.

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David Lynch wurde für Mulholland Drive 2001 zwar mit Preisen überhäuft, fand in Hollywood aber kaum noch Geldgeber, drehte (digital) 2006 noch Inland Empire, ansonsten aber vor allem (groteske) Kurzdokus oder Werbefilme. Zwischendurch stand er in den Nullerjahren meist im Atelier, baute Skulpturen aus Holz und Gips, malte und druckte und sichtete sein Werk. So wie seine Präsenz auf Kinoleinwänden ab 2000 abnahm, stieg sie in Galerien und Museen. Von den zahlreichen Werkschauen und Sonderausstellungen sind mittlerweile einige Kataloge erschienen. Zuletzt nun bei Prestel der Band Someone is in my House. Darin sind viele bekannte, gut kanonisierte Gemälde und Zeichnungen, aber auch einige recht aktuelle, dazu Verweise auf Twin Peaks: The Return. Wer also sowieso alles haben will oder überhaupt noch keinen Bildband zu Lynchs malerischem Werk besitzt, findet hier einen guten Einblick.

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Aus Übersee wurde ich unterdessen auf den wunderbaren Film Hotel Splendide aufmerksam gemacht, der hierzulande nie richtig erschienen ist, obwohl er mit Toni Collette und Daniel Craig recht prominent besetzt ist. Immerhin gibt es eine DVD-Ausgabe (OmU), für Leute, die so was noch kennen. Visuell rückenmarkgespeist von den Filmen Jean-Pierre Jeunets und Marc Caros (vor allem natürlich Delicatessen und Die Stadt der verlorenen Kinder), dazu versetzt mit britischem Sarkasmus, verzerrt die muntere Groteske das titelgebende Hotel zur Psychocouch: Eine verkracht-verbogene Familie hält auf einsamer Insel den Betrieb aufrecht, während das viktorianische Gebäude immer mehr zum "House of Usher" verschrägt. Gestörte Mutterbeziehungen, Eifersucht und Neurosen sorgen für nach Leib und Leben trachtenden Exzessen und tragischen Liebschaften, während unten, tief im Unterbewußtsein Keller eine rumpelnde, nur von Eingeweihten zu bedienende Maschine durch wie Eingeweide mäandernde Rohrsysteme die Heizung befeuert - angetrieben von den Exkrementen der Hotelbewohner (da nutzt auch kein Papier). Das ist teilweise derbe, oft munter, manchmal romantisch, toll gespielt und stets wunderbar ausgestattet - wenn auch nicht so über-originell, wie man wünschen könnte. Schönes Abbild des ein oder anderen Quarantänekollers in splendid isolation aber.

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Ich selbst räume ja gerade ein wenig im Keller auf, sortiere eingetrocknete Wandfarbe von der letzten Renovierung 1910 beiseite, entdecke Gegenstände, deren Bedeutung mir nicht ganz klar ist, dabei immer bedroht vom auf halb acht hängenden, mir gefährlich zugeneigten Regal, das aber nächste Woche schon endgültig rausgeflext werden soll. Es ist eine Zeit der Prüfungen und des Aufräumens und des Neuanfangs. Zähne, Toilettenpapier und Nahrungsmittel zusammen-, alles andere bitte auf Abstand halten. Bleiben Sie gesund!

MerzBow | von kid37 um 00:22h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 27. März 2020


Ein Blob namens Wilson



Um Vereinsamungsnachteilen während der Heimkontorarbeit zu entgehen, habe ich mich mit neugewonnenem Interesse anderen Lebewesen zugewandt. Da ist der durch eine Heißklebepistole zum Leben erweckte Oktopus (derzeit noch Quattropus), der nun in meinem Bad lebt und mit mir launiges Liedgut unter der Dusche absingt, andererseits aber ein manchmal irriterend hartnäckiges Bedürfnis nach philosophischen Gesprächen hat. Ich bringe ihm derzeit das Schachspielen bei.

Dieses andere Lebewesen kann dies vermutlich schon. Der Blob (Physarum polycephalum ), ein Schleimpilz, der sich auf der Suche nach Haferflocken mit verblüffender Effizienz durch Irrgärten bewegen und recht "bewußte" Ernährungsentscheidungen treffen kann (in beiden Bereichen ist er den meisten Menschen im Supermarkt voraus), lebt zum Glück nicht in meinem Bad. Dafür in meinem Kopf, denn dieses Dings regt, wie man so schön sagt, zum Nachdenken an. Eine Doku auf Arte erklärt den Superorganismus.

Sollte er wirklich, wie im TV-Beitrag beschrieben, dereinst wie in einem Jules-Verne-Roman die Reise ins All antreten, wird er die neue Laika sein. Ein scheinfüßiges Superwesen auf dem Weg, wo nie ein Mensch den Fuß hinsetzte. Während wir uns immer mehr einigeln, bedroht von unsichtbaren Gefahren wie sonst nur im 50er-Jahre-Trash-Scifi-Film, düst der Superschleim von Porridge ernährt in unendliche Weiten davon. Guten Flug, kleiner Blob!