
Montag, 8. Juli 2013
Should I crawl defeated and gifted?
Should I go the length of a river?
Oh, I'm pissing in a river.
(Patti Smith, "Pissing In A River")
Auf diesem Bild hat Herr Kid einen Arzt versteckt. Könnt ihr ihn finden?
Am Samstag mal Anflug von Sommer in der Stadt, eine schnelle, schwitzige Runde auf dem Rad, dann aber los zum Familienausflug in den Stadtpark. Die "Großmutter des Punk", wie sie mittlerweile genannt wird in einer leicht frechen Verschiebung von Godmother zu Grandmother, spielt dort. Und zwar pünktlich. Ich bin leicht spät dran, weil ich vorher noch schnell wohin mußte und dabei - irgendwie verfolgt mich das gerade - von einem jungen Mann, zurecht aber diesmal, ermahnt wurde. Wißt ihr das auch, too much information, ich weiß.
Frau Smith spielte bereits "Ask The Angels", bemerkte aber kurz darauf zwischen zwei Liedern, daß sie Adleraugen besäße und alle genau erkennen könne, auch wenn einer grad "taking a piss" wär. Na toll, das hat gesessen, und ich will auch gar keine höheren Umstände anmelden. Könnte ich aber!
Wie um mich zu foppen, gab es später eine ganz großartige Version von Pissing In A River, einer von Smiths schönsten Songs. Man ist ja schon ergriffen, wenn die Anfangsakkorde auf dem Klavier durch das Stadtparkrund klingen, sich durch die Hecken und Bäume winden und alles einweben, dieses so ganz geradeaus gewundene Liebeslied, die unverhohlene und eindeutige Hingabe. Um beim Thema zu bleiben: Piss Factory hat sie aber nicht gespielt und nun ist auch schon gut damit. Meine Güte.

You bore me already, Baby. - No, no - just joking. You are one of the most exciting persons I've met in my life.
Erst dachte ich, Mensch, die spielt ja schon am Anfang alle Hits. Bis mir einfiel, daß sie ja auch kaum andere Stücke hat. 35 Jahre Hochkraftrock, auch die Stücke vom letzten Album fügen sich ein mit Feedback und Energie. Bei Patti Smith herrscht immer auch eine gesellige Familienparty. Sie wandert herum, spricht mit dem Publikum, nutzt eine Verschnaufpause, als die Band um Lenny Kaye alte Rock'n'Roll-Kracher zu einem Medley mischt, und läuft raus zu den Leuten weit links und rechts der Bühne. Mich würde auch nicht wundern, wenn sie zwischendurch belegte Stullen und Würstchen vom Grill reichen würde. Ein vorlauter Schreihals wird von ihr lachend aufgezogen, das ist alles ein friedlicher "Ghost Dance" hier. Ein in Hamburg weltberühmter Regisseur macht eifrig Fotos, ein bekannter Punkrockschlagzeuger bewegt im Takt den Kopf, während die Smith in "Banga" (liturgisches Beispiel) die Hunde beschwört. Whoo-hoo.
Dann geht es zurück zu den ernsten Dingen. Smith mahnt den Abrißwahn an, so als wüßte sie um die Hamburger Gentrifizierungs- und Verwüstungstendenzen. Man solle darauf achten, die Welt und die Städte nicht eine einzige große "Tourist trap" zu verwandeln, sondern auch die abgeranzten Ecken erhalten. (Heute abend trinkt sie noch einen im Gängeviertel, schätze ich). Ein Neil-Young-Cover, eine gesungene Protestnote für Edward Snowden. "Thank you for giving the secrets of my country - to me", ruft sie unter Applaus, viele sind jetzt einer Meinung und zwar der richtigen. G-L-O-R-I-A.
Und das muß man ja mal sagen: Es gibt nicht viele Künstler, die bei ihren Konzerten deutlich machen, wie sehr sie mit ihrer Musik in der Zeit stehen. Nicht eine gut marinierte Vergangenheit beschwören, die Musical-Version ihrer Karriere und größten Erfolge spielen. Die rotzige Haltung, das dezidiert Politische bei der Smith: Da ist überhaupt kein Nachlassen von Energie oder Konzentriertheit zu spüren. Da tanzt eine kleine alte Frau über die Bühne mit einer Stimme, die ein erstaunliches Volumen besitzt und das Rund füllt, dabei gurgelt und röchelt, ächzt und stöhnt, und sich eher gewaltiger anhört als vor 30 Jahren. Wie ein Ozean.
Ein bißchen beschämend auch, wenn man selbst so vergeht. Die Botschaft aber bleibt: "People Have The Power", und die Zukunft ist jetzt.
Genau so nämlich sieht es aus.
>>> Rock'n'Roll Nigger, Hamburg

Samstag, 6. Juli 2013
Satte Sonne vor der Tür, die Menschen strömen hinaus jenseits der Wlan-Grenzen, ein Lied und ein Brotdose dabei. Doch halt, bevor ihr alle losrennt - habt ihr nicht was vergessen?
Drei Tage lang haben wir Texte aus Klagenfurt beim Wettbewerb der deutschsprachigen Literaturkritik gehört, einige sehr gute darunter, mit unruhigen Tieren oder exotischen Zimmerpflanzen. Viel sehr clever gestaltetes, wo Autoren ihre Federn spreizen und zeigen, wie sie Sprachtonleitern rauf- und runterklimpern, kühl, technisch versiert, wie Turnerinnen am Schwebebalken oder oberschlau und distanziert ironisch, Autoren, die nicht selbst und ihren Text, sondern eine Präsentationsfigur ins Rennen schicken, die Klingen zu kreuzen mit ebenso sich teils spreizenden Kritikern, die - so ein Kommentar auf diesem Twitter - ruhig mal aus einem roten Cabrio heraus dozieren sollten.
Mit buchstäblich flatternden Segeln, offenem Herzen - und überhaupt: dem Herzen - mit Wollen und Wagnis also und großer Verletzlichkeit war nur eine Autorin darunter und die, so finde ich, hat aus all diesen Gründen heute den Publikumspreis verdient.
Wer jetzt also nicht von Sonnenmilch gar zu verschmierte Hände hat, klickt diesen Link bei 3sat. Und zwar zwischen 15.00 und 20.00 Uhr, so lange läuft die Abstimmung.
Ich habe, der Einfachkeit halber, schon einiges voreingestellt. Ihr könnt, wenn ihr wollt, noch einen Kommentar dazu schreiben, etwa "Super!" oder "Ganz toll!" oder "Schreibt wie das Leben und nicht wie die Uni!" oder "Endlich mal Kunst und nicht Kunsthandwerk!" oder "Endlich mal eine Autorin, die beim Bachmannpreis einfach vom Beckenrand springt und nicht auf Kritikererwartung hinschreibt". Oder auch ganz was selbst ausgedachtes.
Danach könnt ihr die Beine wieder baumeln lassen.

Mittwoch, 3. Juli 2013
Heute, am denkwürdigen 3.7., beginnen die 37. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Wieder - und möglicherweise auch zum letzten Mal, sollte sich der ORF mit seinem provozierenden Testballon durchsetzen, die Veranstaltung nicht mehr zu übertragen - wird dabei der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Dieses Jahr ist es ein bißchen merkwürdig, weil ich ein wenig voreingenommen bin. Das aber zurecht: Dieses Jahr liest Anousch aus ihrem Roman, der im JuliAugust erscheint, und das ist etwas schade für die anderen hoffnungsvollen Teilnehmer. Aber es kann eben nur eine gewinnen.
Anousch, bereits jetzt Bachmannpreisträgerin der Herzen hier im hermetischen Café, dürfte kaum Raum für Diskussion oder Konkurrenz lassen, das sage ich mit aller gebotenen Objektivität und weiß damit den Preis in guten Händen. Ab morgen, kurz nach zehn, geht es los. Bitte schalten Sie ein und verlieben sich.
>>> Bachmannpreis
>>> 3sat

Montag, 1. Juli 2013

Die letzten schönen verregneten Sommertage nutzend, wagte ich einen anorakverhüllten Ausflug zum hiesigen Zoo. Hagenbeck zehrt vom alten Ruhm, hat in hundert Jahren aber auch das ein oder andere neu gemacht. Kleine Elefanten etwa oder die kühlschrankkalte Eismeerlandschaft. Hier hausen mürrische Pinguine, die von ihren Happy Feet-Kollegen im Leben noch nichts gehört haben und ihre Tage damit verbringen, wie Sänger einer Neo-Gothic-Band bedeutungsschwer ins Nirgendwo zu starren. Wenn sie nicht gerade wie exaltierte Körperkult-Freakartisten Kot ins Publikum spritzen, wie ein Hinweisschild warnt. Bestätigen kann ich das nicht.
Sowieso aber geht man wegen dem Schrecklichen Odin zur Eislandschaft, Hamburgs häßlichstem Walross (wir berichteten). Der Handkreissägentenor aus dem Polarmeer wirkt an Land wie ein amorpher Blob, adipöse Fettschürzen schwabbeln walle, walle manche Strecke, wenn König Odin in seinem kleinen Tiefkühlreich fürs Publikum den Hirschen macht.
Durch eine Panoramascheibe aber schaut man der kleinen Gruppe unter Wasser zu. Bequem, aber mit einer gewissen halbtonnenschweren Eleganz gleiten vor allem die Damen in entspannter Rückenlage durch ihr kunstfelsenverziertes Becken, machen Faxen für die Besucher diesseits des Glases, Kopfstand für die Kinder, und untersuchen neugierig die Ecken und Winkel, ob es nicht doch einen Durchlaß zu den funktionsjackenbeschuppten Beobachtern gibt. Tatsächlich hübsch sind die sehr beweglichen Flossen, mit denen die riesigen Robben filigrane Blumen, mümmelnde Hasen oder Meeresungeheuer formen können.
Man sitzt und sinniert, überlegt, die Bären freizulassen und ihnen den Weg zu den aufgestellten Bienenkörben zu weisen. Kecke Ziegen hüpfen durch den Streichelzoo, mehr Kinder finden sich nur vor dem Tigergehege, der sibirische Kater selbst aber läßt sich entschuldigen. "Der uriniert", werde ich vom kleinen Schulstreber belehrt, "the call of nature!" denke ich und mache es bei nächster Gelegenheit der bedrohten Tierart gleich. Eins sein mit der Kreatur, zurückfinden zum animalischen Ich, sozial interagieren wie die munteren Gesellen auf dem Affenfelsen. Mein Rrrroooaaarrrr noch heiser, leiser als das Gezeter der Pavianrabauken. Aber schöner als Odin allemal.

Sonntag, 23. Juni 2013
Es klingt wie aus einem Science-Fiction-Stoff der 50er Jahre, aber die Invasion der Body Snatchers ist eigentlich keine Fiktion. Man kennt einen Parasiten, der das Verhalten von Katzen und Mäusen steuert, weil er beide Tiere als Wirte braucht, aber wahre Blütenpracht beim Töten zeigt erst ein Pilz namens Cordyceps. Der dringt in die Körper von bestimmten Insekten ein, darunter unseren Freunden, den Ameisen, zerstört nach und nach ihr Gehirn, läßt aber das Nervensystem intakt.
Das infizierte Tier bleibt also bewegungsfähig, wird dabei aber fremdbestimmt wie ein Roboter. Die Ameise, das zeigt die kurze BBC-Doku von Richard Attenborough oben, die man sich ruhig mal anschauen kann, wenn man schon länger keine Albträume mehr hatte, die Ameise also klettert auf eine erhöhte Stelle, klammert sich eisern fest schließt einen Riester-Vertrag ab - und gibt sich womöglich letzten verbissenen, pilzigen Eigenheimträumen hin. Benannter Fungus, man kann jetzt hier nicht drumrumreden, durchbricht die Schädeldecke, wächst zu einem Gebilde bizarrer Schönheit, ehe er seine Sporen freigibt, bereit, weitere Insekten zu befallen. Wie wunderbar ausgedacht!
Eine interessante Studie auch zum Thema Indoktrination und freier Wille, der bei Ameisen zugegeben von vorneherein minderentwickelt ist. Angeblich funktioniert auch der Smartphonevirus so, der Menschen dazu bringt, immerzu auf Displays starren zu müssen. Diese Nachrichten aber werden unterdrückt. Regierungsgeheimnis usw.
via BioMedical Ephemera
>>> BBC-Feature über Cordyceps fungi

Montag, 17. Juni 2013

Begebenheiten spielen sich ab oder gar nicht. Bauruhe zum Beispiel gegenüber. Seit bald vier Wochen sind Kräne und Maschinen, Mensch und Material abgezogen, Enten sitzen auf den Sandhaufen, harmlose Bodenbrüter erobern das Gelände, auf dem ein Afrikakorps Manöver halten könnte. Gerüchteweise ist die Umweltbehörde eingeschritten, die Yuppisierung hier im Viertel ist kurzzeitig in der Etappe steckengeblieben.
Gelegenheit, den James-Stewart-artigen Beobachtungsposten am Fenster zu verlassen und hinaus in die Welt zu humpeln. Also in einen anderen Stadtteil. Nachdem Besuch mich mit gutem Brot (Das gute Brot!) aus der weiteren Heimat (Hier haben wir ja nüscht!) versorgt haben (Tränen der Rührung usw.), galt es, das Versorgungsangebot im Windschatten der Altonale zu testen.
Dort ernährt man sich bekanntlich auschließlich biogentrifiziert und so gab es Balkonfleisch und Spiegeleimarmelade, schön medium und weitgehend schadstoffarm. Ein Strand wie Bio de Janeiro, ich lasse mich ja gerne überzeugen. Der Akazienhonig allerdings machte mich alten Theorieimker stutzig. Nun lasse ich mir von kessen Bienen gerne viel erzählen, aber daß sie acht Beine besitzen wollen, bin selbst ich nicht naiv genug zu glauben. Die Imkerlyrik auf dem Etikett auch herzallerliebst. Natürlich könne man nicht garantieren, so heißt es dort, daß die Bienen nicht ausschließlich ökologisch bewirtschaftete Flächen ansteuern. Das wiederum glaube ich sofort. Wo die überall hinsteuern, paßt man einmal nicht auf... nun, wer wüßte das besser als ich. Aber, so fährt die einlullende Saga fort, der biologisch geschulte Imker verabreitet das alles nach Vorschriften von... usw.
Also nach Vorschriften, nach denen auch alle anderen deutschen Imker verfahren: der Honig wird kalt geschleudert, wird nicht mit anderem Honig vermischt und bleibt von Zusätzen verschont. Alles andere sind Honigprodukte mit Chili und Korn, Beimischungen aus Nicht-EU-Ländern und was es alles gibt.
Andererseits sind diese arachniden Bienen vielleicht etwas ganz besonderes. Oder aber es handelt sich um Bienen, die sich in Netzen verfingen und von Spinnen gemolken wurden, die dann wiederum von einem besonders geschulten Imker... usw.
Heute im Bus auch großes Gesummse. Es handelt sich um eine weitere Begebenheit. Der Bus war gefüllt mit mitteljungen Menschen auf dem Weg zum Großkonzert einer bekannten britischen Elektropopband mit düsterem Einschlag. Ich nenne jetzt aber den Namen nicht. Fans haben früher regelmäßig Tanz-wie-der-Sänger-Wettbewerbe ausgetragen, von denen aber waren keine im Bus. Die im Bus sahen ein bißchen so aus als wollten sie zu Bon Jovi oder den Dire Straits oder einer ähnlich gut abgehangenen Gepflegtrockveranstaltung.
In meiner Nähe ein Pärchen, der Typ Typ Maschinenbauer, jedenfalls trug er ein kariertes Hemd, also muß es ein Maschinenbauer gewesen sein. (Gegenanzeigen bitte in den Kommentaren.) Nun sind auch Maschinenbauer dufte Leute, unter meinen Leser sind die tollsten von ihnen, und es muß ja auch Menschen geben, die diese ganzen Maschinen konstruieren und bauen. In diesem Fall aber handelte es sich wohl um einen vom Leben zerfressenes Exemplar Karierthemdtrager. Seine Freundin (ja, es gibt Maschinenbauer, die haben Freundinnen, manche sind sogar mit ihnen verheiratet usw.) blieb weitestgehend stumm, während er ohne Punkt und Beistrich ätzte und hämte, daß es ein Frust war.
Irgendein Bekannter, er wolle ja nichts sagen , aber warum ausgerechnet der immer Hilfe bei Renovierungen bekäme. (Man ahnt, Mister Karierthemd ist nicht sooo beliebt in seinem Bekanntenkreis usw.) Und dann dieser Wahlkandidat auf dem Politikerplakat an der Haltestelle. Der hätte keine Ausbildung zu Ende gebracht, nichts geschafft im Leben und wolle jetzt in den Bundestag. Na, seine karierte Stimme bekäme der nicht. Und so ging es fort in einem endlosen Bewußtseinsstrom der Nörgelei als befände man sich in einem dieser Empörungsblogs. An einer Haltestelle dann fuhr ihm ein anderer Fahrgast beim Aussteigen mit dem Rollkoffer über den Fuß. Eine dieser Ungeschicklichkeiten im öffentlichen Personennahverkehr, wie sie immer wieder vorkommen und bei denen man im Stillen denkt du Trottel, paß doch auf usw. Der Karierte aber brüllte durch den Bus: "Trottel! Paß doch auf!" - so als hätte man ihm beim Tanzwettbewerb um die größte Ähnlichkeit mit dem Sänger einer berühmten britischen Elektropopband mit düsterem Einschlag, deren Namen ich aber nicht nenne, als Personal Jesus ans Kreuz geschlagen.
Was für eine stimmungstötende, naturunzufriedene Person, dachte ich. Wäre ich seine Freundin gewesen, ich hätte ihn sofort verlassen. "Du gehst mir total auf die Nerven", hätte ich gesagt. "Und ich glaube, du bist überhaupt gar kein Maschinenbauer", hätte ich nachgesetzt und mich davongemacht wie eine Biene auf acht Beinen. Sie aber blieb stumm, wahrscheinlich nämlich bewahrte er die Karten für die britische Elektropopband mit düsterem Einschlag in seiner karierten Brusttasche. So sah der aus.
Das ist, was heute passiert ist. Auch viel Menschliches war dabei.

Samstag, 15. Juni 2013
So, liebe halbgeschlafene Nacht. Ich schlafe ja nicht mehr körperkorrekt, mehr so als hätte jemand den Schalter ausgeknipst und alles dunkel gemacht. Wache ich auf, fehlt einfach nur Zeit, müde bleibe ich trotzdem, wie der Kopf in Nährlösung in The Brain that could'nt die.
Ebenso unentschlossen bleibt das Wetter. Die Nachrichtenlage: derzeit wunderbar (windig, graublau, irgendwas mit 20 Grad). Nächste Woche Drohkulisse mit 30+, ich werde den Chef fragen müssen, ob ich nicht im Kühlhaus die Zettel an den Zehen neu sortieren kontrollieren darf.

Während gerade Thurston Moore morgenentspannt in den Lautsprechern klimpert (der Typ ist jetzt weitläufig mit dem holländischen Königshaus verbandelt, diese Welt wird immer bizarrer. Kim Gordon hingegen, grad 60 geworden, spricht in der Elle), blätter ich mich durch Restaufnahmen der Kulturbesuche der letzten Wochen.
Herr Krüger präsentiert neuere Arbeiten von Henning Kles mit Use Your Illusion I & II. Teils mit Bitumen in hübsches Grau getauchte Leinwände, ein Material, das schon Dubuffet für die Art brut entdeckte, wißt ihr ja alles. Kles' kontrollierte Variationen der für seine Serien verwendeten Motive, zeigen deformierte Porträts, Männer mit schwangeren Bäuchen und Händen wie Prothesen, so eine Art popsurrealer George Grosz, fern zum Glück von Gothic-Kitsch oder neo-primitiver Klabusterei. Die Jugend immerhin ist begeistert und klärt gern alle über die Bedeutung auf.
Schon vor einiger Zeit in den Deichtorhallen die Retrospektive auf (zu?von?für?) Harry Callahan gesehen, die jüngst um ein paar Tage verlängert wurde. Interessantes Frühwerk, hübsch gehängte Abstraktionen mit korrespondierenden Akt- und Naturstudien, dann die Reihen mit den Doppelbelichtungen, mit denen er bekannt wurde. Spiegelnde Schaufenster, Menschen in die New Yorker Architketur gequetscht. Callahan, ursprünglich Autodidakt, hat relativ früh, also zu einer Zeit, als Fotografie alles andere als "Kunst" war und sich mit der Ansel-Adams-Schule sehr formal gab, mit entfesselter Technik und ungezwängten Begriffen experimentiert. Man muß das nur mal aus der Zeit heraus denken, wir reden ja nicht von einer Instagramwelt. Dann sind auch seine bereits in den 40ern - und damit weit vor Eggleston - entstandenen Abstraktionen auf Farbfilm zu würdigen. Plattencover allesamt, ach nein, las ich ja neulich im Freitag, Cover sind ja so was von überflüssig. Je nun. Deutschland, the land sans liner notes.
Möglicherweise hat die Zartheit, die oft bei Callahan durchscheint, ihm im Alter auch Hindernisse in den Weg gelegt. Die Reisefotos aus den 80ern nämlich fand ich doch ein wenig belanglos. Hausansichten aus Nordafrika, immer einen Tick von zu weit weg fotografiert, einen Tick mutlos, einen Tick ratlos, was mit dem Sujet zu machen sei. Wer gern vom Kopf her denkt, wird das aber trotzdem alles mögen.
Wer lieber gleich zu Hause bleiben und dabei in Ruhe seine Zwölftonmusik hören oder Kalorien zählen will, schaut ins Netz. Eine Schnipselsammlung japanischer Fotografie (oft nicht sicher für die Arbeit), Buchcover, Stadtszenen der 60er- und 70er-Jahre, ein Assoziationsstrom mit dem Tempo von My Bloody Valentine, ein satt riechendes Rosenbegräbnis.
("Henning Kles - Use Your Illusion I & II". Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 29.6.2013.)
("Harry Callahan - Retrospektive". Deichtorhallen, Hamburg. Bis 23.6.2013.)
