Sonntag, 7. Oktober 2018


Fotografia della Motte



Sonntags sitze ich nach einer kleinen Runde zum Elektroschrottcontainer (anders als früher werfe ich da jetzt Zeug rein und hole nicht einfach nur was da raus, was man sicher noch gut verwenden könnte, wenn man es einfach nur ein wenig reparieren (ist sicher nicht viel dran) und in meiner kleinen Werkstatt modifizieren würde) im Easy chair, wie es weltmännisch heißt, und blättere durch die Wochenlektüre.

Etwas Neues, etwas Altes, etwas Blaues... Ich achte mit einer gewissen Akribie auf die richtigen Zusammenstellung dabei, denn Gestaltung macht auch vor den profansten Dingen im Alltag nicht Halt. Dahinter steckt die noch diffuse Idee, mich irgendwann einmal selbst recht kreativ auszudrücken zu wollen und einen Verlag für außergewöhnliche Fotobücher zu gründen. (Später, bitte keine Anfragen.)

In dieser Edition, so der Plan, werde ich vier Fotobücher (I - IV) veröffentlichen, mit exquisit ausgewählter, schwer verständlicher und noch schwerer aufzufindender Fetischfotografie, die ich - streng limitiert auf 237 Exemplare - an sehr alte, dafür aber sehr reiche Tokioter Fischgroßhändler verkaufen werde für 1500 2500 Euro das Stück. Die Aufmachung ist delikat: Einband aus gegerbten Mottenflügeln, die beim ersten Öffnen zerfallen - als Symbol für nachtbeflügelte Dekadenz und dem Ende von Allem. Wer sich jetzt noch fragte, wozu die Mottenexperimente in meinem geheimen Geheimlabor, der ahnt es jetzt und schweigt für immer.

Die Nachtfalterliteratur liegt eh im Argen. Bücher über Schmetterlinge gibt es in allen Farben des Regenbogens, aber über die in 50 unterschiedlichen Grautönen gefärbten (mein erster Verlegerwitz!) Kameraden der Nacht schweigt sich die Fotografie irgendwie aus. Bis es so weit ist, Dummys müssen gebaut, Gelder lukratiert werden, bleibe ich auf Käuferseite und unterstütze als Crowdfunder die Projekte anderer. Wie das neue Buch von Gilles Berquet Le Fétiche est une Grammaire, das ein bißchen Retrospektive bietet und einen Überblick über neuere Arbeiten, aber ganz wie Nachtfalter natürlich nicht jedermanns Sache ist. Die antiquarische, nicht übermäßig spektakulär aufgemachte Anthologie mit Zeichnungen von Franz von Bayros ist ein hübscher Rückgriff auf längst Vergangenes. Der Mann ist ja in Wien verstorben, wie überall nachzulesen ist, was ich irgendwie sehr angemessen finde in dieser Verbindung von Erotik und Tod und zwischendrin ein paar Girlanden. (Er selbst nannte es wohl, so entnehme ich der Wikipedia, "seine Verbannung". Oida. Aber offenbar war er eh ein bißchen weggetreten, mit Ansichten, mit denen man heute bei mir auch nicht punkten könnte.)

Dazu Kekse und Kaffee, etwas Herbstsonne und gepflegte Müdigkeit. Patti Smith zeigt heute bei Instagram ihre kleine Butze am Rockaway Beach. (Dazu gibt es hier ein hübsches Interview in der New York Times, das zeigt, daß ihr Artaud-Buch schon seit 2015 dort herumliegt. Ein wenig beruhigt mich das, setzt mich dieser Umstand doch in sehr gute Gesellschaft.)


 


Freitag, 5. Oktober 2018


When Mama Was Moth

When mama was moth,
I took bulb form
My body electric will writhe in vain

(Cocteau Twins, "When Mama Was Moth")




Manchmal, wenn ich abends in meinem Geheimlabor sitze und obskure Experimente an armen Seelen durchführe, hoffe ich, Antworten finden zu können. Warum Leute immer so weltumgreifend tolerant sein können, solange sie es nicht selbst betrifft. Warum Menschen nur das Beste wollen, solange sie es nur selbst betrifft. Warum Menschen manchmal nicht hinhören, finden, daß immer nur die anderen zu viel reden, warum immer nur eigene Probleme zählen, man für die anderen nicht verantwortlich ist.

Man kann den Untersuchungsobjekten allerdings mit den gewagtesten Instrumenten zu Leibe rücken, peinliche Befragungen durchführen, die Stimme erheben. Wie tot, schweigen sie still. Sie schweigen still, wie tot. Wenn einer sagt, "Mach mal Herbst!" welke ich ein, wie ein abgefallenes Blatt, stelle mich starr, so daß man meine Knochen knacken hört, will einer mich bewegen.

Mutter schickt ein Paket mit Schokolade. Tiere kauern wie leblos in den Wäldern. Pilze zittern, in den Körben der Jäger liegt kein Kuchen und kein Wein. So sieht es aus, und alles aus den Fugen.

>>> Geräusch des Tages: Cocteau Twins, When Mama Was Moth


 


Sonntag, 30. September 2018


HackeDePicciotto



Herr Hacke war ja schon immer da, Frau Picciotto lernte ich zunächst über ihre Malerei so um 2006 herum in Berlin kennen. Aus Wolfgang Müllers unverzichtbarem Almanach Subkultur Westberlin 1979-1989 aber lernen wir: "Zu Danielles Geburtstag wollte der total verliebte Dr. Motte ihr eine Art öffentliche Parade oder Aufzug schenken. Es wäre jedoch unbezahlbar gewesen, den ganzen Kurfürstendamm absperren zu lassen. Deshalb meldete Dr. Motte das Ganze als politische Demonstration an." (S. 235)

Und deshalb hieß das Love Parade. Alexander Hacke (aka von Borsig), einigen von den Einstürzenden Neubauten her bekannt, wußte also, worauf er sich einließ, als er de Picciotto 2006 heiratete. Seither nämlich ziehen die beiden umher, also reisen um die Welt, in *romantische Klaviermusik ertönt* Liebe vereint und musikalisch aufgeschlossen. Eine Art Love Parade eben. Dazu haben sie (angeblich) "alle ihre Sachen abgestoßen" (sprich: eingelagert, die werden ja nicht doof sein), der Freiheit wegen und des leichten Gepäcks.

Angemessen leicht bepackt nahmen denn HackeDePicciotto am Samstag den Bus, um in Hamburg vor Publikum (53 Personen) aus den letzten Alben vorzutragen. Übrigens sehr ohrenfreundlich (geraucht wurde auch nicht, und angenehm kurz war's!), also leise. (Vor allem, wenn man die Einstürzenden Neubauten mal live gehört hat. Häh?!?) Hamburgs wichtigste Musiker (also ich und der andere) standen derweil ganz hinten (oder saßen, weil geschwächelt) im Westwerk, ganz entspannt eben.



Reduzierte Hausmusik neuerer Art hören wir da, düsterer angelegt als die Vorgänger, was vor allem an Herrn Hackes feedbackondulierter E-Gitarre liegt, mit der er (unterstützt von Loop-Effekten, was ihm Gelegenheit gibt, hier mal zu Trommeln oder dort eine kleine Reiseespressomaschine... na ja, das ist jetzt erfunden) quer zu Frau de Picciottos Geigen- und Drehleierspiel dazwischensägt. (Ich erinnere mich an einen Auftritt vor ziemlich genau zwanzig Jahren, wo er auf diese Weise die Singende Säge seiner damaligen Gattin Fr. Becker im Zaum hielt.) Das schwankt (die beiden sind für den Abend in Rot gekleidet, sie: Vintage, er: Stylists own) zwischen Baghwan-Pärchen in der Fußgängerzone (hier will wohl einer frech werden!) und angenehm schunkelndem Kaputt-Chanson Berliner Schule. Besser als erwartet, vor allem gegen Ende, als die Betriebstemperatur so ein bißchen angeschnuckelt war.

Draußen war es schon genauso dunkel wie die Musik, also angenehm. Singende Pärchen unter den Laternen.

>>> Geräusch des Tages: HackeDePicciotto, All Are Welcome

Radau | von kid37 um 19:19h | 22 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 26. September 2018


Sweet Ruin



Große Ereignisse brauchen ja meist eine bestimmte Zeit, ehe sie verarbeitet sind, sich ins Unbewußte eingenistet haben und als Erinnerungssplitter und Resonanzböden zur Verfügung stehen. Beim wöchentlichen Milchpackungs-Yenga in der Fabrikkantine rutschen mir mittlerweile Skulpturen wie diese Milchskyline heraus, die eine fast fotografische Ähnlichkeit zu der einer gewissen großen Stadt in den USA aufweist. Sogar in 3D. Da habe ich mich selbst ertappt!



Die Domino-Zuckerfabrik in Williamsburg hatte es mir ja besonders angetan. Bis 2004 galt sie als größte der Welt (Make Sugar great again!), seither stand sie so rum und verfiel zu einer Filmkulisse. Zu schade, daß sie nun "entwickelt" wird, man ahnt schon das Ergebnis. Da sich die Fassade der alten Fabrik nicht so leicht mit Milchtüten nachbilden läßt, habe ich mir nun ein Fotobuch gekauft.

Fotograf Paul Raphaelson hat das gemacht und für sein Kickstarter-Projekt dazu einen kleinen Film. Man sieht schöne Bildstrecken von den alten Innenräumen, Schaltern und Kontrollräumen, Silos und Förderanlagen - und alles, das ist das zuckergestärkte Sahnehäubchen, ganz ohne übertrieben kitschige HDR-Effekte. (Hier ein Artikel aus dem Brooklyn Daily Eagle.)

Manchmal wenn ich traurig bin, weil ich keinen candy-bar abbekommen habe, schaue ich mir die Bilder der Zuckerfabrik an, Heimat vielleicht eines schaurigen Willy Wonka, der mich mit grellbuntgefärbten Bonbons in den Wahnsinn treiben will.

(Paul Raphaelson: Brooklyn's Sweet Ruin. New York: Schiffer Publishing, 2014.)


 


Montag, 17. September 2018


Merz/Bow #56



Nach dem Urlaub ist vor dem Urlaub, und wer hier beim Lesen meines zehnteiligen Diaabends (oder auch längsten Besprechung von PJ Harveys Stories of the City, Stories of the Sea) schon ermüdet war, kann meine eigene Erschöpfung vielleicht nachvollziehen. Und meinen Wunsch, mich von psychischen, physischen und emotionalen Anstrengungen einfach nur in Rückenlage zu erholen - oder schnell noch eine andere Stadt zu besuchen.

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Doch von wegen, "first we take Manhattan, then we take Berlin". Da wurde wohl nichts draus. Erst konnte ich kein Bett nach meinem Geschmack finden, dann vergaß die Bahn, mir rechtzeitig eine neue Bahncard zu schicken. Und dann war das Wetter so merkürdig... wechselhaft. Hü, hott, wie ein unentschlossenes Pferd. Da soll man noch mitkommen. Vielleicht kann man eben auch nur so und so viele große Städte im Jahr sehen. Ich teile es mir ein, geduldig.

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Stattdessen habe ich neue Bücher erworben, etwas über Dead Girls gelesen, die Miniserie Mildred Pierce mit Kate Winslet mit wirklich nur ein paar unerheblichen Jahren Verspätung nachgeholt und mich mit den zauberhaft illustrierten Werken The Sick Rose und Crucial Interventions akribisch so weit medizinhistorisch fortgebildet, daß ich einfach mal mein frischgeschnittenes Herz in die Hand genommen und mich - denn just gelernt, ist alles gewußt - gleich um einen Job beworben habe. Immer weitermachen! Be of use!

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Das belgische Pärchen, das unter dem Namen Mothmeister firmiert, geistert schon länger durch Modestrecken, Magazine und Marginalien. Die Farben sind mir zwar meist zu weit aufgedreht, das Buch aber besser als erwartet. Begleitet werden die Fotos von blogtextartigen Erläuterungen, Notizen und Tagebucheinträgen, die angenehm zu lesen sind und nicht so akademisch steif daherkommen wie in vielen solcher Publikationen. Spannend sind Mothmeister ja besonders dann, wenn sie mit anderen Künstlern zusammenarbeiten, die ihnen obskure Masken, taxidermische Präparate oder herzige Tierpuppen zur Verfügung stellen. Vor allem die von mir sehr geschätzte Annie Montgomery.

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Zurück zur Musik. Max Sharam hat das Thema Mermaids, das hier offenbar in der Luft liegt und von Martin Badway sehr entspannt besungen wird, ebenfalls aufgegriffen und fürs Video ganz berückend animiert. Das berührt den inneren Oktopus in mir.

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Apropos Musikerinnen. Nachdem die in meiner Küche ab und an Süppchen kochen (also einmal), möchte ich diese bezaubernde Idee zu einem regelmäßigen Konzept für Funk und Fernsehen ausarbeiten. Unbedingt auf der Liste steht die Australierin Stella Mozgawa, die Schlagzeugerin von Warpaint, deren Geburtstagskonzert ich mal gesehen habe. Ich wette zwei Paar Drumsticks, daß die super Suppe kann. Und dann wirklich gerne Viv Albertine, die, jetzt schauen wir uns aber mit erstaunten Augen an, bekanntlich ebenfalls ursprünglich aus Australien stammt. Wer Spuren lesen kann, wird einen Traumpfad darin erkennen. Wer einen Löffel hat, wird satt.

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Ganz schön frauenlastig dieses Mal. Nicht, daß ich noch zum Bewunderer werde und mich hinter einer Plane verstecken muß.

MerzBow | von kid37 um 20:37h | 24 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 13. September 2018


NYC #10 - Kamikaze

How could that happen?
How could that happen again?
Where the fuck was I looking
When all his horses came in?

(P. J. Harvey, "Kamikaze")




Was man manchmal braucht, wenn man meint, keine zehn Pferde brächten einen irgendwohin? Weil es nicht geht, weil man es nicht sieht, weil man sich nicht so fühlt? Na, jemanden, der mit elf Pferden zieht! Nach zwei Wochen im Strangeland sind meine Backen zwar nicht mehr ganz so aufgeblasen, ich insgesamt aber wieder ausbalanciert. Zeit, zum Abschluß mal unter die Teppichkanten zu schauen und die Wollmäuse der Stadt zu untersuchen.



Manhattan ist so das eine, aber ich nehme wohl mehr aus den anderen Stadtteilen mit. Auf dem Weg nach Dumbo an schmucken Brownstones vorbei kann man durch die Willowstreet, wo Truman Capote sein Frühstück bei Tiffany geschrieben hat. Auch er hat Manhattan von Brooklyn aus betrachtet - und diese Perspektive liegt mir gerade ebenfalls mehr. Der Flohmarkt unter Brooklyn Bridge ist tatsächlich ganz nett, Taliah Lempert bietet hier ihre Bicycle Paintings an. Ein kleiner Vogel, so viel Zutraulichkeit ist dann doch, bietet mir bei Tisch seine Freundschaft an, als ich mittags vor einem Mexikaner beim Bohnengericht sitze.



In einer anderen Ecke wird malocht. Zementfabriken, Schrottplätze, derangierte Hallen. Ein Kanal schillert in den trüben Regenbogenfarben von vielfältigen Industrieabwässern, ein Entenpaar, das sich die Innenstadt nicht leisten konnte, zieht hier seine klebrigen Kreise. Touristen sieht man hier nicht, nur müde Gesichter aus einem anderen Alltag. Kein Schnickschnack, bis dann am Straßenrand wieder die ersten Hipsterkaffeeröster auftauchen.



Irgendwo an einem Zaun hat jemand ein Batsignal rausgehängt. Ich habe mein Cape nicht dabei, bin ja quasi nackt im fremden Land, verstehe nun aber, warum die New Yorker berühmt sind für nie versiegende Hofffnung und ihr Durchhaltevermögen.



Mit der U-Bahn rattere ich weiter nach Williamsburg, was sich sicherlich entwickelt hat, aber so schrecklich durchgentrifiziert nun auch nicht daherkommt. Ein hochgejazztes häßliches Entlein, aber was weiß ich schon. Fahndungsplakate, Angebote für Schlagzeugstunden hängen an Metallpfosten, zerbeulte Autos am Straßenrand, Filmkulissen sind das nicht. Hier gibt es ein öffentliches Klo, das ich nicht empfehlen möchte. Geht einfach nicht rein, bewahrt euch den Glauben, die nie versiegende Hofffnung und euer Durchhaltevermögen.



Sollte die Show irgendwann doch nicht weitergehen, ist auch hier für alles gesorgt. Abends kommt hier sogar Leben in die Bude, ringsherum gehen Lichter an, werden Restaurants und Bars geöffnet und verrauchte Klamotten gelüftet. An einem Abend spielt hier Lee Ranaldo, aber da bin ich müde und vom Tag erschlagen.



Unten am Wasser wartet eine schöne Überraschung auf den Unvorbereiteten. "Brooklyn's sweet ruin" wird sie genannt, die alte Domino Zuckerraffinerie. Entwickler haben schon ihre Glasaufbauträume eingezeichnet, zuvor würde ich dort gerne noch als Kid Murnau einen Film drehen. Von einem Vampir, der mit einem Flugzeug über den Atlantik reist, um in New York eine Freundin zu besuchen, die eine Wohnung voller Musikinstrumente hat. Gibt es bestimmt noch nicht, und die alte heruntergekommene Fabrik wäre ein prima Schauplatz.



Abends, es ist immer noch unglaublich warm, versammeln sich Brautpaare, Touristen, Einheimische entspannt am Wasser, sitzen an den Brücken, warten auf den Sonnenuntergang und schauen hinüber. Auf die Skyline, die gezackte, totfotografierte New-York-Visage, die erst überstrahlt, bald als schwarze, später dann hell illuminierte Silhouette gegenüberliegt. Ich bin erschlagen, erschöpft, aber doch zufrieden und irgendwie stolz. Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht?



Todesverachtend, mit sanfter Gewalt gezwungen, acht Meilen hoch über der Erde, dann aber auch Augen auf und viel zu Fuß erlaufen, krachend gegen eine Mauer gelaufen, aber Freunde gewonnen. Ach ja, und Twitter als Reisebegleiter war übrigens super.

>>> Geräusch des Tages: P. J. Harvey, Kamikaze


 


Dienstag, 4. September 2018


NYC #9 - Horses In My Dreams

Horses in my dreams
Like waves, like the sea
On the tracks of a train
Set myself free again

(P. J. Harvey, "Horses in My Dreams")




Menschen tauchen auf, Menschen tauchen unter. Manchmal soll man eben nur den Pferden trauen. Frei dem eigenen Treiben nachgehen. Ebbe und Flut. Vor ein paar Jahren habe ich wohlgemut und einer erkundenden Wissenschaft verpflichtet das Morbid Anatomy Museum unterstützt und auch das Buch von Joanna Ebenstein, einer der Gründerinnen. Kollegen dort vorbeigeschickt, wenn sie in der Nähe waren. Leider mußte das Museum als feststehendes Gebäude schließen. Dinge tauchen auf, Dinge tauchen unter. Und ploppen dann unvermutet just in diesen Wochen wieder auf als Pop-up-Museum auf dem Green Wood Cemetery in Brooklyn.



Als Hamburger ist man mit dem als ausufernde Parkanlage ausgemalten Ohlsdorfer Friedhof recht verwöhnt, aber der Green Wood hat ganz eigene Reize. Einen großen Stilmischmasch zum Beispiel. Von Freimaurerpyramiden über Katakomben bis hin zu der mit Ledersesseln im modernen Lounge-Stil gehaltenen Trauerhalle der italienischen Community (Sterben mit Stil) finden sich Grabstellen vieler Art. Dafür fehlen die in Europa so beliebten Engelfiguren, halbbedeckten Trauerdamen und kindlichen Grabkranzhalter.



So wie ich die Mermaid Parade auf dem Hinweg verpaßt habe, nicht aber die Mermaids, so verpasse ich die Gartenparty zum Abschluß der Sommerexkursion, nicht aber eine handvoll hitzegeplagter, schwarzgekleideter Vampirbräute und -schwestern. Denn immerhin schaffe ich es noch zu einem melancholischen Sommerwochenende, an dem man sich dort in flüsternder Runde Tarotkarten legen lassen konnte, in der im alten Torhaus aufgebauten Bibliothek (anything death) stöbern und Exponate und das akribisch nachgestaltete Modell bewundern, das in allen Details (bis hin zu den Toiletten) das alte Gebäude abbildet.



Leider habe ich meine Wasserflasche vergessen, was sich nach einigen Stunden bei fast 30 Grad bemerkbar macht. Ich esse einen letzten Apfel auf ein paar steinernen Stufen und rufe, so wie ihr es auch getan hättet, mir die die tröstenden Zeilen aus Wordsworths "Lines Composed a Few Miles above Tintern Abbey" ins Gedächtnis, die da sagen: "The mountain, and the deep and gloomy wood/Their colours and their forms, were then to me/An appetite". Oder ein Durst. Vielleicht, so denke ich naturverloren, kann ich hier auch übernachten, im kühlen Schatten eines der zahlreichen schmucken Letztzeitgebäude, und den ersten Tau lecken, der von Zedern fallen wird.



So poetisch kann man als frivoler junger - oder auch vertrockenter älterer - Mann auf Friedhöfen werden! Antennen recken ihre Spitzen in höhere Dimensionen, Obelisken empfangen Botschaften, ich kritzle obskure Zeichen in mein Notizbuch und überlege, während ich eine Silberkugel lutsche, wo auf dem Hinweg zuletzt ein Büdchen stand. Führt geweihtes Wasser mit euch, wenn ihr an Grüften und Katakomben entlangspaziert! Nun weiß ich auch, warum dieser Rat im Reiseführer aus dem Van-Helsing-Verlag stand.



Dämmerung setzt nämlich ein. Der Friedhof wird bald schließen, noch aber liegen einige gewundene Wege vor mir, die weder der nicht nach Norden ausgerichtete Faltplan noch mein mobiles Telekommunikationsgerät verlaufsfrei abbilden. Eine zeitlang sah ich in wechselweiter Nähe oder Ferne eine junge Frau mit Kamera herumstrolchen. Die ist nun weg, und auch sonst niemand mehr zu sehen. Die Sonne senkt sich. Viele der hier Begrabenen, so lese ich auf den Grabsteinen, sind Holländer. Venlo? Venlo? rufe ich leise, so wie früher, wenn man über die Grenze fuhr.



Wind zischelt durch die Zweige. Blätter rauschen, die Vögel sind längst schon still. Meine Zunge ist am Gaumen festgeklebt. Ich weiß aber, und das ist meine letzte Hoffnung, daß ich nur mein vollgeschwitztes Hemd in der hohlen Hand auswringen müßte für eine letzte Notration. Denn wo so viel Tod ist, möchte ich heute nicht sterben, nicht auf fremder Erde, Mama.



Im Delir wanke ich dem Ausgang zu. Hier gibt es Wasser. Junge Paare, die auf Wiesen sitzen und mich anstarren, wie eine Erscheinung. Wie einen Ghoul! einen Wermann! einen Zombie! Ich saufe eine Pferdetränke leer, dort, wo die schwarzen Kutschen schon im Halbdunkel auf mich warten.

>>> Geräusch des Tages: P. J. Harvey, Horses In My Dreams