Weihnachtsvertigo



Ende des 19. Jahrhunderts gab es in New York (das ist eine große Stadt in den USA) die ehrbare Tradition, in den Tagen nach Weihnachten überall in der Stadt große Metallbehälter aufzustellen, in denen man überzählige oder unpassende Geschenke abstellen konnte. Eine hässliche Vase etwa oder einen Weihnachtspullover vom Verlobten, mit dem man über die Festtage auseinandergefallen war . Kram oder Krempel oder auch Dinge, die keinen Joy mehr sparkten.



Das alles wurde wie von einer unsichtbaren Hand gesammelt für die Bedürftigen, die noch keine hässliche Vase besaßen oder einen schief gestrickten Weihnachtspullover, Kram oder Krempel oder schlicht Dinge, die bei ihnen vielleicht Joy sparken konnten. Eine gute Sache also, wohltätig und nachhaltig und ein Beitrag zum drängenden Problem des 19. Jahrhunderts: die soziale Frage. (Bis sich allerdings der Einzelhandel beschwerte, weil man Umsatzeinbußen fürchtete, wenn Sachen und Kram einfach so verteilt würden.)



Ich habe dieses Jahr bescheiden gefeiert, weil ich mich auf die frugale Zeit in meinem Leben vorbereite, in der es außer Nachdenken nichts mehr im Überschuss geben wird. Tradionellerweise spiele ich dann nach einem einfachen Weihnachtskäsebrot ein Quizspiel, bei dem nicht Joy, sondern ein Licht sparkt, wenn ich eine Frage richtig beantworte. Da wird nach "Sixtinische Kapelle" gefragt oder "George Washington", durchaus Bereiche also, mit denen man auf Partys glänzen kann, wenn einer dort etwas nicht weiß. Ganz ermunternd, man darf nur die Batterie nicht vergessen. (Mittlerweile sind auch ein paar Kontakte auf dem Spielbrett verschlissen. Dachte zunächst, ich wäre nun völlig dumm geworden oder die Fakten um mich herum, aber it's the elektrische Schaltkreis, baby!)



Dann ruhige Stunden im Lesesessel (im Fernsehen nur Mist mit zwei Ausnahmen: auf eine vor Jahren von mir depeschierte Beschwerde, weil Ist das Leben nicht schön? allen Ernstes erst um zwei Uhr irgendwas gesendet wurde, kam dieser wichtige Programmpunkt nun nachmittags und einmal um 20.15 Uhr. Sonst half gegen Helene-Show und TV-Konserve ausgerechnet Servus TV, die den Weihnachtsklassiker Wir sind keine Engel mit den drei ganz besonderen Weisen aus dem Morgenland brachten). Erste Erkenntnis: Ich brauche eine Lesebrille, so führte mir offenbar der Ghost of Chistmas yet to come wenn auch etwas neblig vor Augen. Daher griff ich mit zusammengekniffenem Blick zu einem von Lynd Wards textlosen Romanen aus Holzschnitten, wie die Bücher von Frans Masereel eine Art Vorläufer der Graphic Novel. Hier also Vertigo als schöner expressiver Schwindel zwischen Lebenstragik und Aufbegehren, alles Schwarz oder Weiß. Ganz frugal und ungeschwätzig, aber voller sparkling Joy. Ganz schön.

homestory | 16:29h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
fidibus - Mittwoch, 27. Dezember 2023, 17:41
Was für famose Geschenke! Der Weihnachtsmann hat Geschmack.

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kid37 - Mittwoch, 27. Dezember 2023, 17:48
Das Quizspiel habe ich schon lange. Das ist eine Tradition bei mir an Weihnachten. Dann kann ich wieder ein Jahr schlau tun, auch wenn ich keine Ahnung habe.

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fidibus - Mittwoch, 27. Dezember 2023, 18:08
Im Gänsefüßchenland gab es ein ähnliches Spiel. Nannte sich "Prüfe Dich selbst - Electric-Quiz" vom VEB Piko Elektrik Meiningen. Bei den Fragen ging's u.a. um Baumarten, Verkehrsregeln, aber auch NVA-Zeug.

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kid37 - Mittwoch, 27. Dezember 2023, 18:18
Famos. Braucht man gar kein Handy. Ich versuche immer noch herauszufinden, ob es Erweiterungsbögen mit zusätzlichen Fragen gab. Die Nummerierung in der Ecke legt das nahe. Unendlicher Spaß!

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nnier - Samstag, 30. Dezember 2023, 11:57
Habe damals meine Freunde um dieses Stück Hochtechnologie beneidet. Die aber schauten gelangweilt, weil es so wenige Frageblätter gab, vor allem aber der fixen Verdrahtung wegen, wodurch man die Antwort schon weiß, ohne die Frage zu kennen. (Das wiederum kennt man auch aus anderen Zusammenhängen.)
Ihr teiloxidiertes Exemplar scheint mir deshalb eine durchaus angemessene Spur Unsicherheit einzustreuen.

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kid37 - Samstag, 30. Dezember 2023, 16:39
A4 korrespondiert immer mit G2 usw. Deswegen darf man es nicht zu oft spielen. Sonst sind die Finger klüger als das Hirn. Habe jetzt mal mit Kontaktspray und Putztuch mein Glück versucht (die Verdrahtung scheint intakt). Noch ein Problem, des Alters wegen: Der Quizkasten funktioniert mit einer nicht mehr gebräuchlichen 3V-Kompaktbatterie. Man kann eine Mignon einsetzen, muss die aber z.b. mit Staniolpapier verlängern. Also muss man vorher einen Schokoladenweihnachtsmann (oder Osterhasen) essen. Spielen nur an hohen Feirtagen möglich!

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nnier - Samstag, 30. Dezember 2023, 18:15
Ja hat das denn keinen USB-Anschluss!?!?

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fritz_ - Samstag, 30. Dezember 2023, 19:06
Dachte schon, damit wäre eine von diesen altertümlichen Flachbatterien gemeint. Die Dinger mit den zwei Blechfahnen oben drauf, zwischen die man so schön die eigene Zunge stecken kann, damit es an der Zunge bitzelt. Die können's aber nicht sein, weil nicht 3 V.

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kid37 - Freitag, 5. Januar 2024, 18:25
Das ist alt. Da passen nicht mal die seriellen und Parallelkabel, die in dieser berühmten Kabelkiste, wie sie ältere Herrschaften haben, im Keller liegen.

@Fritz: Die gibt es ja noch für Taschenlampen und manches Spielzeug. 4,5 Volt. Hier bräuchte es eine 3-Volt-Kompaktbatterie, etwas länger als eine Mignon. Die gibt es auch noch im gutsortierten Elektronikfachhandel, aber ich beschloss, dass sich das für "einmal im Jahr" nicht lohnt.

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