Montag, 10. April 2017
Eine der Lebensweisheiten, die mir durch meinen Vater überliefert wurden lautet: "Freundlichsein kostet nichts". Viele sind ja selbst dafür zu geizig, und manchmal geht selbst mir so eine gewisse Muffeligkeit durch, die ich wohl anderweitig aus dem Genpool gefischt haben muß. Heute aber grüßte ich beim Heimkommen die neue Nachbarin recht freundlich, die gerade draußen vorm Haus an die Müllcontainern suchte. Sie aber würdigte mich keines Blickes, und so erfuhr sie auch nicht, daß man besser nicht die defekte linke Containeröffnung benutzen sollte, weil sonst nämlich der Schlüssel stecken bleibt. Das aber erfuhr sie dann gleich auch so, ganz ohne meinen Beirat. Besorgt wie ich bin, läuerte ich aber weiterhin freundlich von oben mit meinem Spähauge durch die Gardine und sah sie dort immer noch Rütteln und Zerren. Das kann also noch länger dauern, ich überlege, überaus freundllich gesinnt, gleich eine Thermoskanne Tee aufzusetzen und ihr runterzubringen.
Ich könnte ihr aus meinen neuen Büchern vorlesen, von denen mir mal wieder niemand was erzählt hät. Zum Glück aber komme ich auch so drauf. Da gibt es diesen englischen Grafiker Graham Rawle, der mit feinem Blick und noch feinerem Skalpell ganz bezaubernde Bücher herstellt. In Woman's World erzählt er eine Geschichte, die komplett aus Sätzen collagiert ist, die er fein säuberlich aus mehreren Jahrgängen Frauenzeitschriften seziert hat. Ich habe den Anfang gelesen, und es funktioniert erschreckend gut. Man ahnt recht bald, wieviele stehende Wendungen es aus diesem Themenbereich gibt, und so ist es auch eine kleine amüsante Studie über Stereotypen. Rawles britischer Humor garantiert dabei für einige skurrile Einfälle, ich hoffe, das bleibt bis zum Ende so.
Für mich noch putziger (und entlarvender) ist das fiktive Diary of an Amateur Photographer, das aus Briefen und kleinen Essays, Teststreifen und Probeaufnahmen, Notizzetteln und Hinweistafeln faksimiliert ist. Das Szenario ist hübsch in eine art Detektivgeschichte gefaßt und spielt Ende der 50er-Jahre, das Buch enthält kleine Schnipsel mit Zeitungsanzeigen für Rolleiflex-Kameras, Ausschnitte aus "Girlie"-Magazinen mit allerlei Nylongedöns und was ein Amateurfotograf halt so alles braucht und sammelt. Ich könnte, so fällt mir dabei ein, die Nachbarin an der Mülltonne auch freundlich fragen, ob ich sie fotografieren darf.
Graham Rawle. Diary of an Amateur Photographer. London: Picador, 1998.
Graham Rawle. Woman's World. London: Atlantic Books, 2005.