Donnerstag, 9. Juni 2005


Vom Lesen und Lernen, II

Ausgebombt

Wahre Werte und eine antiidyllische Lebensanschaung vermittelte mir das zweite wichtige Buch in meinem Leben: Der bunte Tag. Dieses Lesebuch "für Volksschulen" (3. und 4. Klasse) stammt von 1951/54, war damit über zehn Jahre älter als ich und vermittelte in Gedichten, Märchen und Erzählungen einen Blick auf eine Welt, in der harte Arbeit wahren Lohn brachte. Grimmig und unsentimental ging es zur Sache, eben ganz wie daheim.

"Ich hatte sieben Geschwister", beginnt die erste Geschichte, die von den Steckrübentagen gegen Ausgang des Winters erzählt. Das "Abenteuer auf der Eisenbahn" beschreibt,wie fast ein großes Unglück passiert wäre, weil Kinder mit einem leerstehenden Waggon spielten. Schön ist auch "Der Verkehrsteufel":

Schrumdibumm, schrummdibum,
täglich bring ich ein paar um.
Schreibt's euch hinter beide Ohren:
Wer nicht aufpaßt, ist verloren!

Die Geschichte beginnt mit einem Satz voller Zeitkolorit für jemanden, der selbst noch auf Trümmergrundstücken spielte: "Als Kasper, der Freund der Kinder, in die zerbombte Stadt zurückkam, schickte er sich an, den Verkehrsteufel zu fangen."

Dieser finstere Geselle frönt einem makabren Spaß: "Der Schrei der Überfahrenen, das Wimmern der Verletzten ist Musik in meinen Ohren." Dann lockt er Kinder auf die Straße und... Ja, das waren Sätze, die mich bang und bänger machten. Verkehrserziehung war damals keine Kuschelpädagogik!


Andere Geschichten tragen Titel wie "Aus dem Tag einer Schaffnerin", "Mittags am Fabriktor" (wie den arbeitenden Vätern und Brüdern der Henkelmann gebracht wird), "An der Tankstelle", "Beim Kohlenbrenner" oder "Wie ich das Industrieland lieben lernte". Da wird über die Hochöfen und Stahlwerke, das Land und die Leute im Ruhrgebiet geschrieben: "Du wirst nachdenklich und still, wenn du das gewaltige Werk siehst. Der Mann im grauen Arbeitskleid ist unser Freund und Kamerad. Wer das Industrieland richtig kennenlernt, der muß es auch bald gern haben."

Dazwischen sind Märchen, Lieder und Gedichte gestreut. Bürger, Hebel, die Brüder Grimm, Storm und Rosegger sind die Autoren. Bis heute beeindruckt haben mich als Knirps die vielfältigen Geschichten über Behinderte und Außenseiter. "Der dumme Frieder" z.B. ist so einer, der immer gehänselt wird, sich am Ende aber als Held erweist, oder Arabella, das Zirkuskind, das von den anderen argwöhnisch betrachtet wird. Echte Tearjerker aber sind die Geschichten von den Bethelkindern. So wie die, in der "Mariechen", das Mädchen mit dem riesigen Wasserkopf, und das gehbehinderte "Fritzchen" Weihnachten feiern.

"Im dritten Jahr des großen Krieges lagen in einem Krankenzimmer von Bethel zwei Kinder." Da rührt sich was, bei arbeitsscheuen Hypochondern und anderen lesenden Sentimentalisten. Ab und an kamen mit einem weiteren Blick auf die damalige Alltagswirklichkeit Kriegsverwundete zu Besuch:

Ein blutjunger Bayer [...] hatte ein Bein verloren, dazu fast das ganze Augenlicht, auch sein Leib war schwer zerschossen. Er fragte Mariechen, ob es nicht schrecklich sei, jahraus, jahrein so still liegen zu müssen. "Ach, sagte Mariechen, und ihre helle Stimme schallte durch den ganzen Raum, "man muß eben geduldig sein."

Peter kommt ins Krüppelheim

Jaja, Geduld. Dulden und so weiter - das fand der "junge Bayer" dann auch. Ergreifend. Nicht jammern, weitermachen, Ruhe als erste Bürgerpflicht - so waren sie, die 50er Jahre. Und so wird bald alles wieder sein.

Aber auch das war nur eine Vorbereitung auf den Höhepunkt gegen Ende des Lesebuchs. Was passiert, wenn der Verkehrsteufel zuschlägt, erfährt man nämlich auf drastische Weise in der absoluten histoire verité "Peter kommt ins Krüppelheim". Eine Straßenbahn hat dem unachtsamen Buben die Beine zermalmt, und nun kommt er zu den anderen jungen Leuten ins Josefsheim, erhält ein Holzbein und eine künstliche Hand und muß nun lernen "die linke Hand zu gebrauchen". Bürstenmacher kann er werden oder Anstreicher, Bäcker oder sogar Schlosser. (Oder Pflasterverkäufer.)

Die Schwester führt ihn herum auf dem Klinikgelände, wo er nun leben wird und wo es Wälder, einen kleinen Bauernhof und einen Spielplatz gibt. Bald lacht Peter mit den anderen Kindern, sitzt im Sand und baut einen Tunnel, denn "das geht auch mit einer Hand".

Die Schwester sieht das und freut sich mit; denn sie hat ja nichts lieber als frohe Kinder, die vergessen, daß sie im Krüppelheim sind.

So freut man sich eben, wie man kann. Mein echtes Lesebuch in der Grundschule kam mit seinen öden Geschichten über eine Gärtnerfamilie nie an den grimmigen bunten Tag heran. Ich vergaß es neulich zu erwähnen, als die Bücherliste herumging. Aber Der bunte Tag kommt auf jeden Fall mit auf meine einsame Insel.


 



Hinter Gittern

Vergessene Perlen aus einer Zeit, in der so vieles möglich war: Maria Schell in einem (wenngleich zahmen) Frauenknastfilm von Exploitation-Altmeister Jess Franco. Der heiße Tod. Auch eine Betrachtung wert.

Super 8 | von kid37 um 14:03h | 3 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 8. Juni 2005


Vom Lesen und Lernen, I.

Doktor Seidelbast und der faule Puck

Vielleicht nicht mein erstes Buch, aber das, mit dessen Hilfe ich lesen lernte, war Doktor Seidelbast. Noch heute weiß ich den Anfang auswendig, "'Hatschi, Hatschi!' niest Dixie das Wichtelkind." Hunderte Male mußte meine Mutter mir die eindringliche Geschichte vom kranken Wichtelkind Dixie vorlesen, das mit dem Heuschreck und dem Käfer im Regen getanzt und sich in der Folge bös' erkältet hatte. Ein Besuch beim guten Doktor Seidelbast war unabwendbar, in der Waldapotheke wurde eine Arznei angefertigt ("Ein Deka Salbei..."), die Freunde kamen zum Krankenbesuch, die besorgte Mutter hegte und pflegte, und am Ende - man hielt es als junger Leser kaum noch aus vor Spannung - schien die liebe Sonne wieder und alle waren froh und gesund.

Oft lag ich in Sichtweite meiner Mutter, die meist an der Nähmaschine beschäftigt war, auf dem Boden herum, blätterte wichtig in dem illustrierten Buch und murmelte aus der Erinnerung, aber schon mit dem Finger unter der Zeile, die Geschichte herunter. Bis sich eines Tages, und ich behaupte, ich kann mich an den Moment genau erinnern, sich die wild durcheinandertanzende graue Buchstabensuppe plötzlich zu Worten und Sinneinheiten formte. Ich konnte lesen! Es war ein Augenblick wie beim Fahrradfahren oder Schwimmen - auf einmal ging es, ich wußte selbst nicht wie, und es wurde nie mehr verlernt. Aufgeregt sprang ich zu meiner Mutter, den Finger auf den Seiten, stolzgeschwellt und erklärte ihr gewichtig, was dieses oder jenes Wort zu bedeuten habe. Noch hatte ich bei längeren Worten Schwierigkeiten, aber der Durchbruch war geschafft.

Die Gesellenprüfung war die zweite Geschichte in Doktor Seidelbast:

"Der faule Puck" war eine weitere Variante der bekannten Fabel von der Grille und der Ameise. Nur daß diesmal ein bequemer Waldgnom den Sommertag einen guten Mann sein ließ, während Familie Eichhorn fleißig Nüsse und Eicheln für die kalte Jahreszeit sammelte. "Der Winter ist doch noch lange hin", erklärte unser Hippie-Wichtel lässig und spielte auf seiner Fidel. Aber eines Tages - o weh! - erwachte der alte Gammel-Puck vom eisigen Wind, der durch den Wald fegte, und bald hatte sich Schnee über Gras und Bäume gelegt. Da war das Zähneklappern groß, denn aus war es mit fetten Früchten, die verlockend von den Zweigen hingen.

So faul der Puck aber war, so tapfer war er auch. Als nämlich das verirrte kleinste Eichhornkind von einem bösen Marder (oder war es ein Fuchs?) attackiert wurde, griff der Wichtel ein und schlug das Raubtier in die Flucht. Puh, das war knapp! Aus Dankbarkeit nahm Familie Eichhorn (die schon total in Sorge war) das verfrorene Männchen bei sich auf, steckte ihn unter dicke Daunen und Mutter Eichhorn servierte eine köstliche heiße Suppe. Nun ja, et hät noch immer jot jejange! sagt dazu der Rheinländer bekanntlich.

Nach diesen ersten beiden prägenden Leseerfahrungen wird sicherlich klar, warum aus mir am Ende ein arbeitscheuer Hypochonder werden mußte.


 


Dienstag, 7. Juni 2005


Vive les Bouquinistes!

Einmal im Jahr, zur "Nacht der Kirchen", findet rund um die kleine Kirche in meiner Nachbarschaft ein Bücherbasar statt. Jedes Buch 50 Cents, so lautet die Losung des Wochenendes. Dazu gibt es von gütigen Händen selbstgebackenen Kuchen und Blümchenkaffee zu Preisen der Nachkriegszeit. Große Rührung und Begeisterung inklusive.

Das unbeständige Schau(d)erwetter sorgte unter den Planen im Pfarrgarten für wohlige Stimmung. Während man generationenübergreifend köstliche Kuchenkreationen verspeiste, tobten Blitz und Donner und ergossen sich biblische Regenfluten über dem zitternden Segeltuch. Aber fest steht das Kreuz, mag auch der Erdball wanken. Ich denke, das war bloß der Stoff, aus dem die Gesprächsthemen der alten Leutchen der nächsten drei Monate gewoben wurden.


Für jeweils 50 Cents mag ich mich über
Djuna Barnes, Die Nacht in den Wäldern (Wagenbach)
Charles Baudelaire, Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris (Diogenes)
G. G. Márquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera (dtv) und
Gertrude Stein, Q.E.D. (Suhrkamp) ergötzen.

Und ganz besonders freue ich mich, daß ich den mittlerweile vierten Pitigrilli-Band in der hübschen Rowohlt-Ausgabe mit den Holzschnitt-Covern von Hendrik Dorgathen erstanden habe. Die Erzählungen aus Der falsche Weg werden mich hoffentlich auf den richtigen führen.

Danach zur Elbart. In über 20 Metern Tiefe präsentieren Künstler in der 420 Meter langen Röhre des alten Elbtunnels Fotografie und Malerei. Wie schon häufiger, überstrahlte aber auch dieses Jahr der Austragungsort ein klein wenig die Qualität der Werke. Jedenfalls, was das große und ganze angeht. Dennoch: ein bemerkenswertes Projekt, das immerhin Jahr für Jahr ein paar tausend Menschen zur Kunst bringt. Ein netter Wochenendspaß ist es allemal. Ist es.


 


Montag, 6. Juni 2005


Beinkleid der Woche

Man kann eben alles auf die Spitze treiben. Yuko Shimizus Illustrationen von Strümpfen eines bestimmten Musters.

(Ich will hier nicht zuviel verraten!)


 


Montag, 6. Juni 2005


Bitkraft

Solche Seiten erinnern mich immer daran, daß ich das Hermetische Café mal wieder optisch überarbeiten könnte. Oder eine andere Webseite.
Die Seite Bitkraft des kanadischen Designers Philip Glofcheskie besitzt diesen charmanten Retro-Touch zwischen le Grand Guignol, viktorianischem Maschinenzeitalter, dem L'Age d'Or du Fetishisme und der ebenso goldenen Zeit der Radiobastler.

Von dort übrigens die Links auf Das Kafka-Projekt und alte Polnische Radios. (via Wurzeltod)


 


Freitag, 3. Juni 2005


Malignes, Benignes

Mißmut legt sich über alles. Wie eine Decke aus Gleichgult. Ennui wäre schon zu aufgeladen. Morgens in den Spiegel und schauen und aus der unrasierten Haut "War da was?" murmeln. Kann man machen. Kann man auch nicht machen. Gestern ungefähr 20 Kubikmeter altes Papier entsorgt. Augeschnittene Zeitungsartikel, aufbewahrte Magazine. Kategorie: Was ich noch lesen wollte. Jetzt war es zu alt, um es noch zu lesen. Und noch nicht alt genug, um es unbefangen oder mit Entdeckerlust neu zu lesen.

Oder wenigstens in Ehren aufzubewahren. Nun ist es weg. Und natürlich ist kein Unterschied zu sehen, der Stapel ist immer noch hoch genug. Am Wochenende ist Bücherbasar. Ich habe eine Tüte als Spende bereitgestellt. Und werde wahrscheinlich mit zwei Tüten zurückkehren.

Mit den Erinnerungen verhält es sich ähnlich. Man pflügt und wühlt und trägt den alten Plunder zum Sammelcontainer. Und ist überrascht, wieviel sich immer noch findet. Unvermutet. Zwischen den Seiten alter Bücher. Vermengt unter den Wollmäusen. Man schaut unter das Eisenbett auf der Suche nach dem Nachtmahr. Oder aus anderen Gründen. Es findet sich und findet sich. Und sei es nur, weil jemand fremdes in die staubigen Ecken leuchtet.

Der Pathologe rät: Immer im Gesunden schneiden.


 


Donnerstag, 2. Juni 2005


MetaMetaMeta

Ich habe es jetzt auch gelesen, sagt sie. Es klingt alles so, nun ja, herablassend.
Sag' ich doch, sage ich.
So schwer nach, "ich weiß ganz doll Bescheid".
Ja, meine ich. Demut ist eben ein hartes Brot.
Ich bemerke, es sei Ein Kessel Ödnis, und sie lacht.
Manche wissen eben, wann man die Klappe halten muß, meine ich. Andere prahlen herum. Das ist schon bitter.
Nimm doch noch ein Stück Ananas, sagt sie und grinst mich an. Dann lachen wir beide los, ein wenig frech und wirklich nur ein kleines bißchen zu laut.