Sonntag, 26. August 2018
City people in the dark
Speak to us, send us a sign
Tell us something to keep us trying
(P. J. Harvey,
"Whores Hustle And The Hustlers Whore")
Der Sommer war groß - und auch in New York unerbittlich. Da heißt es, Sonnenbrille aufsetzen, Strandtasche packen und an die Küste zu fahren. Es ist ein weiterer heißer Tag, vielleicht noch heißer als die davor. In Coney Island verbrennt die Sonne die Menschen und die Mermaids, die versuchen, über den glühendheißen Sand ans Wasser zu kommen. Ich lasse das mal. Goths on the beach ist zwar ein Trend, ich selbst aber befürchte sofortiges Verdampfen.
Menschen tauchen auf, Menschen tauchen wieder unter - die Wellen an Stränden sind so, und so ist auch das Großstadtleben. In Coney Island gibt es Seenotbesteck und Hilfe für alle Arten von Verletzung - Sonnenbrand und Seeigelstachel, Skorpionstiche und eingetretene Glasscherben, verdorbene Sandwiches und anderes Gemach und Ungemach. Ich habe die Holzkeulen für die Lichtgymnastik vergessen und schaue derweil den ledernen Körpern alternder Männer und attraktiven Bikinimädchen vor den überdimenionierten Kameralinsen großer Jungs zu. Alle gehen hier ihren Gewerken nach, die einen stiller, die anderen laurter. Allen kullert Schweiß von der Stirne, wie einem ehrlichen Arbeiter. Mir auch.
Im Dokumentarfilm Sleepless in New York verliebt sich eine Meerjungfrau auf der Coney Island-Parade. Sie küssen sich vor dem Aquarium mit den Haien, und erst später wird er sie verlassen. Das sind die Geschichten, bei denen Mascara nicht nur von der Sonne verschwimmt. Man kann auch diesen Spuren nachgehen, ich komme hundert Jahre zu spät für die großen Vergnügen entlang der Promenade, aber auf dem Spaziergang von Brighton Beach kann man das ein oder andere noch nachfühlen.
Vor dem Wonder Wheel ein Selfie. "Glauben Sie an Wunder?" Dieser schattenlose Platz bietet keinen Raum für Ausflüchte. Vielleicht ist alles, wie es ist, ganz gut. Das Rad dreht sich weiter, heißt es. Das Rad hat sich weitergedreht. "Too many people out of love", heißt es im Lied, das Leben wie so ein Thunderbolt-Vergnügungsfahrgeschäft. Und, hui, wird das schnell.
Auf und ab also, wie die Geschichte dieses Vergnügungsparks. Weil die Leute einfach nicht stillsitzen können. Es wird gekreischt, angeblich aus Vergnügen, ein Eingreifen ist nicht nötig. Zögernd nehme ich die Hand vom Nothalt. Man will ja nur helfen, soll sich aber nicht einmischen, ja, bitte, danke, dann also nicht. Die Regeln sind ganz schön kompliziert da draußen. Menschen.
Hundert Jahre zu spät, so der Titel meines Debütromans, bedeutet auch, die obskuren Schauen zu verpassen, die heute trotz Rufen nach Diversität gar nicht mehr gezeigt werden dürften. Vorsichtig verstecke ich meinen dritten Arm unter der Jacke. Im kleinen Shop des kleinen Museums zur Geschichte der Side Shows in Coney Island treffe ich ein deutsches Pärchen, das entzückt feststellt, daß man die Germanz immer bei den Freaks antreffen würde. Ich wollte nur helfen, wie gesagt.
Ich kaufe ein kleines Buch über die Geschichte des Örtchens und des Luna Parks, wische weiter Schweiß ab, schaue mir die vergessenen Plakate für die Mermaid-Parade an. Nächstes Jahr will ich dabei sein und Bildungsurlaub beantragen. Hier auf der Schule kann man einiges lernen. Neun-Zoll-Nägel in die Nase schieben. Schwerter schlucken, Hypnose und Menschenbeeinflussung üben und Feuer ausspucken. Alles Dinge, die man auf meiner Arbeitstelle gut brauchen kann.
>>> Geräusch des Tages: P. J. Harvey, Whores Hustle And The Hustlers Whore