Sonntag, 13. Juni 2004


Dieses obskure Objekt der Begierde

Angenommen, da gibt es eine Sache, die man unbedingt haben will. Ja muß, denn ein unzähmbarer innerer Drang zieht einen immer wieder in die Nähe dieser Angelegenheit. Eine Obsession also, eine fesselnde Leidenschaft.
Nun aber heißt es, das Ding sei nicht zu haben. Sie müssen sich auf eine Warteliste begeben. Noch ist es nicht so weit, die Sache ist nicht reif, es braucht noch Zeit, so einfach geht das nicht.

Weil es eine wahre Obsession ist und man festgestellt hat, daß man keine Minute länger mehr leben kann, ohne diese Sache, weil nur so die schmerzliche, schwarze Lücke im nun als ärmlich und kläglich empfundenen Leben ausgefüllt werden kann, nun, deshalb wartet man. Wird immer mal wieder vorstellig, klopft an die verschlossene Türe, fragt, wie es denn nun um den Fortgang der Sache bestellt sei, wie lange man noch warten muß. Zeigt sein Interesse, bringt sich in Erinnerung, verteilt schon mal kleine, sorgsam ausgewählte, nicht zu übertrieben luxuriöse Bestechungsgeschenke, um die Angelegenheit vielleicht etwas zu beschleunigen.

Letztere zeigen auch etwas Wirkung. Ab und an darf man nämlich nach hinten, in die Werkräume, und die Sache schon einmal betrachten. In seltenen Stunden ist es sogar erlaubt, die Sache in die Hand zu nehmen, sie anzufassen und überall zu berühren. Das ist schön. Es fühlt sich gut an. Man spürt, man muß es haben, für immer.
Aber meistens ist es wie bei Kafka, der Hüter der Sache blickt gleichgültig und schickt einen fort, ein ums andere Mal. Frag später noch mal nach, heute nicht. Nein, es geht nicht. Die Zeit ist noch nicht...

Irgendwann, nachdem man schon erschöpft ist, bereit, die Sache endgültig aufzugeben, weil das Leben sich nur noch um diese eine Angelegenheit dreht, und weil man ahnt, daß man es doch nie bekommen wird, egal, was man tut und egal, wie oft man noch vorsprechen wird, irgendwann plötzlich, man hat also schon nicht mehr daran geglaubt, es innerlich fast aufgegeben, dann auf einmal erhält man die Nachricht: Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, daß die Sache nun erhältlich ist.

Freude. Aber auch Erschöpfung. So lange. So lange. Aber nun. Neue Aufgaben warten, die Sache will eingesetzt, ins nun bereicherte Leben eingefügt werden.

Dann, durch Zufall, eine unbedachte Bemerkung, jemand läßt die Worte beiläufig fallen. Die Sache, nun, sie war die ganze Zeit frei erhältlich. Beinahe jeder hat sie mal gehabt, manche länger, manche nur für einen Abend, einen Tag, vielleicht eine halbe Saison. Es war nämlich überhaupt unkompliziert, man ging hin, nahm es einfach mit und brachte es irgendwann zurück.

Die Türen standen immer offen.

Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: "Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn." (Franz Kafka, "Vor dem Gesetz")