Mittwoch, 8. Juni 2005


Vom Lesen und Lernen, I.

Doktor Seidelbast und der faule Puck

Vielleicht nicht mein erstes Buch, aber das, mit dessen Hilfe ich lesen lernte, war Doktor Seidelbast. Noch heute weiß ich den Anfang auswendig, "'Hatschi, Hatschi!' niest Dixie das Wichtelkind." Hunderte Male mußte meine Mutter mir die eindringliche Geschichte vom kranken Wichtelkind Dixie vorlesen, das mit dem Heuschreck und dem Käfer im Regen getanzt und sich in der Folge bös' erkältet hatte. Ein Besuch beim guten Doktor Seidelbast war unabwendbar, in der Waldapotheke wurde eine Arznei angefertigt ("Ein Deka Salbei..."), die Freunde kamen zum Krankenbesuch, die besorgte Mutter hegte und pflegte, und am Ende - man hielt es als junger Leser kaum noch aus vor Spannung - schien die liebe Sonne wieder und alle waren froh und gesund.

Oft lag ich in Sichtweite meiner Mutter, die meist an der Nähmaschine beschäftigt war, auf dem Boden herum, blätterte wichtig in dem illustrierten Buch und murmelte aus der Erinnerung, aber schon mit dem Finger unter der Zeile, die Geschichte herunter. Bis sich eines Tages, und ich behaupte, ich kann mich an den Moment genau erinnern, sich die wild durcheinandertanzende graue Buchstabensuppe plötzlich zu Worten und Sinneinheiten formte. Ich konnte lesen! Es war ein Augenblick wie beim Fahrradfahren oder Schwimmen - auf einmal ging es, ich wußte selbst nicht wie, und es wurde nie mehr verlernt. Aufgeregt sprang ich zu meiner Mutter, den Finger auf den Seiten, stolzgeschwellt und erklärte ihr gewichtig, was dieses oder jenes Wort zu bedeuten habe. Noch hatte ich bei längeren Worten Schwierigkeiten, aber der Durchbruch war geschafft.

Die Gesellenprüfung war die zweite Geschichte in Doktor Seidelbast:

"Der faule Puck" war eine weitere Variante der bekannten Fabel von der Grille und der Ameise. Nur daß diesmal ein bequemer Waldgnom den Sommertag einen guten Mann sein ließ, während Familie Eichhorn fleißig Nüsse und Eicheln für die kalte Jahreszeit sammelte. "Der Winter ist doch noch lange hin", erklärte unser Hippie-Wichtel lässig und spielte auf seiner Fidel. Aber eines Tages - o weh! - erwachte der alte Gammel-Puck vom eisigen Wind, der durch den Wald fegte, und bald hatte sich Schnee über Gras und Bäume gelegt. Da war das Zähneklappern groß, denn aus war es mit fetten Früchten, die verlockend von den Zweigen hingen.

So faul der Puck aber war, so tapfer war er auch. Als nämlich das verirrte kleinste Eichhornkind von einem bösen Marder (oder war es ein Fuchs?) attackiert wurde, griff der Wichtel ein und schlug das Raubtier in die Flucht. Puh, das war knapp! Aus Dankbarkeit nahm Familie Eichhorn (die schon total in Sorge war) das verfrorene Männchen bei sich auf, steckte ihn unter dicke Daunen und Mutter Eichhorn servierte eine köstliche heiße Suppe. Nun ja, et hät noch immer jot jejange! sagt dazu der Rheinländer bekanntlich.

Nach diesen ersten beiden prägenden Leseerfahrungen wird sicherlich klar, warum aus mir am Ende ein arbeitscheuer Hypochonder werden mußte.