Dienstag, 22. April 2008
Ich glaube, ich muß mich erst einmal orientieren, ist ungefähr der Satz, den ich in Wien am häufigsten äußere. Wer ständig träumt, ohne zu schlafen, Bären auf Motorrädern und bildschöne Frauen sieht, nimmt spontan leicht die falsche Abzweigung. Dabei führen doch bekanntlich alle Wege ins Nichts, man kann bis dahin aber auf den unterschiedlichsten Wegen unterschiedlich Schönes erleben. Wenn man nur nicht vergißt, sich wenigstens ab und an in aller gebotenen Ruhe zu orientieren.
Den Kummer binde ich einfach am Naschmarkt mit nachlässiger Ruhe an einen Laternenpfahl. Vielleicht wird er gestohlen, hoffe ich, der Dieb mag auch das Halsband behalten. Vielleicht hat es geklappt, in der Nacht wird viel getrunken und noch mehr gelacht. Alles im Dreivierteltakt, mit konspirativen Geschichten, blitzenden Augen und... einer Selbstverständlichkeit, um die man keine Worte machen muß. Dann sitze ich auf einmal in einem verwunschenen Garten, genieße Kaffee und Kuchen, die Sonne unter einem blühenden Apfelbaum - und die Herzlichkeit eines echten Wiener Drei Mädlhaus. Später besichtigen wir die tolle Werkstatt, die tatsächlich in einem alten Kloster liegt, man spürt die Ruhe, und ich stelle mir vor, wie ich mit einem Aufsitzrasenmäher tagein, tagaus über die Wiesen tucker und das Gras mähe. Ich atme den Geruch von Papier, sehe, wie das Sonnenlicht die alten Maschinen streift. Überhaupt: das schöne Licht, das durch die hohen Fenster fällt. Ich darf mir etwas aussuchen zum Geschenk, ein wunderbares Leerbuch, und ich wähle das mit Böcklins "Toteninsel" als Cover, denn zweifelsfrei hat es dort auf mich gewartet. Lieben Dank, ich habe mich sehr gefreut.
Als ich beim Abflug beim Check-in nach meinem Reiseziel gefragt werde und mit zweifelsfreier Bestimmtheit "Wien" sage, mußte ich mich aber nicht erst einmal orientieren. Das, ich sage auch dies zweifelsfrei, war schlicht ein Freud'scher Versprecher. Nach der Landung in Hamburg entschuldigt man sich für den turbulenten Anflug. Ich nehme es gelassen zur Kenntnis, schließlich bin ich Wirbel am Ende meiner Tragflächen gewöhnt. Ich selbst orientiere mich weiter ganz in Ruhe.