Freitag, 14. September 2007


Reisen in Nihilon: Scharbeutz

Alles Unglück in der Welt kommt daher,
daß man nicht versteht,
ruhig in einem Zimmer zu sein.

(Blaise Pascal)




Das neue Projekt heißt Nachsaison. Der mittlerweile auch etwas in Vergessenheit geratene Zeichner Loustal hat darüber einen seiner melancholischen Erzählbände veröffentlicht (Arrière Saison): Die Zeit nach den großen Versprechen des Sommers, der flirrenden Hitze, sonnenblitzenden Blicken und gesundbraunen, wenig scheuen Körpern, die in einer kraftvoll gebogenen Kurve von den Piers und Brücken ins grünblaue Wasser schnellen.



Der Strand liegt nun ruhiger, unberührter. Stiller harren die Seebrücken, empfindlich kühl ist das Wasser geworden, niemand wagt heute den Todessprung. Der kalte Sand fühlt sich gut an unter meinen nackten Füßen, ich gehe durch die Brandung, grabe mit den Zehen fein zermahlene Muscheln um und warte auf den Sonnenstrahl, den der Wetterbericht für heute ankündigte.

Als ich mich für ein improvisiertes Picknick auf meine Kapuzenjacke setze, Himmel, Sand und Wellenschläge im Blick, durchsucht als erstes der Wind meine Taschen. Doch die Natur zeigt sich von ihrer verbindlichen Seite: Eine griesgrämige Seemöwe freundet sich bald mit mir an, während wir gemeinsam auf unsere Zukunft warten. Lange Zeit spülen die kläglichen Wellen der Ostsee nicht einmal tote Fische an Land. Mein großer Zeh bohrt sich tiefer in den Sand. "Life is very long, when you're lonely", singen die Smiths. Mein Freund, die Möwe, verzieht den Schnabel zu einem spöttischen "Hiiiiaaarrr". Auch diesen Augenblick gilt es zu genießen, erkläre ich mit wichtiger Miene, doch abgelenkt fixiert der trübsinnige Vogel just in diesem Moment starr einen fernen Punkt am Horizont.



Weiter unten am Strand ist das Häuschen der DLRG verwaist. Nur ein paar Rentner wandern am Ufer auf und ab, Leben gilt es heute wohl nicht zu retten. "We could go for a walk where it's quiet and dry and talk about precious things...", versuche ich meinem geflügelten Freund in internationaler Seemannssprache zu kommen. Die Möwe gähnt und dreht sich etwas weiter in den Wind. Dieser Strand, rufe ich laut, läßt in seiner frisch und viel zu akkurat gerechten Stille nicht einmal Stimmung für Pathos aufkommen! Der Vogel beäugt mißtrauisch meine rudernden Arme, rührt sich aber nicht von der Stelle. Und, Herr Möw', was haben wir dazu zu sagen? Hiiiarrr? Nevermore? Raus damit! rufe ich, schon lauter, eine Antwort von der unbestechlichen Natur erwartend, aber die Ostsee, obwohl anerkanntes Seemannsgrab, plätschert einfach weiter unbeirrt und bedächtig vor sich hin.



"Die will nur ihr Brot", stellt einer der Rentner nüchtern fest, der sich in seinen Gesundheitsschuhen lautlos an mich herangeschlichen hat. So ist das, denke ich, und betrachte mißtrauisch meine Käsestulle. Hiiiiaarrr krächzt der Vogel nun erregter und schlägt kurz erwartungsvoll mit den Flügeln. Brotzeit ist vorbei, schreie ich das Tier an, enttäuscht und resignierend. Das Leben hat Nachsaison. Iß doch Kuchen!