Goodbye Johnny

Als Schüler war er mein Bildungsminister, später mein "Landesvater". Noch später hielt ich mal seinen medizinischen Befund in den Händen. Im selben Stadtteil wie ich geboren, war er immer auch ein Mann "aus der Gegend", den man ab und an auf dem Weihnachtsmarkt traf. Jovial, privat und eigen zugleich.

Das bekam er zu spüren, als er bundesweit nicht gut ankam. Spöttisch wurde er als skatspielender, bibelfester "Bruder Johannes" abgetan, der "Versöhnen statt Spalten" predigte, wo viele lieber eine verbale Faust auf dem Tisch gesehen hätten. Dabei hat er in NRW eine Menge Scheite gespalten: Daß er Beuys aus der Düsseldorfer Akademie feuerte, ist dabei noch die amüsanteste Anekdote.

Man ahnte es schon lange, und heute war es dann so weit. Ich stelle fest, für mich: Da tritt nun nach und nach eine Generation ab, die mich lange Jahre meines Lebens begleitet hat. Zum Wohle oder nicht, wer will das wissen. Man sieht die Lücken und merkt die Zeit, auf die man selber schon zurückblicken kann.

Eine andere Zeit, vielleicht auch eine andere Welt. Ganz altmodisch also und zum Schluß: Gott zum Gruße, Herr Rau.

Homestory | 14:03h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
stubenhocker - Freitag, 27. Januar 2006, 20:59
Herr Kid, das nenne ich Pathos. Und würde jedes Wort unterschreiben. Mir, der ich aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stamme, hat Rau seinerzeit eine Bildung ermöglicht, die mir ohne ihn sicher nicht zuteil geworden wäre. Und schon allein dafür gebührt ihm Dank.

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kid37 - Freitag, 27. Januar 2006, 22:34
Integration
Allerdings. Meine Uni hätte es ohne ihn vielleicht nicht gegeben. Damals gab es in der SPD noch Ideen Visionen, wie "Bildung für alle" z.B. Seine Nachfolger betreiben das Geschäft ja zum großen Teil wie einst den "Kinderladen".

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kopfherz - Samstag, 28. Januar 2006, 00:11
j.r.
mein landesvater war er nicht.
insofern hat er mir nichts ermöglicht, und nix verwehrt.

alles, was er öffentlich sagte, sagte mir nichts.
erinnerte mich nur unangenehm an meine sehr fromme jugend.

unangenehm berührt war ich auch jedesmal, wenn ich bilder seiner frau sah. auf mich wirkte sie, die ja sehr viel jünger ist, altbacken vor der zeit und bieder. angepasst an das altbackene, biedere.
das fand ich immer schlimm.
warum tun frauen das?

krank sah er aus.
heute mittag, als ich hörte, dass er tot ist, dachte ich mit einem plötzlichen anflug von bitterkeit: na und? mein vater musste früher sterben.

aber dafür kann j.r. nicht.

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kid37 - Samstag, 28. Januar 2006, 00:22
Ich habe gerade in einem Telefonat darüber gesprochen und die Theorie verfolgt, daß Rau einerseits den meisten (jüngeren) Bloggern, also auch der mir nachgeborenen Generation G. nix mehr sagte, andererseits auch denen nichts, die aus einem anderen Bundesland stammten. Zu FJS hatte man eine Meinung, zu JR nicht. "Die Blogs" jedenfalls sind erstaunlich ruhig (außer bei Maz und Semmel habe ich nicht viel gefunden), auch das bezeichnend.

Was die Außenwirkung angeht, ist da viel dran, an dem, was Sie sagen. Seine Frau, eine Enkelin Heinemanns, stammte vielleicht nicht so sehr vom Alter als von ihrem Hintergrund her ebenfalls aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt. Wie ich oben schrieb.

Ihr bitteres Achselzucken ist verständlich. Dennoch. Das persönliche Schicksal sollte man nicht mit dem anderer aufrechnen. Das ist alles kein Wettbewerb. Sonst kommen gleich welche und sagen, na und, ich habe meinen Vater nie gekannt. Und dafür können Sie ja nichts.

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kopfherz - Samstag, 28. Januar 2006, 00:42
eigenartig, ja ...
... wie still es in den blogs bzgl. j.r. ist.
machte gerade eine kleinen ausflug. und schaute. nun ja.

ja - zu fjs hat jeder eine meinung ... eigenartig, wie noch der letzte depp zu interessieren versteht, hauptsache, er/sie hat eine art profil und eine art eigenen stil.

das steingrau von j.r. empfand ich dagegen als einschläfernd.
und seltsam, wie wenig widerhall er offenbar verursacht hat.

egal.

er gehört zu denen, die ein starkes alien-gefühl auslösen in mir. da hilft nur noch ultraharte therapie: das t-shirt eines geliebten überzustreifen und die decke über den kopf zu ziehen und zu hoffen, dass auch in dieser nacht die aliens vorbeiziehen mögen, einen verschonen mögen, einen nicht fressen mögen, und dass der neue tag heran käme.

übrigens zu empfehlen als anti-alien-lektüre (wg. unbotmäßig lauten lachens): *der weiße neger wumbaba* von axel hacke; zu lesen jetzt gleich mit taschenlampe unter der decke.

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blue sky - Samstag, 28. Januar 2006, 00:51
... und morgen früh, so gott will, werden Sie wieder gewürgt :-)

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kid37 - Samstag, 28. Januar 2006, 00:58
Die werden sich alle noch wundern ;-) Irgendwann, wenn die Fischers und Schröders abtreten, schauen wir noch mal in uns - und in unsere Blogs. Ich bin halt doch mehr von Vogel, Rau, Bahr, Wehner, Schmidt - und letztlich auch FJS geprägt.

Heute muß man ja laut sprechen und hemdsärmlig an Gartenzäunen rütteln. Ach nein, das war ja schon gestern. JRs Nachfolger im Amt hat sich Weihnachten schon unsterblich gemacht mit seiner Forderung um "ein bißchen mehr Ehrlichkeit". Blieb auch weitgehend unkommentiert. Wir sind genügsam geworden. Vielleicht grau.

Axel Hacke ist natürlich eine großartige Lektüre. Und Taschenlampe unter der Decke habe ich zuletzt für schmutzige Bildbände benutzt. Aber Sie bringen mich auf eine Idee ;-)

(Und wo kriege ich jetzt so ein T-Shirt her?)

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blue sky - Samstag, 28. Januar 2006, 01:07
Um auch noch etwas zum Thema zu sagen: Ich habe von Johannes Rau in NRW nur wenig wahrgenommen. Nicht, dass er nicht oft genug in den Medien gewesen wäre; immerhin habe ich ja den größten Teil seiner Amtszeit miterlebt. Aber er hatte zumindest in meine Augen (Jahrgang 70) kein scharfes Profil in der Tagespolitik. Er war halt irgendwie schon immer da als Ministerpräsident, in diesen Jahrzehnten aufgrund der Parteienverhältnisse in NRW nie ernsthaft angefochten, vielleicht deswegen auch nie um mehr Schärfe bemüht. Ich verbinde mit ihm viel mehr das Amt des Bundespräsidenten, hier schien mir dann der wesentlich passendere Platz für seinen eher nachdenklichen, versöhnenden Charakter zu sein. Als Bundespräsident hat er immer überzeugt, und seine Reden fand ich hervorragend.

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kid37 - Samstag, 28. Januar 2006, 01:29
Ich habe heute in einem Porträt eine alte Rede gesehen, die er hielt, als er zum Parteivorsitzenden in NRW gewählt wurde. Man solle mangelnde Schärfe in der Rede nicht mit mangelnder Schärfe in der Sache verwechseln, sagte er. Launig und schlitzohrig zugleich.

Es hält sich keiner 20 Jahre an der Macht, der nicht auch Ränke schmieden und Eisen biegen kann. Aber, nochmal, anders als die Lautsprecher nach ihm, lag ihm der Effekt-Auftritt nicht. Fürwahr, eine wunderbare Eigenschaft als Bundespräsident, als der er oft genug deutlich wurde.

Apropos Grau: Trude Unruh sorgte vor allem in den 70ern und Anfang der 80er für Unruhe in Wuppertal. Rita Süßmuth wurde bei mir umme Ecke geboren. Es liegt dort eine gewisse Streitlust in der Luft.

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modeste - Samstag, 28. Januar 2006, 17:44
Der sagt mir ja gar nichts, der steht für mich für diese alte Bundesrepublik aus fetten Gewerkschaftern und feisten Arbeitgeberpräsidenten, Kirchentagen und Winterschlussverkauf bei P&C, die ich immer als wenig elegant empfunden habe. Als BuPrä erschien mir Rau dann vollends im faschen Rollenfach, aber diese Rolle - und da bin natürlich auch ich Kind einer Generation - hat der Herr von Weizsäcker so vollendet präsidential eingenommen, dass Rau schon vor diesem Hintergrund keine Chance hatte, vom aktuellen Amtsinhaber mal ganz abgesehen.

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mark793 - Samstag, 28. Januar 2006, 18:21
Mir hat der auch nix gesagt.
Mit dem Unterschied, dass ich ihn als Bunsenbrenner Bundespräsident gar nicht soo deplaziert fand, auch wenn Ritchie da tatsächlich eine sehr hohe Latte gelegt hatte. Dass Bruder Johannes als Staatsoberhaupt nicht ganz so viel Distanz zum regierten Volke aufrechterhielt, das sehe ich eigentlich eher als Pluspunkt. Und vielleicht werde ich auch am derzeitigen Amtsinhaber dereinst mal noch ein gutes Haar finden (wenn er den Sessel mal geräumt hat).

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kid37 - Samstag, 28. Januar 2006, 23:57
... der steht für mich für diese alte Bundesrepublik...

Die "neue" scheint mir nicht eleganter. Nur kälter.

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ahoffma - Sonntag, 29. Januar 2006, 02:23
"Ich habe Sorge, dass eine junge Generation heranwächst, die von allem den Preis und von nichts den Wert kennt." hat Rau schon 2003 befürchtet und das zu recht!

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