
Donnerstag, 27. April 2006
Dieser Anflug von Tragik. Morgens aufwachen und die Idee seines Lebens haben. Kurzer Taumel des Glücks. Dann bemerken, jemand anderes hatte sie bereits.

breitet es sich überall aus.
Neulich morgens wachte ich auf und war für einen verhältnismäßig langen Moment der Überzeugung, ich sei der wiedergeborene Michael Flatley. Zwar lebt der noch, versuchte ich mich selbst zu beruhigen, tänzelte und steppte aber dennoch, so gut es die langen Beine meiner Schlafanzughose (gestreift) zuließen, ins Bad. Der eher plumpe Aufprall auf den Badezimmerfliesen bereitete allerdings eine gewisse geistige und körperliche Ernüchterung vor. Das eiskalte Wasser der Morgendusche brachte mich dann vollends zur Besinnung. Glaube ich.
Als Tanzbodenfürst wäre mit mir kein Staat zu machen. Ich hatte aber gleich darauf eine neue Idee, wie ich zu künstlerischem Ruhm - und mehr noch - zu Geld kommen könnte. Ich werde nämlich einen Roman schreiben! Genauer gesagt, ein Kinderbuch, das muß man ja in Deutschland fein unterscheiden.
Seit ich diesen Film über die barfüßigen Typen gesehen habe, die mit einem Schmuckstück durch Auenwälder latschen, (das ist der, in dem auch die spitzohrige Prinzessin mitspielt, die aussieht wie Schneewittchen mit unheimlich großem Mund), ist mir nämlich aufgefallen, daß Themen mit Hokuspokus und Magie ziemlich gut laufen derzeit.
Also habe ich mir eine hübsche Geschichte ausgedacht. Held meines Romans wird ein kleiner Junge sein. Eine Waise, habe ich mir überlegt, um ihn ein wenig herauszustellen und besonders zu machen. Was der Junge anfangs nicht weiß: Er hat eigentlich Zauberkräfte! Wie das aber bei kleinen Jungen so ist, und bei Zauberlehrlingen allemal, muß er erstmal zur Schule, am besten also eine Zauberschule, um ordentlich zu lernen. (Pädagogische Botschaft muß sein im deutschen Kinderbuch!) Weil die Kinder, die mein Buch lesen, wie viele Leseratten bestimmt eine Brille tragen und deswegen gehänselt werden, mache ich meinen Helden auch zum Außenseiter und verpasse ihm ebenfalls eine Sehhilfe. Das verbindet und kommt an. Die Spreepiratin, der ich von dieser tollen Sache erzählte, weil sie sich mit Medien ein wenig auskennt, sprach mir gut zu war gleich Feuer und Flamme und schlug vor, dem jungen Helden obendrein eine Narbe anzudichten. (Ich glaube, sie hat da für so was ein gewisses Faible.)
Mein kleiner Held (Arbeitsname "Kid"), ich werde ihn später vielleicht Herbert nennen oder Horst, jedenfalls was mit "H", ist nun dreifach stigmatisiert: Brille und Narbe und Waise. Da hat er was zu überwinden und einen kleinen dunklen Schatten auf der Seele, ein Geheimnis vielleicht, das es im folgenden zu ergründen gilt. Natürlich muß er sich auch gegen Neider, verblödete Erwachsene und Schulhofterroristen zur Wehr setzen, damit werden sich meine jungen bebrillten Leser sicher gut identifizieren könen.
Das Ganze werde ich mit allerlei Quatschwörtern aufpeppen, denn in diesem Film mit der spitzohrigen Prinzessin gab es sogar eine eigene Sprache und Mythologie. Ich hörte, so was gibt echten Fans das Gefühl, "Insider" zu sein. Und echte Fans machen ein Buch erst zum Erfolg. Also werde ich Begriffe wie "Quuuuuggle" oder "Kramlat" einführen, die meine Insiderfans dann beiläufig in Partygesprächen fallen lassen können.
Später könnte man auch T-Shirts verkaufen mit Sprüchen wie "Mit Quuuuuggles rede ich nicht" oder "Wo ich bin, ist immer Kramlat".
Mein Held braucht noch ein Haustier. Da bin ich aber noch unsicher. Einen Hund? Den haben Zauberer nicht. Eine Katze vielleicht. Oder besser einen Vogel? Die werden ja immer seltener.
Ich glaube, ich mache daraus besser gleich eine Saga und lege das auf sechs Bände an. Ich bin sicher, das wird ein Hit. Dann bin ich stinkreich und tanze auf dem Dach der Welt. Wie Michael Flatley.

Mittwoch, 26. April 2006
Vor zwanzig Jahren, möglicherweise leicht verstrahlt: Tage nach dem Reaktorunglück. Caesium 137 wäscht sich seinen Weg in unsere Körper. Warum sollte es auch nicht schneller gehen, das Ende. Die Ernte ist verseucht, und die Dichter grübeln. Vielleicht erscheint uns nun eine Erscheinung: Ein Spiel ins [sic!] System. Ein Hustenbonbon ohne Nachgeschmack.
In der Woche nach der Katastrophe stammte plötzlich alles Gemüse, das kurz zuvor noch als "Freiland" deklariert gewesen war, aus Treibhäusern. Ganz Deutschland war offenbar über Nacht zu einem riesigen Gewächshaus geworden. Von Holland wußte man das ja schon. Der Begriff "Milchpulver" tauchte erstmals wieder im aktiven Wortschatz auf und weckte diffuse Bilder einer nicht erlebten Nachkriegszeit. Minister Zimmermann beruhigte jeden Abend: Für die Bevölkerung geht keine Gefahr aus. Die Rente war plötzlich auch sicher und wir glaubten es, weil nun klar war, daß dieses Alter keiner mehr erleben würde.
Als sicherer galt nur noch Neuseeland.

Dienstag, 25. April 2006
And you should know I suffer the same
If I lose you
My heart will be broken
(Madonna, "Frozen")
Als ich dich suchte, als ich Lichter sah und Klänge und die Schrittfolgen auf den glänzenden Böden. Diese Tage, als ich nicht wußte, war es der Hunger. Oder nur Durst. Diese Tage als ich Augenpaare sah und weitere Augenpaare. Auge um Auge, sehend suchen, Sehnsucht, aber nie mehr das, was ich in dir suchte.
Ich traf dich in den dunkleren Straßen der Stadt. Ich traf dich auf dem Boden des Ozeans. Ich traf dich in den Tiefen schwarzer Bunker und am Ende von irgendwas. In Lärmgewittern, dort wo die Wogen an den Strand schlagen und Herzen sich öffnen. Auf der anderen Seite der Stahltür sah ich dich, getragen von verwehten Bassdrums und Tinitusfiepen, zwischen langen Haaren und den Trümmern der letzten Party.

Auf den Lippen der Geschmack schaler Getränke, auf der Haut keine Küsse, nur Schweiß der Tänzer, die klebrige Schicht verstreuter Tränen. Süßes Parfüm, gehauchte Erinnerung, gehauchtere Worte, ein Flüstern, kurz bevor die Woge herabbricht - der lautere Klang, die tieferen Bässe, die giftigeren Gitarren, das härtere Schlagzeug. Alles verschluckend, in Echos wandernd von tief unten nach noch tiefer unten. Zur Herzschlagfrequenz.
Im Dunkeln, einst, faßtest du meine Hand. Wir suchten, getrieben, getragen vom pulsierenden Rhythmus, ein enger Tunnel durch Trockeneis, zuckendem Licht. Ich wußte, ich kannte dich von irgendwo.
Wenn das Ohr nicht mehr hört, nur noch die Haut, wenn die dummen Worte, meine, nur noch Klang sind und keine Klage. Und immer richtig.
Wie alt sind wir geworden? Was wird uns heute noch wichtig sein? Ich schreibe deinen Namen, fein addiert. Mal um Mal, hundert mal. Haben, nicht halten.

Montag, 24. April 2006
Die Schweizer Fotografin Alexandra Crespi ist so eine, die geht nah ran. Mit einem Punch, wie ein Boxer, hart, ein wenig roh vielleicht. In ihren Porträts holt sie die Menschen und Körper aus dem diffusen Raum, entkernt die Schatten und entblößt die Gesichter, zerbeult, getroffen, schutzlos, all battled und bruised. Genau anders herum ihre Raumerkundungen. Der nackte Körper scheint in den kargen, zerschlagenen Raum zu diffundieren, sich aufzulösen, in Wände, Struktur und Verfall. Technisch recht simpel, unaufwendig. Begrenzte Zonen aus Licht und Schärfen als wiederkehrender Stil. Aber immens beeindruckende Protagonisten.

Freitag, 21. April 2006
Zu den schönsten Flohmarktfunden zähle ich alte Scrap-Books und Fotoalben. Hin und wieder kaufe ich ein paar Sachen, so wie der Held aus One Hour Photo, und denke mir die fehlenden Geschichten aus.
Vor fünfzehn Jahren ging ich spät nachts noch durchs regnerische Tal auf dem Weg zu meiner Freundin und wurde durch einen wahren Schatz vom Wege abgebracht. Es war Sperrmülltag, und jemand hatte säckeweise alte Fotos rausgestellt. Vieles war naß geworden und zerstört, vieles andere war einfach viel zu viel, aber eine kleine Tüte voll habe ich doch gerettet. Seit Jahren liegen sie in einer Blechdose verstaut: Eine Familiensaga vom 1. Weltkrieg bis in die 50er Jahre, als einer der Söhne in Amerika heiratete.
Die Familie, kleine Fabrikanten, so vermute ich, tritt noch heute ab und an aus den Schatten des Vergessens heraus. In Fotos, die beide Weltkriege zeigen, Interieurs, Ausflüge und die großen und kleinen Festlichkeiten. Leider sind die meisten Bilder undatiert (Kleiner Hinweis: immer schön Fotos hinten beschriften, falls ich die mal auf dem Flohmarkt finde. Vielen Dank.), was die historische Einordnung erschwert, die Fantasie aber um so mehr anregt. Sozial- und kunstgeschichtlich eine hübsche Aufgabe, mehr noch aber ein Steinbruch unendlicher Assoziationsketten.
Demnächst stelle ich das ein oder andere näher vor.

Donnerstag, 20. April 2006
Sie sind wie Krebse. Mit ihren Scheren klammern sie sich an das bißchen, was sie haben, gehen immer nur noch seitwärts, beharrlich, stur. Und ängstlich vor jedem Schritt nach vorne.

Mittwoch, 19. April 2006
It's got to hurt a little bit.
(New Order, "Subculture")

Die Karfreitagsprozession in Wuppertal - im Volksmund auch Regenschirmprozession genannt aufgrund der oft schwierigen Wetterlage im Tal - hat seit Jahren eine feste Tradition. Während sich anfangs nur ein paar hundert Leutchen, Mitglieder der italienischen Gemeinde zumeist, in der Stadt versammelten, um den Leidensweg Christi nachzustellen, ist das ganze mittlerweile zu einer durchorganisierten Großverstaltung gewachsen. Die Darsteller tragen drahtlose Mikrofone, die Kostüme sind aufwendig und das (Er-)Barmer Blasorchester fügt den inbrünstig gemurmelten italienischen Gebeten von der Maria voll der Gnade die nötige bergische Schwermut hinzu.
Man muß sich das mal vorstellen: da vermissen italienische Gastarbeiter ihre katholischen Traditionen aus Süditalien und beginnen, diese in einer Stadt, die das Feiern nur im Verborgenen kennt, aufleben zu lassen. 5000 Menschen folgten dieses Jahr dem feierlichen Zug auf die Wuppertaler Höhen. Bei weitem nicht nur Italiener, und so kam es nicht von ungefähr, daß in der zweisprachigen Predigt der Zusammenhalt und die Toleranz der Kulturen und das gute Zusammenleben von Italienern und Deutschen hervorgehoben wurde. Multikulti mag tot sein, in solchen Momenten funktioniert es einfach. Und man muß nicht an den allmächtigen Schöpfergott glauben, um universelle Lebensweisheiten über Opferbereitschaft, Liebe, Verrat, Tapferkeit, Erniedrigung und Hingabe für sich abzuleiten. Wer einmal eine größere Darbietung volksfrömmiger Hingabe erlebt hat - Ste Anne de Palud ist ein weiteres Beispiel - muß schon hart im Herzen und hochmütig im Geiste sein, will man sich den tieferen Botschaften verschließen.
Eingestimmt wurde ich, als ich eine Exfreundin aus seligeren Wuppertaler Tagen traf, die ihre Haare nach wie vor leuchtsignalfarben unübersehbar trug. Vor ein paar Jahren entdeckte sie meine grauen Strähnen und meinte in der ihr eigenen Herzlichkeit, "alt bist du geworden". Nun dachte ich ebenfalls, ein wenig uncharmant vielleicht und daher nur leise, "alt ist sie geworden", so wie man es an seinen Kindern merkt, wie die eigene Zeit vergeht.
Wer keine Kinder hat, wie ich, liest den eigenen Verfall nicht am Flug der Vögel ab, sondern am Werden und Vergehen der ihm gut bekannten Menschen. Aber was rede ich, sie sah natürlich, anders als ich, sehr gut aus und ihr aktueller Freund vielleicht sogar eine Spur besser noch. Was immer irgendwie blöd ist, erwartet man von seinen Exfreundinnen doch die Höflichkeit, daß sie sich - wenn sie schon nicht ins Kloster gehen - wenigstens verschlechtern mögen und beispielsweise an eben dem langweiligen Typen hängenbleiben, den man früher in der Schule immer verlacht hat.
Dergestalt also an die Tugend der Demut erinnert, war ich innerlich bereit für das Spektakel, das nun folgen sollte.
Der Herr Jesus wurde wie in den Vorjahren von einem feschen jungen Italiener gespielt, dem mit seinem unschuldigen Gesicht, der blutenden Stirne und dem zerzausten Haar sicher einige jungfräuliche Herzen vom Wegesrand aus zuflogen. Seine Mutter heißt übrigens Maria, was seiner Glaubwürdigkeit in fast unerschütterliche Höhen überführt.
Im Deweerth'schen Garten beginnt die Prozession traditionsgemäß mit dem Gebet von Gethsemane und der berüchtigten Szene, wo der verschlagene Judas dem lieben Herrn Jesus den verräterischen Kuß gibt. O, falsche Freundlichkeit, du herzlose Natter! Man kennt diese Bussi-bussi-Gesellschaft.
Auf dem Laurentiusplatz, gegenüber dem Kaffee Engel, wusch bald Stadthalter Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld. Das Volk skandierte und schickte Jesus endgültig in den Tod.
Auf dem Rathausmarkt, am Neptunbrunnen, residieren für gewöhnlich Randständige und konsumieren ihr Bier. Man meint ja, daß die sich heute schwer gewundert haben dürften, als plötzlich ein paar tausend Menschen aus der Fußgängerzone auftauchten und sich um sie herumgruppierten, darunter eine Gruppe Römer in voller Montur, die sozusagen einen der ihren drangsalierten. Doch nicht so im bibelfesten Wuppertal.
Denn nachdem die Prozession weitergezogen war, meinte einer der Berber zum Kollegen: "Ich war ja zwei Jahre im Kloster, woll."
"Ach watt."
"Doch, war so. Un' ich kenn die Geschichten nämlich alle."
Nicht ganz so die Lage auf der Hardt. Die Wuppertaler Parkanlage wird jedes Jahr zum Golgatha, dem Schädelberg. Nachdem ich die Anhöhe mühsam erklommen hatte, bot sich mir ein tolles Panorama auf eine Kavalkade bußfertig erhobener Regenschirme, denn pünktlich zum traurigen Höhepunkt der schmerzensreichen Leidensgeschichte, hatte sich der Wuppertaler Himmel bedrohlich verfinstert.
Genervte, aber in Bibelkunde versierte Väter hievten ihren neugierigen Nachwuchs auf die Schultern und mußten den nur diffus vorinformierten Blagen geduldig die Sachlage erklären.
"Ist der Jesus jetzt tot?"
"Noch nicht. Gleich."
"Ist jetzt gleich? Ist er jetzt tot?
"Dauert noch ein bißchen."
"Wenn der Jesus tot ist, können wir dann gehen?"
In diesem Augenblick wurde mir klar, daß es es diese einfühlsamen Kommentare vor 2000 Jahren sicherlich bereits auch schon gab. Als schaulustige Väter ihren Kindern die Geschehnisse auf dem Richtplatz erklären mußten. Höchstwahrscheinlich, so möchte ich vermuten, fiel dabei aber nicht der Satz "Willst du noch ein Stück Schokolade, Anna-Maria?"
Die melancholischen Posaunen erklangen und die Menge fand mit schwankenden Stimmen in das Lied von Paul Gerhardt. Immer wieder griff ich in meine Tasche voller Dornen, und ich schwöre, am Ende zeigte meine Handfläche ein ganz klein wenig Blut.
Die Kreuzigung war übrigens sehr schön.
