Montag, 12. Oktober 2009


Eine andere Währung schaffen



Wenn ich im Leben eins begriffen habe, dann, wie alles mit allem zusammenhängt. Während ich also im strömenden Regen zum Lebensmittelmarkt ziehe, begegnet mir einsam am Straßenrand ein totes Kaninchen, das glasigen Auges und nass wie eine Katze bei Hemingway im Grase liegt. Ich werde noch darauf zurückkommen. Abends dann, ich springe jetzt wie ein Hasenartiger über den Assoziationsrasen, zu Schlingensief, ein Benefizabend für sein Afrikaprojekt. Ich bin dem Mann ja auf vielfältige Weise verbunden, was im Detail auszuführen jetzt aber die Dimensionen eines Schlingensiefabends sprengen würde. In gefühlten fünfeinhalb Stunden führte er das Publikum durch einen launigen Abend, eine Kreuzfahrt durch den Kosmos Christoph, und ja, es waren einige ermüdet, genervt, enttäuscht vielleicht, aber die meisten hätten dem charmant-humorvollen Parcoursritt durch Kunst, Leben, Krebs und Zukunft noch bis in das Morgengrauen folgen wollen. In einem endlos mäandernden Bewußtseinsstrom plauderte er über das Woher und Wohin (aus den Flitterwochen, demnächst wieder Röhre, aus Gründen), nahm seine Tablette, redete dabei aber schon weiter über die Zustände in Berlin, den Öko-Familienterror vom Prenzlauer Berg, die "Künstler-" (bitte mit Anführungszeichen) dort und Vernissagenkultur, die Freundinnen, seine heldenhafte Arschlochigkeit, das Versagen, das Scheitern, die schlechten Filme und immer irgendwie halbgeglückten Projekte. Wie er seine Freundin noch auf der Berlinale verließ, weil sie ihn nicht verteidigen mochte (immerhin, sie ist den Kritikern nicht um den Hals gefallen, da hätte es schlimmer kommen können, sag ich mal), die bescheuerte Vorstellung von Loyalität also, wie aber dann Ms Swinton ("klingeling") in sein Leben trat, sie heulend durch Berlin stapften, in die Arme von Udo Kier, "United Trash" (blöderweise der einzige Film von Schlingensief, den ich hier auf Video habe), überhaupt Filmförderung, Doris Heinze (Danke, Christoph!), Grüne, Piratenpartei (Danke, Christoph!) und natürlich "Chance 2000", Wolfgangsee, und immer wieder Wien. Die Container, die "Ausländer raus"-Aktion, Du Künstler!, das Scheitern und dann doch nicht Scheitern, was ich ja überhaupt so großartig an ihm finde: das Machen, das Tun, der intensive Wille, das rastlose Vorwärts, das für buchhalterische Bedenken keinen Raum findet. Er hätte auch Blogger werden können, mit seinen Fragmenten, den Versuchen, den retrospektiven Erkenntnissen, wieviel Mist man links und rechts produziert. Blogger, hätte er nicht das Theater gefunden, die Bühne als Ort vor dem Archiv, als unredigierter Platz vor der Druckreife. Vielleicht sollten Blogger statt der Politik besser die Theater erobern. Schlingensief parodiert Kollegen, Zadek, genial, bekräftigt seine Liebe zu Dieter Roth (Danke, Christoph!), Beuys, überhaupt, die Liebe, und landet endlich in Bayreuth, dem einzigen Kosmos, der möglicherweise noch durchgeknallter ist als die Welt des Chr. Sch. Und um den Kreis zum Anfang zu schließen: Während über ihm auf einer riesigen Leinwand ein Film lief, in dem im Zeitraffer ein toter Hase zur Musik von Parsifal verweste, pumpte, atmete, seine Wunde zeigte (und ich frage mich, wieso ich für meine Lesungen nicht auf diese wunderbare Idee gekommen bin), las er aus den schrägen Briefen der Wagners an ihn, den Regisseur, eingekauft wegen seiner schrägen Ideen, die dann ganz so schräg aber bitte doch nicht sein sollten. Wenn Gudrun schreibt, so die heitere Erkenntnis, bleibt kein Auge trocken. Ich ahne, warum auch ich für meine Freunde oft so anstrengend bin, wenn ich engagiert bin, endlos erzähle, hin- und herspringe, laut werde, energisch, mit den Händen fuchtel, weit nach Mitternacht noch, aber Schlingensief hatte ja noch nicht angefangen mit dem, um das es eigentlich ging: sein Opernprojekt in Afrika. Ich erinnerte mich an ein Uni-Seminar über afrikanische Literatur, wie dort in vielen Kulturen das Konzept vom linearen Erzählen, dem Abhandeln eines Plots weniger bekannt ist als das Kreisen und Winden der oral tradition, weshalb sein geplantes Festspielhaus vielleicht ganz richtig und konsequent in Form einer Spirale, eines Schneckenhauses angelegt ist. Also genau so, wie er selbst erzählt und kreist und kreißt. ("Der kommt nicht zu Potte", murmelte ein entnervter Zuschauer und verließ den Saal; aber genau darum geht es doch, ich meine, hatte er als junger Mensch nicht auch mal einen üblen Darmverschluß?!) Das Wunden zeigen, das Schwach-sein, das Weitermachen ("Krebs, verpiss dich! Ich hab jetzt keine Zeit!"), die Idee weiterspinnen, ein System in Form zu gießen, das anders als viele Entwicklungshilfeprojekte selbst Teil einer sozialen Architektur, eines Austausches ist, in dem Geld vielleicht der Starter ist, am Ende aber das Schaffen einer neuen Währung steht. Der Beitrag, der Kommentar, das Aufgeben und Überantworten, das Archivieren des Unbekannten, Marginalen, die Förderung des Vernikularen, Vorhandenen, die Symbiose statt einer Belehrung. Ich habe das nicht alles bis ins Letzte verstanden. Aber allen Kritikern und Vertretern des "das wird doch nie was" ins Gebetbuch: Ihr seht einen Mann, der etwas tut.

>>> Festspielhaus Afrika
>>> Schlingenblog

darin: Hommage an Jacko