Dienstag, 4. September 2018


NYC #9 - Horses In My Dreams

Horses in my dreams
Like waves, like the sea
On the tracks of a train
Set myself free again

(P. J. Harvey, "Horses in My Dreams")




Menschen tauchen auf, Menschen tauchen unter. Manchmal soll man eben nur den Pferden trauen. Frei dem eigenen Treiben nachgehen. Ebbe und Flut. Vor ein paar Jahren habe ich wohlgemut und einer erkundenden Wissenschaft verpflichtet das Morbid Anatomy Museum unterstützt und auch das Buch von Joanna Ebenstein, einer der Gründerinnen. Kollegen dort vorbeigeschickt, wenn sie in der Nähe waren. Leider mußte das Museum als feststehendes Gebäude schließen. Dinge tauchen auf, Dinge tauchen unter. Und ploppen dann unvermutet just in diesen Wochen wieder auf als Pop-up-Museum auf dem Green Wood Cemetery in Brooklyn.



Als Hamburger ist man mit dem als ausufernde Parkanlage ausgemalten Ohlsdorfer Friedhof recht verwöhnt, aber der Green Wood hat ganz eigene Reize. Einen großen Stilmischmasch zum Beispiel. Von Freimaurerpyramiden über Katakomben bis hin zu der mit Ledersesseln im modernen Lounge-Stil gehaltenen Trauerhalle der italienischen Community (Sterben mit Stil) finden sich Grabstellen vieler Art. Dafür fehlen die in Europa so beliebten Engelfiguren, halbbedeckten Trauerdamen und kindlichen Grabkranzhalter.



So wie ich die Mermaid Parade auf dem Hinweg verpaßt habe, nicht aber die Mermaids, so verpasse ich die Gartenparty zum Abschluß der Sommerexkursion, nicht aber eine handvoll hitzegeplagter, schwarzgekleideter Vampirbräute und -schwestern. Denn immerhin schaffe ich es noch zu einem melancholischen Sommerwochenende, an dem man sich dort in flüsternder Runde Tarotkarten legen lassen konnte, in der im alten Torhaus aufgebauten Bibliothek (anything death) stöbern und Exponate und das akribisch nachgestaltete Modell bewundern, das in allen Details (bis hin zu den Toiletten) das alte Gebäude abbildet.



Leider habe ich meine Wasserflasche vergessen, was sich nach einigen Stunden bei fast 30 Grad bemerkbar macht. Ich esse einen letzten Apfel auf ein paar steinernen Stufen und rufe, so wie ihr es auch getan hättet, mir die die tröstenden Zeilen aus Wordsworths "Lines Composed a Few Miles above Tintern Abbey" ins Gedächtnis, die da sagen: "The mountain, and the deep and gloomy wood/Their colours and their forms, were then to me/An appetite". Oder ein Durst. Vielleicht, so denke ich naturverloren, kann ich hier auch übernachten, im kühlen Schatten eines der zahlreichen schmucken Letztzeitgebäude, und den ersten Tau lecken, der von Zedern fallen wird.



So poetisch kann man als frivoler junger - oder auch vertrockenter älterer - Mann auf Friedhöfen werden! Antennen recken ihre Spitzen in höhere Dimensionen, Obelisken empfangen Botschaften, ich kritzle obskure Zeichen in mein Notizbuch und überlege, während ich eine Silberkugel lutsche, wo auf dem Hinweg zuletzt ein Büdchen stand. Führt geweihtes Wasser mit euch, wenn ihr an Grüften und Katakomben entlangspaziert! Nun weiß ich auch, warum dieser Rat im Reiseführer aus dem Van-Helsing-Verlag stand.



Dämmerung setzt nämlich ein. Der Friedhof wird bald schließen, noch aber liegen einige gewundene Wege vor mir, die weder der nicht nach Norden ausgerichtete Faltplan noch mein mobiles Telekommunikationsgerät verlaufsfrei abbilden. Eine zeitlang sah ich in wechselweiter Nähe oder Ferne eine junge Frau mit Kamera herumstrolchen. Die ist nun weg, und auch sonst niemand mehr zu sehen. Die Sonne senkt sich. Viele der hier Begrabenen, so lese ich auf den Grabsteinen, sind Holländer. Venlo? Venlo? rufe ich leise, so wie früher, wenn man über die Grenze fuhr.



Wind zischelt durch die Zweige. Blätter rauschen, die Vögel sind längst schon still. Meine Zunge ist am Gaumen festgeklebt. Ich weiß aber, und das ist meine letzte Hoffnung, daß ich nur mein vollgeschwitztes Hemd in der hohlen Hand auswringen müßte für eine letzte Notration. Denn wo so viel Tod ist, möchte ich heute nicht sterben, nicht auf fremder Erde, Mama.



Im Delir wanke ich dem Ausgang zu. Hier gibt es Wasser. Junge Paare, die auf Wiesen sitzen und mich anstarren, wie eine Erscheinung. Wie einen Ghoul! einen Wermann! einen Zombie! Ich saufe eine Pferdetränke leer, dort, wo die schwarzen Kutschen schon im Halbdunkel auf mich warten.

>>> Geräusch des Tages: P. J. Harvey, Horses In My Dreams