Donnerstag, 1. August 2019
Wien ist immer gut gekleidet. Männer halten stets einen Ersatzkragen in der Tasche bereit, die Damen tragen fesch und extravagant vor der Staatsoper oder abends zur Burg auch Klimperbehang. Im Vergleich dazu ist Hamburg leider grau und trostlos oder eben ein Szeneviertel im Kapuzenpulli. Nur Ringelhemden, die gehen immer. Auch ganz ohne Kragen und Klimperbehang.
Ich sag mal nix dazu, aber wenn ich nach Wien komme, hängt man mittlerweile die Ringelstrümpfe raus. Sehr charmant, ich bleibe stoisch, freue mich aber innerlich. Überhaupt die Aufmerksamkeit und Freundlichkeit der Menschen. Grantler kenne ich dort nicht. Das ist eben der sprichwörtliche Wiener Wald: Wie man reinruft... usw. Ebenso stoisch nimmt man dort meine piefkeschen Versuche hin, Weanerisch zu reden. (Kellner spucken mir möglicherweise in die Suppn dafür, aber höflicherweise nie vor meinen Augen.)
Es sind die Widersprüche dieser Stadt, die ich reizvoll finde. Vieles geht mit Augenzwinkern, manches provozierend langsam, die Läden heißen mit weichem B wie ein Kinderabzählreim: Beständig, Bipa, Billa. Manches neu, vieles alt, anderes verborgen. Obskures atmet einen überall überraschend an, im 1. Bezirk gibt es laut Türschild so etwas wie einen "psychoanalytischen Waffengutachter", das kann man sich für Romane nicht ausdenken.
Irgendwo trällert ein Sopran, irgendwo wird laut gekeucht. Irgendwo ist gerade Pensionistentag, irgendwo wird grad gestorben. Vor dem Haus steh'n schwarze Pferde. In Hamburg, der Freien und Abrißstadt, wäre das alles schon entwickelt und entsorgt, umgewandelt in ein Containerlogistikzentrum, ein Musicaltheater, ein Bürokomplex. Erinnerungen macht man besser anderswo.