Sonntag, 20. November 2016


Mutmaßungen über Schuhe



Manchmal, wenn ich unruhig bin, denke ich über Schuhe nach. Schuhe beruhigen mich, deshalb kaufe ich immer wieder welche. Früher hieß es, Verkäufer und schöne Frauen achten bei einem Kunden oder einem Mann (jetzt nicht verwechseln hier) immer zuerst auf die Schuhe. Danach gibt man sich die Hand oder eben auch nicht. Ich weiß nicht, ob das bei Verkäufern noch so ist, viele von denen sind ja auch nur Tagesgäste in dem Beruf oder sitzen ihren Kunden gleich eh nur noch im Internet.

Schuhe sind auch Träger von Erinnerungen. Wo man schon überall mit welchem Paar herumgelaufen ist. Und wie das Wetter war. Wie mal welche unterwegs kaputtgegangen sind. Was zum Nikolaus mal drinnen war. Wie man mal ein Tor mit ihnen geschossen hat. Wie man mal jemanden welche auszog.

Leider sind als vernünftig zu betrachtende Schuhe teuer. Wer also mit dem Kauf von guten Schuhen seine Schmerzen stillen will, stößt sehr bald an eine weitere Schmerzgrenze. Als Palliativtherapie sind Schuhe deshalb nur begrenzt empfehlenswert. Denn wie bei anderen Drogen auch ist mehr bald mehr, ein Paar folgt dem nächsten, so wie sich auch Tättowierungen erst den einen Arm hoch-, dann über den Rücken und den anderen Arm wieder herunterschlängeln. Man kommt ja nie zu einem Ende, und das Ende muß man sich wie immer auch erstmal leisten können.

Da Beschaffungskriminalität als in der Öffentlichkeit stehender Mann für mich keine Option ist, muß ich arbeiten gehen, was mich manchmal traurig macht. Ich liege dann ab und an morgens in meinem zwar schmalen, aber an einigen Stellen höchst gemütlichen Bett (ohne Schuhe) und denke, ach Aufstehen! Herrje. Anziehen! Erst Hose, dann Schuhe, so was hat man schnell gelernt. Aber anstrengend ist das schon. Außer man hat schöne, neue Schuhe. Dann aber flugs aus dem Bett, weil man sich draußen sehen lassen kann! Also trägt man teure Schuhe auf dem Weg zur Arbeit, wo man aber nur hin muß, damit man sich teure Schuhe... also ein Teufelskreis. Ein ganz übler Teufelskreis.

Das denke ich dann so am Sonntag über den Montag in meinem Lehnstuhl in meinem Zimmer. Ihr habt aber sicher auch zu tun.

>>> Geräusch des Tages: Nieve Nielsen & The Deer Children, Room


 


Samstag, 12. November 2016


Freie Zeit am Morgen




Als ich heute morgen unter einer nebligen Sonne am Cembalo saß und ein wenig gedankenverloren herumklimperte, fragte ich mich, wie andere Menschen wohl ihren Tag beginnen. Sport machen einige, das weiß ich. Erstmal weglaufen. Andere führen bereits die ersten durch Mobilfunk übertragenen Telefonate, gerne auch im öffentlichen Raum. Derweil sitzen viele erst einmal nur leblos da, starren mit mühsam geöffneten Augen in eine unfokussierte Ferne und stellen sich existentielle Fragen. "Wer bin ich?" und "Was um alles in der Welt brachte mich hierher?" Anders aber als beim allerersten Mal, als diese Fragen sich durch ihren noch unentfalteten Kopf quälten, haut ihnen niemand zum Wachwerden und Losmarschieren einen ordentlich Klaps auf den Hintern, so daß sie sich nun mit einer oder auch zwei Tassen starken Kaffees selber prügeln müssen.

Ich wechselte zu a-Moll was selbst ein Cembalo seltsam klingen läßt, und dachte weiters über Hobbys nach. Ich selbst habe leider keine, ich bin da wie in so vielen anderen Dingen schwer vermittelbar. Immerhin, ich kann gut Unverständnis ernten, so daß ich immer mal wieder daran dachte, mich zur Entspannung im Gartenbau zu versuchen. Dies aber ist, so erfuhr ich neulich, ein Saisonbetrieb. Damit wird sachlich umschrieben, daß man zu bestimmten Zeiten im Jahr echt viel zu tun hat. Bauernfängerei! sage ich da zu mir und wechsele in ein munteres Cis.

Einst hatte ich Besuch, der verwechselte meinen Kasten mit den zum späteren Studium gedachten Zeitungsartikeln mit dem Altpapier. Unverständnis, ich habe nicht übertrieben. Die Sache mit den Zeitungsartikeln aber läßt mich immer wieder an einen Kaffehausbesuch vor bald zwanzig Jahren denken. Ein mitgebrachter junger Mann erklärte auf die Frage nach seinen interessanten Hobbys, er hätte wohl keine. Doch, verbesserte er sich nach einigem Nachdenken, er würde Artikel über "ordnungspolitische Themen" aus der FAZ ausschneiden und einscannen. Je länger ich darüber nachdenke, und das sind nun schon wie erwähnt bald zwanzig Jahre, umso lustiger finde ich das. Ich erinnere mich aber, wie ich damals wortlos diesen Ausführungen lauschte und dabei vorsichtig gegen meine Schläfe klopfte, um zu schauen, ob mein Erkennungsvermögen für Sarkasmus eventuell ausgefallen war. Die Freundin des jungen Mannes schaute derweil etwas ausdruckslos auf die Tischplatte im Kaffeehaus, ich weiß ihre Gedanken nicht. Versuche sie aber, auf dem Cembalo mit einer kleinen Melodiekette um f-Moll herum nachzustellen. Dann war Zeit für einen guten Kaffee.


 


Donnerstag, 10. November 2016


Kopf hoch!

Das hätte ich nun auch nicht gedacht. Da wird es Herbst, fast Winter gar, und unser aller liebsten Kalifornierinnen machen auf gute Laune. Warpaint haben fürs neue Album "Heads Up" die Post-Punk-Einflüsse der letzten Jahre weiter beiseite geschoben, im übertragenen Sinne The Cure aus dem Studio verwiesen und Portishead reingeholt.

Trippig ist das nach wie vor, vielleicht nicht mehr so verschachtelt wie die ganz frühen freilaufenden dahergejammten Songs. Und nach dem in vielen Karrieren oft schwierigen zweiten Album, das immerhin Monster wie Love Is To Die bescherte, flötet das nun dritte recht eingängig daher. Soundexperimente und mit allen Knarz-, Plosiv-, Frikativ- und Labial-Dental-Stop-Geräuschen belassene wurschtige Aufnahmen lassen auch ein unbekümmert nach Top40-Produktion klingenden designierten Hit wie New Song durchgehen. He, ist das die Comeback-Single von ABBA? Ich hoffe auf ein Youtube-Fanvideo mit einstudierter Banananananarama-Choreo (linker Arm, rechter Arm, Hand aufs Herz, dann den Schmetterling).

Bei Whiteout sind Rückenschmerzen vergessen, ich muß mir das Lied merken fürs Mitwippen auf meiner Dachterrasse dann im nächsten Jahr. Also, ich muß natürlich erst noch bauen, aber das kann ja nun auch nicht so schwer sein, wenn man kürzlich erst einen Wasserhahn angebracht hat.

Immer noch wirken die vier Musikerinnen super entspannt, unbeirrt, angenehm unprätentiös und super bestrumpft. So als wären sie nur eben aus dem Haus, im Supermarkt um die Ecke, eine Flasche Diät-Cola und Zichten holen. Leider aber haben sie auf ihrer aktuellen Tour einen Bogen um Hamburg geschlagen. I not like.

>>> Geräusch des Tages: Warpaint, Ashes To Ashes, ja genau, das Bowie-Cover.

Radau | von kid37 um 23:50h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 6. November 2016


Fabrique



Ich weiß nicht, wo ihr eure Surfbretter läßt, wenn ihr den VW Bus zum Überwintern in die Garage gefahren und mit der Segeltuchplane abgedeckt habt. Ich stelle die immer hinten in die freie Ecke neben den Metallspinden, und räume dann zwei, drei Medizinbälle (vintage) davor, weil ich gerne Struktur mag und der Themenbereich "Sport"zusammenbleiben soll.

Bei einer Tasse frisch gebrühten Exquisitkaffee mit handaufgeschäumter Milch verblättere ich dann so einen usseligen Sonntagnachmittag gern mit ein paar Kaffeetischbilderbüchern für Erwachsene, wie dieser recht hübsch zusammenkuratierten Sammlung von industriellem Einrichtungskrempel. Das weckt verloren geglaubte Energie oder besser profanen Besitzdrang, besonders nach dieser zauberhaften, beleuchteten Art-Deco-Tischlupe aus dem Hause Gruber ("Loupeclaire"). Wer so eine in Baumärkten angebotene "dritte Hand" mit Lupe und beweglichen Krokodilklemmen daheim hat, wird nun in stille Tränen ausbrechen, wenn er (oder sie) sieht, wie sowas auch in hübsch aussehen kann.

Sollte mal jemand einen solchen Begehrgegenstand in einem staubigen Karton heimatlos in der Ecke rumlungern sehen, denke er (oder sie) doch bitte an mich und sage Bescheid. Bis dahin muß eben dieser Bildband reichen.

(Misha de Protestad, Patrice Pascal. Vintage Industrial: Living with Machine Age Design. New York: Rizzoli, 2014.)


 


Mittwoch, 2. November 2016


Wie ein Käfer erstarren

Ich konnte am Wochenende leider nicht raus, einen kleinen Herbstspaziergang um mein bescheidenes Wasserschloß zu machen, derweil ich mein Einstecktuch nicht finden konnte. So setzte ich dann eine Maschine Wäsche an, aß etwas Kuchen, setzte die Schachfiguren meines Lebens ein paar Felder weiter, und überlegte, nachdem ich die Böden gewischt hatte, ob ich nicht an meinem Auto schrauben sollte, besäße ich es nur.


Quelle: Internet

Ich habe selten Autowünsche, aber bei solch interessanten Exemplaren drückte ich ein Auge vor mir selber und meinen Anwandlungen zu. Das Auto, wohl ein Horch, ist längst Seite an Seite neben dem Insekt ausgestorben, das hier wohl Pate stand. Ein Käfer der langgezogenen Art. Aber so was wird ja alles nicht mehr gebaut. Früher hatte das jeder!

Mit solch einem Auto könnte ich auch die Schneewittchensargfahrer ausstechen, denen meist viel Volvollen entgegenschlägt in der autointeressierten Umwelt. Bei Damen zum Beispiel. Aber dann komme ich mit meinem Horchkäfer! Parkte den auf einer Wiese und schlüge ein Campingquartier. Wie eine winterschlaffe Made könnte ich mich hinten in die gläserne Chitinhülle legen, ausgiebig erholsame Winterruhe halten und auf die Metamorphose warten. Den Traum träumen wie so viele Gliederfüßer - daß aus mir noch etwas werden könne!


 


Sonntag, 30. Oktober 2016


Rost, süßer Rost



Man kann nicht immer Klage führen. Auch wenn ich eine weitere, für einen Aufenthalt im großstädtischen Ausland geplante Woche stattdessen unter der Küchenspüle verbrachte. Derweil das Projekt, mal eben in zwei Stunden eine neue Küchenarmatur anzubringen, nach schwungvoller Öffnung der Epidermis in eine größere Operation umschlug. Erst einmal war eine größere Menge Schlacke zu entfernen, sozusagen überschüssiges Bauchfett von unter der Spüle - gesammelte Plastiktüten, die man irgendwann mal..., gesammelte Haushaltsartikel und Kurzwaren, gesammelte Reinigungs- und Verunreinigungsutensilien. Bald aber fand ich mich mit einer auf einem sterilen Tuch ausgebreiteten Sammlung Gabelschlüssel bewaffnet wie ein Korkenziehergewinde unter das Ausgußbecken gedreht, Anschlußgewinde verschiedener Zollgrößen schrauben und Dichtungen adaptieren. Weil bei der Gelegenheit der gerade mal 25 Jahre alte Wasserboiler die wohl kalkbedingte, arteriosklerotische Gefäßundichtigkeit symptomierte, entschloß ich mich für den nächsten Tag gleich für eine komplette Organtransplantation.

Bernard hätte mir die Hand geschüttelt, mein Gas-, Wasser, Dingsdainstallateur hoffentlich auch. Alles entlüftet, auf Temperatur gebracht, wieder eingeräumt, Türen zu. Läuft.

So war ich also auch zu Hause, das ein oder andere Paket entgegenzunehmen. EIN KUCHEN! Da könnt ihr mit euren Äpfeln angeben, wie ihr wollt. Ich habe EINEN KUCHEN! Ehrlich, wer braucht da noch Urlaub? Ich kann jetzt Kuchen mümmelnd an der Spüle stehen, das Wasser munter auf- und zudrehen und das Lied vom einfachen Glück singen. Vielleicht noch Blümchen dazu. Mein Vater sendet mir ein Werk aus seiner Dawanda-Werkstatt. Ich habe es immer gesagt: die gute alte Glühbirne kann Dinge, da kommen diese nur angeblich energiesparenden Giftleuchten nicht ran. So kann man sie als kleine Blumenvasen weiterverwenden. Kleines Brettchen als Halterung aussägen, Glaskörper rein, fertig.

Und dann weiß der Mann ja, das man mir mit 'ner ollen rostigen Schraube fast die größte Freude machen kann. Oder Schokolade. Oder Schokolade, die aussieht wie eine olle rostige Schraube. Wenn mich also einer an altem Eisen lutschen sieht, nicht wundern - ist wirklich süß.


 


Dienstag, 25. Oktober 2016


Merz/Bow, #52

Die Akademie ruft an.

"Hello? No, Mr. Bob is not here. Whot? No, I am cleaning man. Yes, yes. Si, si."

*Dylan geht lachend ab*

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Schöne Bücher von fotografisch hart arbeitenden Frauen erreichen mich. Die bezaubernde französische Fotografin Féebrile, auf die ich zuerst durch ihre Zusammenarbeit mit Ödland aufmerksam wurde, hat nach ihrem ersten h[bschen Band Pola et les Autres nun ihr erstes größeres Buch gemacht. Abgründige Schwarzweißaufnahmen, düster, sehr emotional und wie einem unruhigen Traum entrissen.

Dazu gesellt sich Aberrant Necropolis der Engländerin Ellen Rogers. Ihre handcolorierten Analogabzüge zeigen eine versponnene, teils viktorianisch-exotische Spinnwebenwelt, dunkle Träume von irrlichternden Friedhofsfeen. Barbusige Teezeremonien mit Ouijaboard und Ingwerkeksen.

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Fast weltweit: Man ahnt ja nicht, wieviel Neid, Mißgunst und Intrige auf einer kleinen Hallig Platz finden. Oliver Driesen vom Zeilensturm hat mit Wattenstadt eine unterhaltsame Politsatire geschrieben. Da werden die ausgreifenden unterhaltungsimperialen Träume eines Industriekapitäns aus dem Ruhrgebiet in die Miniwelt im Wattenmeer gequetscht. Die vom Wind zerzausten Bewohner kippen einer nach dem anderen um (mancher sogar tödlich), ein paar Figuren leisten Widerstand, und am Ende stecken Teufel und beharrlicher Wille im unscheinbarsten Küstenbewohner. Es tummeln sich im vom Berliner Politbetrieb durchwirbelten Schlick: eine Hure mit Herz, ein russischer Killer, eine uralte Mume, ein plastiniertes Kunstwerk, ein kleiner Lokalfürst mit Großmannssucht, ein Pfarrer mit Engagement, ein stinkreiches Millionärspaar, die mich immerzu an die "Geissens" erinnerten, und ein kleines Tier, das für die einen zum Retter, für die anderen zur Pest werden kann. Ich habe gelacht.

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Leben in Euphemia. Die große Zeitung schreibt: " Jetzt wurde die Bestsellerautorin enttarnt – nicht zu jedermanns Begeisterung." Und man denkt, nein, IHR habt sie enttarnt und außer euch war einfach NIEMAND begeistert. Wer hätte es noch nie erlebt: Fortgetragen auf einer Welle der Selbstbegeisterung, mitgerissen vom imposanten Gefühl, jetzt, in diesem Moment einfach keine falsche Augenzahl würfeln zu können, egal, was man macht. Um dem Eingangs formulierten Anspruch zu genügen: Ich schon.

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Man wird ja schnell geerdet, zum Glück.

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Entscheidungen zum literarischen Jahresende: Der diesjährige Preis des Hermetischen Cafés für Dichtung geht an Bob Dylan. Leider habe ich ihn noch nicht ans Telefon gekriegt. Bob, bitte ruf mich an.

MerzBow | von kid37 um 01:37h | 35 mal Zuspruch | Kondolieren | Link