Mittwoch, 22. September 2004


Kontenklärung

Gestern war ich bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Eigentlich bin ich ja selbständig, aber zu klären gab es dennoch was: Rentenjahre.
Ein eher düsteres Kapitel in meinem unsteten Leben, das nach dem Motto geht
et hätt noch immer jut jejange. Passenderweise ließ ich ein wenig Sturzregen auf Hamburg herniederprasseln, damit auch alle Beteiligten in die richtige Stimmung versetzt wären, wenn sie meines Falles ansichtig würden. Meine Sachbearbeiterin, eine freundliche jüngere Dame (in meinem Alter sind bald alle Damen jüngere Damen), tat dann auch sehr gefaßt. Ihr Stirnrunzeln aber grub sich zusehends tiefer in ihre ansehnliche Gesichtshaut. Erst dachte sie, bei meinen Beitragszahlungen sei die Kommastelle nach vorne gerutscht, dann aber merkte sie, daß für wohlwollende Späße nicht der richtige Anlaß war.

Ich gehöre ja zu den sogenannten Geburtenstarken Jahrgängen™. Mit dieser angeblich rein rational-demographischen Umschreibung ist gemeint, daß wir alle im Arsch sind. Und im Weg. So grob mal für die letzten 35 Jahre gesprochen. Die Geburtenstarken lösten die Halbstarken der 50er Jahre als gesellschaftliches Phänomen ab und haben ein eher schlichtes Distinktionsmerkmal:
Wir waren immer zuviele.

Ob im Kindergarten oder in der Grundschule, es balgten sich immer zuviele Bälger (oder Blagen, wie das bei uns hieß) um die wenigen Plätze. Ich weiß, heute heißt das Kita und ist alles ganz schlimm, aber sorry, DAMALS™ war schlimmer. Neulich las ich es noch einmal in der Schulzeitung meines Gymnasiums: Es gab damals fünf fünfte Klassen - mit jeweils 40 Schülern. Nur mal so zum Vergleich. Als Knirps war ich bei der Kinderärztin. Tja, meinte die gutmütige Matrone vertraulich zu Mutter Kid. Der wird es später schwer haben. In dieser Generation gibt es einen großen Männerüberschuß.

Früher half dagegen Krieg, aber der wurde gerade abgeschafft. Vollgepumpt mit Napalmbildern und ewigen Wohlstandsversprechen schlug ich mich ein wenig verträumt durch überfüllte Klassen, mit selbstherrlichen 68er- und faschistoiden Altfaschistenlehrern, nymphomanen Deutschlehrerinnen und doppeltrechtsgewendeten DDR-Lehrern (die anscheinend alle an unserer Schule landeten, was in mir später den Wunsch weckte, die DDR mal wirklich kennenzulernen. So mit Ost-West-Beziehung und so.) Trotz Männerüberschuß knutschte ich irgendwann mit einer 14-jährigen deutlich übersexualisierten Blondine (Hallo Gugel, war alles legal!) und durfte auch einer anderen blonden unter den Pullover fassen. (Später stellte sich heraus, daß ich eigentlich auf schwarz- oder rothaarige geprägt bin, aber das ist jetzt sowieso nicht das Thema.)

Dann gab es kurz mal Rebellion für alle, ich beschloß, von nun an immer Schwarz zu tragen, so lange nicht der letzte Indianer zu seinem Recht gekommen ist, dann kam dieser Dings und mit ihm die Generation Jetta. Im Gefolge - und nun zurück zum Thema - dieser fröhliche Kurzgewachsene, der bei jeder Gelegenheit krähte: "Die Rente ist sicher!"

Klaropan, dachten wir. DEINE Rente ist sicher, sonst aber mal gar nix. Denn wir sind viele, und die werden nicht alle satt. Zum Abitur gab uns unser Direktor in unverblümter Weitsicht mit auf den Weg: "Euch braucht keiner, ihr seid zu viele." Ja, liebe Montagsdemonstranten. So war das. Da wurde nicht groß gekuschelt. Uns Bombenlegern war das aber egal, weil wir nach der Schule nicht nur Häuser besetzten und ganz schön im Recht waren, sondern auch der festen, antrainierten Überzeugung, daß bald eh alles, na was, im Arsch ist. "Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei." (DAF/Fehlfarben, "Kebap-Träume".) Und wir dazu. Wegen Atom natürlich. Gorleben, Zaunanlagen gucken, DDR-Grenzschutzboote (schon wieder die!), Bonn, Hofgarten, diese Sachen. Kennt ihr ja alles. Live fast, die young, und bald wäre ich echt ein wenig hops gegangen, das ging aber nur bis zur Intensivstation.

Das wiederum war nun von Vorteil. Denn wie mir meine freundliche Sachbearbeiterin gestern erklärte, könnten Krankheitszeiten sich noch strafmildernd auf meine LebensRentenerwartung auswirken. Also dreifuffzig mehr. Mark oder Lira oder was wir dann haben werden. Ansonsten schüttelte sie immer wieder den Kopf, während wir uns durch Tage und Jahre meiner kleinen Geschichte bewegten. Wo waren Sie denn 1990? Wie jetzt? Na, vor der Wiedervereinigung? (Die schon wieder!) Nü, ich bin gelernter Besserwessi.
Ach so, meinte sie, und Studienzeiten zählen ja auch nicht mehr. Und davon haben Sie leider viele. Macht nichts, sagte ich. Dafür verdienen wir Akademiker ja alle ein irres Geld. Und dann lachten wir beide ein wenig dreckig. Und dann wurde sie wieder ein wenig traurig, als sie auf meine Zahlen blickte. Ja, meinte sie. Nach der Wende wurde ja auch viel in den Osten transferriert. Ist ja klar, daß der Topf mal leer sein würde. Versicherungsfremde Leistungen und so. Na klar, meinte ich. Stasi-Jahre sind doch sicher Ausfallzeiten. So ein alter Spion, der braucht doch auch Rente. Ham die Nazis hier ja auch. Da werf ich meine Studienzeiten gerne in den Topf. Wieder schüttelte sie betrübt den Kopf.

Die Zeiten in der Legion zählen natürlich ebenfalls nicht. Die ganzen Liegestütze über aufgestellten Klappmessern - umsonst. Ja, wenn ich als Altnazi nach Argentinien gegangen wäre! Da gebe es ein Abkommen, meinte sie. Oder als Steuerhinterzieher nach Kanada, ja dann! Wieder senkte sie den Kopf und starrte ungläubig auf meine Zahlen. Deshalb besitze ich ja auch nur Bücher, erzählte ich freimütig. Denn Bücher sind nicht pfändbar. Noch. Wer weiß, was denen noch einfällt. Bücher sind ja brennbar. Gutes Heizmaterial, wenn man so will. Insofern ein Vermögen, ein geldwerter Vorteil oder wie das in der Sprache der BWLer heißt. Die werden vielleicht noch eingezogen. Sie zog fröstelnd die Schultern hoch.

Wissen Sie, meinte ich, auf meine tröstende Art. Sie sind noch jung. Sie können sich noch absichern. Sie müssen auch nicht so Lehrerparteien wählen, die im Grünen wohnen und von ihrer pofig abgesicherten Position auf andere schließen. Für Sie ist doch Altersarmut kein Thema!
Dankbar und ein wenig beruhigt schaute sie mich an.

Sehen Sie, fuhr ich fort. Ich stelle mir das ja so vor. Wir - die ganzen vielen, die zuvielen - werden später nach Mecklenburg verkarrt mit dem Mehdorn seine Transporter und dann geht es in so ein altes Stasi-Heim. Da stehen dann links so zwanzig angerostete Eisenbetten und rechts so zwanzig angerostete Eisenbetten (alte NVA-Bestände). Da liegen dann vierzig hustende alte Männer mit Dauerkatheter und dann kommt Lagerschwester Gerda mit der Suppenkelle und hat für jeden noch einen Blechnapf dünner Suppe. 20.30 Uhr Licht aus und fertig. Traurig und ein wenig entsetzt blickte sie mich an, und ich sah ihre Augen feucht werden.

Nun kann ich ja keine Frauen weinen sehen, ohne nicht gleich mitzuheulen, weil ich als Matrose nahe am Wasser gebaut habe und gleich immer so ergriffen bin von allem. Und so weinten wir ein wenig, aber still. Dann riß sie sich als erste zusammen, weil sie solche Geschichten ja nun täglich erlebt. Sie fülle das jetzt mal aus, sagte sie etwas gefaßter. Und dann geht das nach Cottbus. (Schon wieder die!) Gehen Sie eigentlich auf die Montagsdemo?

Noch nicht, gute Frau. Ich habe einen Tip von Herrn Semmel. Ich trage auch immer eine Kapsel Salatdressing von McDonalds unter der Zunge. Wenn es soweit ist, mache ich es wie Tommi Stumpf.

Mich kriegt ihr nicht.