Donnerstag, 26. Juli 2007
Es wird Zeit, von Reisen zu berichten, die mich unlängst zur documenta führten. Gern hätte ich Fotos vom letzten Mal danebengestellt, aber die sind mir mal gestohlen worden abhanden gekommen. Neues Glück, nur fünf Jahre später: Den Reisenden erwartet vor dem Kasseler Hauptbahnhof eine anrührende Skulptur (gehört nicht zur documenta) des Künstlers Ernst Kahl zum vorgeblichen Gedenken an die Bombentoten des Tierwaisenhauses St. Bonifatius. Eine noble Geste, das wurde Zeit, auch dieser ärmsten der armen Kreaturen zu gedenken.
Ergriffen führte es mich weiter durch die sehr schöne Kasseler Innenstadt, der nach dem Krieg ein ebenso weitsichtiger wie geschmacksicherer Wiederaufbau beschert ward. Ein freistilistisches Ensemble in stahl- und betongrau, ein Simultangesamtkunstwerk, Nährgrund für viele documentas. Toll, aber bitte weitergehen. Auf dem Platz vor dem Fridericianum blüht der rote Tod Mohn, Zeit für innere Kunstsammlung. Hätte ich da bereits gewußt, geahnt oder bloß gehofft, daß auf den documenta-iPods Audioführungen zu hören sind, die u.a. von Sophie Rois gesprochen wurden, hätte ich mir so ein Ding natürlich ausgeliehen. Diese Stimme allein ist ja schon Kunst an sich, vor allem, wenn sie flucht. Oder laut schreit: "Revolution!" (Wer hat das schon?) oder nur vom Tod erzählt.
In der Halle nämlich gleich die erste freudige Überraschung: tote Tiere! Die recht unfachmännisch ausgestopfte Giraffe sieht aus wie eine schlechtsitzende Regenschirmhülle und erzeugt beim Betrachter allein deshalb schon Mitleid. Gleich daneben die Plüschbrigade von Cosima von Bonin: ein Hund, ein Tintenfisch, herzallerliebst, aber zum Mitnehmen zu schade.
Im Aue-Pavillon hingegen herrscht viel Platz. Wer ein bißchen Patafix oder Fotoknete mitnimmt, kann an einer der vielen freien Stellwände schnell noch ein eigenes Werk anbringen. Dankt mir ruhig - ich wünschte, ich hätte vorher davon gewußt. Überhaupt, im Vergleich zur letzten documenta erlebte ich eine eher heitere Stimmung. Vielleicht hat der Chinese Ai Weiwei die richtige Losung ausgegeben, als ein Sturm seine Turminstallation zerstörte. "Das ist besser als vorher", soll er angesichts des Trümmerhaufens lakonisch bemerkt und einen Wiederaufbau abgelehnt haben. Gleichsam entspannt das Aufsichtspersonal. Als ich meine Kamera auf die Umrandung von Ines Doujaks "Pflanzenbeet" (eine kritische Arbeit über Bio-Patente) abstellte, um eine kleine Raupe Nimmersatt zu fotografieren, die sich im und am Kunstwerk zu schaffen machte, wurde ich sanft ermahnt - mit einem Augenzwinkern allerdings und den Worten "Ich hab' extra gewartet, bis Sie das Foto gemacht hatten." Großlob noch mal von hier!
In vielen Museen darf man ja nicht mehr ohne weiteres Fotografieren, weshalb ich in letzter Zeit gerne den letzten überwachungsfreien Ort dokumentiere, um wenigstens ein Andenken und Gelegenheit zur Einrichtungskritik zu haben. Die Toiletten im Aue-Pavillon, möchte ich kurz anmerken, sind funktional, schmucklos, aber recht ruhig. Auch diese Information ist übrigens kostenfrei.
Zum Schluß dann etwas Sex & Rock'n'Roll: Freimütig gestimmte E-Gitarren (Skulpturaler Klang von Saâdane Afif) simulieren das autophone Orchester, bei dem mir die Epiphone-Verstärker im Retro-Look das meiste Verzücken entlockten. Für Eros sorgte interessanterweise Lee Lozano (auch schon tot), deren Werk ich letztes Jahr in Wien entdeckte. Eine fast schon "altmodische" Kunst, wie ja der Rückführungsgedanke ein zentraler Ansatz der diesjährigen documenta ist.
Es gab noch einiges interessantes mehr, die "Ethno-Masken" aus alten Kanistern von Romuald Hazoumé, die Totensammlung von Mladen Stilinovic und vor allem die beeindruckenden Fotoarbeiten von Jo Spence über Rollenverständnis, Identität, Körperbewußtsein und Krankheit.
Ein paar Eindrücke aus der Neuen Galerie und dem Fridericianum liefere ich nach. Glaubt nicht, es sei überstanden!