Freitag, 17. März 2017
Am von milder Luft und etwas Sonne umspielten Wochenende gab es im nahen Park ein sogenanntes Naturschauspiel zu beobachten. Als sich dort nämlich Parkpunks und Kinderwagenschieber, schachspielende Rentner und allerhand bummelndes Volk mit Ah und Oh und Fotografiergerät um ein kleines Krokusfeld versammelten, das über Nacht seine lilafarbenen Hälse aus dem kargen Winterboden gereckt hatte. Na, das war ein großes Hallo, Selfies wurden gemacht und vereinzelt auch gelacht, Menschen zu Dokumentationszwecken für ein Foto erst in die eine, dann in die andere Richtung dirigiert, während kleine Kinder vorsichtig in die Lücken zwischen die Blumen stapften.
Es gibt, wie jeder weiß, nur zwei Dinge, mit denen man Menschen unweigerlich jedes Mal aufs neue verblüffen kann. Das eine ist, sich mit gewinnendem Lächeln auf eine Bühne zu stellen und von heiter beschwingter Musik begleitet langsam und ohne hinzuschauen ein vielfarbiges Endlostaschentuch aus dem Ärmel zu ziehen. Das andere ist, nun, eben ein aufploppendes Krokusfeld, das vom nahen Frühling kündet.
Die Menschen, bis auf zwei oder auch drei, haben gute Laune. Alle passen besser aufeinander auf. "Drei Tage hintereinander Mohnkuchen?" tadelt mich die Bäckerin und weist mich auf zwei andere Sorten zur Auswahl hin. Ich erkenne ihre gute Absicht und wähle was mit Apfel, es ist mittlerweile schon ein Spiel geworden. Hat sie frei, flüstern mir ihre Kollegen und Kolleginnen zu, es sei noch Mohn in der Kühlung, sie könnten gerne was holen, die Gelegenheit sei günstig, die Chefin nicht da. Ich bleibe aber brav, denn dieses Jahr will sie heiraten, habe ich erfahren. Vielleicht lädt sie mich ein.
Aber das ist chit chat.
Sonntag, 5. März 2017
Was passiert, wenn man sich den Rücken nicht regelmäßig schrubbt, sieht man hier. Man wird zu Zaratan, die Schildkröte, die die Erde trägt. Eine Rückenbürste hingegen ist wie einen Menschen kennenlernen: Erst ist sie kratzig, danach und je öfter man sich miteinander beschäftigt, wird sie ganz weich und anschmiegsam. Obwohl, bei Menschen ist es, glaube ich, anders herum.
Als ich gestern im Ankleidezimer stand, um mich für die Nacht fertig zu machen, riß mein Lieblingspullover beim Ausziehen am Ärmel ein, kurz hinter dem unterem Saum. Er ist offenbar mürbe geworden über die Jahre, da ich ihn trug. So ähnlich also sind wir uns geworden, wie Herr und Hund, ein brüchiges Paar. Es ist, wie bei den Menschen, alles so vergänglich geworden.
Die Musik von Steve Reich macht mich ganz ruhig. Endlose Repetitionen, Schleifen und Variationen, alles sehr präzise, strukturiert. Es gibt eine schöne Ausgabe drei seiner Alben, mit einem Booklet mit Fotografien von Barbara Klemm, die dort Musikarbeiter bei der Arbeit zeigt. Dabei entspannt durch Zeitschriften blättern oder Politur auf Möbel auftragen, die Blumen gießen. Stille halten.
Lange kann man die Sonntagsnachmittage nicht mehr unschuldig daheim verbringen. Die Sonne drängt hervor, es regnet nur noch nachts, die Vögel haben schon Konzertanfälle. Man klebt dann wie ein Gecko an der Scheibe und wird das Haus verlassen müssen, hinaus zu anderen Menschen, von denen nicht alle eine Rückenbürste benutzt haben werden.
Zum Glück kann man jetzt schon die neue Herbstmode vorabbetrachten. Herr Yamamoto hat wie ein Steve Reich der Mode in vielen Variationen des Themas "Schwarz ist das neue Schwarz" etwas zusammengestellt fürs augenberuhigte Friedhofspicknick. Wo Pullover reißen, ist ja auch Platz für Neues. Noch heißt es, sechs Monate warten. Aber dann kommt wieder die schöne Zeit.
>>> Geräusch des Tages: Steve Reich, Music for 18 Musicians
Sonntag, 26. Februar 2017
Das Wetter verzaubert. So als würde man sich ausgehungert nackt in eine klamme alte Pferdedecke hüllen und selbst auf dem Friedhof aussetzen. Renitent bleibe ich aber trotz dieser Verlockung daheim und miste Mist aus. Nicht auszudenken, ich wäre Sammler und hätte richtig Zeugs. So habe ich aber genug Zeugs, und da muß man auch mal sagen, Zeugs, war schön, die Zeit, die wir hatten, das ein oder andere Versprechen lag ich in euch, Collagen, Assemblagen, Tischdekoration hättet ihr werden können, siehet, all dies lag in euch. Aber euren größten Feind, den Wandel, den konntet ihr nicht niederzwingen.
Ich höre ein bißchen Besinnliches von Max Richter, während ich ein, zwei, drei Mülltüten mit alten Papieren, für später beiseite gelegte Zeitungsartikel und Altkram fülle. Apropos Altkram: Neulich war ich ein bißchen angezickt, weil ich bei einem Hamburger Secondhand-Händler auf eBay die Jacke eines ganz angesagten Londoner Labels entdeckt habe, die ich selber ein paar Wochen zuvor erst zur Wohlfahrt gebracht hatte. Selbes Modell, und zwingender noch, derselbe lose Knopf unten. Ein sehr hübsches, fast neues Teil, ganz toller Stoff, aber von einem Designer so geschnitten, daß die Knopfleiste wie die Y-Naht eines lustlosen Pathologen nach außen sprang, sobald ein durchtrainierter Mann wie ich die trug. Das geht in meinem Alter leider gar nicht mehr, das fällt auf einen selbst zurück, so als sei ich wahllos oder achtlos oder blind.
Jedenfalls dachte ich noch, schade, schade, aber nutzt ja nichts. Vielleicht kannst du jemandem eine Freude machen, der sich so ein Modeteil nicht leisten kann oder dem einfach kalt ist und der gern mal über den tollen Stoff streichen möchte. Und fast wollte ich noch den losen Knopf festnähen, damit der nächste Besitzer gleich loslegen kann. So mit Freude. Und die Damen von der Wohlfahrtsstelle waren auch spontan entzückt und streichelten den tollen Stoff und murmelten, so eine schöne Jacke... und jetzt könnte ich sie für teures Geld beim eBay-Höker zurückkaufen, vielleicht um endlich diesen Knopf anzunähen. Und wieder zur Wohlfahrt zu bringen. Um es dem Höker heimzuzahlen!
Ehrlich bin ich ein bißchen enttäuscht. Die Idee, wie es oft im Leben so ist, war eine andere. Für Ideen kann sich auch der Chef begeistern. Mehr davon und ruhig ab vom vielbefahrenen Wege. Ich hebe an, von der Sammlung Virchow zu berichten, merke aber an der Höhe der Augenbrauen gegenüber, ganz so war es nun auch nicht gemeint. Wir bewegen uns also im Nebel des Wünschens und Begehrens, dabei finde ich Begehrungslosigkeit auch mal ganz erholsam. Immer dieses Begehren all überall. Hier will einer was, da will eine was. Und man selber mittendrin. Die Wasserwerke wollen den Stand der Wasseruhr, meine Schuhe wollen neue Sohlen, und alle wollen Liebe. Als käme nicht das Unglück in die Welt, wie dieses Zitat von Pascal besagt, daß keiner ruhig im Zimmer zu sitzen vermag. Meinetwegen in eine klamme alte Wolldecke gehüllt.
>>> Geräusch des Tages: Max Richter, From Sleep
Sonntag, 19. Februar 2017
In meinem Debütroman Die Tatzen eines sehr großen Tieres schrieb ich bekanntlich über die Bedeutung des Mysteriums im Alltag. Wie erstaunt war ich, meine eigenen Gedanken in The Secret History of Twin Peaks wiederzufinden, in dem ich heute ein wenig blätterte (dazu: ein verdammt guter Kaffee, leider keinen Kirschkuchen). Da heißt es nämlich: "A wise old man once told me that mystery is the most essential ingredient of life, for the following reason: mystery creates wonder, which leads to curiosity, which in turn provides the ground for our desire to understand who and what we truly are."
Ich las dies mit geheimen Erstaunen, während ich Musik aus meinen neuen Lautsprechern wie neu hörte. Erstmals in meinem akustisch weitgehend schlicht geführten Leben habe ich mir letzten Jahr sogenannte "Lautsprecherboxen" gekauft, also "was Vernünftiges" im für Enthusiasten immer noch unterem Segment. Aber: eine Offenbarung für die Ohren bereits jetzt, schälen sich doch nun plötzlich aus meinen Musikträgern Mysterienklänge heraus, die bislang noch ungehört waren. Auch so ein Wunder im Alltag. Ich könnte nun also im frisch gestärkten weißen und durch silberne Manschettenknöpfe beschlossenem Hemd dasitzen, ein Glas mit Hochprozentigem (gemeint ist natürlich Sauerkrautsaft oder ähnlich gesundes) in der Hand und dufte-dezentem Hifi-Sound lauschen.
Ich tat es für die Wirtschaft, denn das letzte Hemd hat keine Taschen. Die Woche über habe ich überlegt, was eigentlich auf meinem Grabstein stehen soll, denn über alles denkt man nach, nur nie über letzte Dinge. "Da wäre mehr drin gewesen" fand ich am Ende recht passend. Das klingt nach Bilanz, ohne zu pathetisch zu wirken. "Wohltäter", "Er liebte die Menschen" oder "Auch schon tot" hatte ich verworfen. Dazu müßte man mich ein bißchen kennen und vor allem einen Sinn für Humor haben. "Da wäre mehr drin gewesen" hingegen eckt nicht an und beklatscht nicht nur den Stifter, sondern ist auch Moral und Mahnung für die an meinem Grab Vorüberschreitenden. Ist das also auch erledigt.
In unseren nostalgischen Zeiten bin ich gerührt über das kolorierte Leben, wie das früher einmal war. Jacques Henri Lartigue war ja Autodidakt, überraschte aber mit einem reichhaltigen, sehr hübschen Werk von Alltags-, Motorrennen- und Modefotos, die meist in Schwarzweiß gehalten waren. Weniger bekannt sind seine Farbfotos, die von einem entspannten Leben berichten, wie es früher jeder hatte. Warum meine Blumen da den Kopf hängen lassen, weiß ich nicht. Aus Österreich erreichte mich der Rat, die mal über Nacht an der Decke aushängen zu lassen. So eine Art Blumen-Bondage vielleicht. Für die Gelenke ist das ja auch gut, was man deshalb weiß, weil man noch nie eine Fledermaus mit Rückenproblemen entdeckt hat.
Die Kollegin hat meine Schuhe gelobt.
Donnerstag, 2. Februar 2017
Sie sagen: Ach weh! Ach weh! Ach weh!
(Pieter Bruegel der Ältere:
"Die Jäger im Schnee". 1565)
Liebe ist, so ein altes chinesisches Sprichwort, wie Luftpolsterfolie. Stellst du Altlasten drauf, macht es "plopp", "plopp" und "plopp". Bis die Luft raus ist. Moderne Museumsbewohner wie ich wissen, bei Altlasten machst du innere Transformation, machst du voodoomagnetisch aufgeladene Fetische, einen inneren Flohmarkt - und dann ausgekehrt das Zeug in die herzhygienische Kunstanstalt.
Unser aller Lieblingsgalerie Feinkunst Krüger verwandelten im Januar die Rasselbande Nills Knott, Martin Nill, Gideon Pirx, Patrick Sellmann und Daniel van Eendenburg in die titelgebende Weltausstellung für all jene die 1889 die in Paris verpaßt haben.
Dorstselbst eine Pyramide voller Geheimnisse, eine Wohnzimmerkollektion voller magischer Ritualgegenstände, Skulpturen aus Erinnerung, Dioramen voller Ungeheuerlichkeiten. Bilder mit Fernblick, Tableaus mit Weitsicht, emotionsgeladene Objekte, greifbar und unbegreiflich. Unglaubliche Funde von finsteren Reisen, Vergangenheitsklumpert, neu zusammengefügte Fragmente für einen Fernglasblick in die Zukunft. Einen besseren Start ins neue Jahr hätte man nicht erfinden können. Und hier war alles wahr, und nur dort mußte man gewesen sein. Denn was man im Zeitalter des endlos reproduzierenden Internets nicht spüren kann, ist die Aura der Artefakte.
Weltausstellung. Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 28.1.2017
Donnerstag, 26. Januar 2017
Wenn man sich nach langer Zeit wiedersieht, sollte man gut vorbereitet sein. Die einen werden sagen, das sei aber "so 90er". Als wäre das nicht selbst bereits ein Spruch aus dem letzten Jahrzehnt. Viele andere werden sich kaum noch an was erinnern. Wirklich, heißt es dann. So ist das damals gewesen? Schnell hagelt es hitzige "Niemals!", gefolgt von kruden Beweiskaskaden, die sich in immer wilder verdrehte Behauptungen ondulieren, gezackte Wellen wie der gestreifte Teppich im Red Room. Am Ende eine unversöhnliche Gegenüberstellung von Unterstellungen, Unterlassungen, versehentlich verratene Geheimnisse und halsschlagaderpochende Trotzköpfigkeiten. Während man selber zaghaft denkt: "Aber - I want to believe!"
"Wir sehen uns in 25 Jahren", flüsterte der Geist von Laura Palmer einst im Traum Dale Cooper zu. 25 Jahre sind eine lange Zeit. Welche Liebe hält schon so lange? Na, natürlich die zur schönsten Wasserleiche der TV-Geschichte. Die zum verdammt guten Kaffee, sprechenden Holzscheiten und sehr leisen Gardinenstangen. Zu Taschendiktiergeräten und Kirschkuchen. Sentimentaler Mist! brüllen manche. Gar nicht! antworte ich ruhig und entschieden und auf diese Weise jegliche Diskussion sachlich und überzeugend und zugleich tolerant beendend.
Ich bin eben vorbereitet. Ich lese die geheime Geschichte von Twin Peaks und halte mich bereit für den Mai. Wo die einen gewohnheitsmäßig und beleghaft ihre Steuererklärung machen, andere aber eintauchen werden in die dritte Staffel über die kleine Stadt, die wie ein müde gedachtes Gehirn in jedem Winkel ein dunkles Geheimnis verbirgt.
(Mark Frost. The Secret History of Twin Peaks. New York: Flatiron Books, 2016.)
Dienstag, 17. Januar 2017
Manchmal denke ich, mein Bart ist mein einziger Freund. Das ist natürlich Quatsch. Die Kunst ist mein einziger Freund und wurde sträflich vernachlässigt. So habe ich überhaupt noch gar nicht verinnerlicht, daß dieses Jahr wieder eine documenta ist. Die letzte mußte ich ja als einziger hier im Geläuf verpassen, denn da hatte ich ein Theaterengagement als ungnädiger Kranker. Aber nun habe ich mir ein Ziel gesetzt.
Auch im letzten Jahr habe ich einiges an Kunst verpaßt. So ärgere ich mich, daß ich in Wien nicht zu Berlinde de Bruyckere gegangen bin. Da habe ich mich selbst verzaudert. Dabei hat es hier so ein berührendes, sanftes Video dazu gegeben. Ich finde diese Frau jedenfalls sehr beeindruckend, sie hat eine angenehm ruhige Art. Später habe ich in Düsseldorf die sicherlich ebenfalls sehr beeindruckende Jean-Tinguely-Ausstellung mit den großen Maschinen verpaßt. Aber da hatte ich immerhin zum tröstenden Ausgleich und kleine Entschuldigung eine Lebensmittelvergiftung. So einen großen Wurf hat man ja auch nicht jeden Tag. Und im Grunde will so eine peristaltische Entäußerung ja mit einem performativen künstlerischen Akt verglichen sein. Ich denke, Marina Abramović hat bei ihren Aktionen auch nie mehr gelitten.
Versöhnlicher wurde es zum Jahresausklang. Nachdem ich die Eröffnung - um in der quasi erfolgserprobten Serie zu bleiben - ebenfalls verpaßt hatte, habe ich dann immerhin noch die Finissage von der von Herrn Krüger und Heiko Müller wieder ganz wunderbar gestalteten Jahresshow Don't Wake Daddy sehen können. Zwar gab es schon einige Leerstellen an der Wand, bei denen meine überschwengliche Imagination die Lücken füllen mußte. Aber schließlich sollte die Kunst auch hier und da unterm Weihnachtsbaum liegen, da habe ich Verständis. Bei der letztjährigen Ausgabe, der elften bereits, zeigten unter anderem wieder Veteranen wie Ryan Heshka (von dem ich jetzt ein kleines Comic-Abum besitze), Alex Diamond, Femke Hiemstra und Fred Stonehouse, Moki und natürlich Heiko Müller (meist) neue Werke. Ein großer Spaß, und mit großer gesundheitlicher Wirkung: Mir ging es gleich viel besser.
So soll und muß und kann es nicht anders weitergehen dieses Jahr. Ich darf mich nicht selbst beirren. Und schon gar nicht beirren lassen. Es fährt ein Zug zur Wilhelmshöhe.
Don't Wake Daddy XI. Feinkunst Krüger, Hamburg. 6. bis 23.12.2016