Mittwoch, 14. November 2012


"Das ist voll schlimm das haben die früher gezeigt bekommen"

So war die Kindheit. Selten nämlich wurden Meisterwerke der Schwarzen Pädagogik, die Gute-Nacht-und-Bitterlaune-Geschichten amüsanter inszeniert. Der Struwwelpeter, ein Klassiker an Maximen und Vademecum praktischer Lebensregeln ist eben auch ein Jahrmarkt der Groteske. Hier die schröckliche Moritat vom Daumenlutscher, nur für den Fall, daß sich jemand fragt, warum ich neuerdings so langsam tippe. Hübscher noch als meine sind allerdings die dortigen Kommentare. Ein Wackeln der Weltbetrachtung.


 


Samstag, 18. August 2012


Heiß, nicht fettig, aber ziemlich verschwitzt



Es ist, wie es ist, und wer zuerst weint, hat verloren. Also zuerst das Mimimi rausgeräuspert, Frachtguttasche gepackt und - Jedermann sein eigener Action-Man! - sich die schwitzenden Verkaufsmatrosen auf dem Flohmarkt angeschaut. Ich schaue ja derzeit mehr mit dem Tastsinn, dennoch müssen die Schiffe nicht so groß sein, wie bei den Cruise Days, wo ich mich ja prinzipiell auch zur Rentnerbank der Shipspotter hätte gesellen können. Aber noch führen mich Wunsch, Wille und möglicherweise Hochmut andere Wege. In gleißende Sonnen, ein schwitzender Leib unter schwitzenden Leibern, ein bleiches Mahnmal für den bisherigen Sommer und die grünlich erleuchteten Flure meiner Basiserlebniswelt.

Mein bester Freund derzeit ist Knut, der Kühlakku. Ein frostiger Bursche, der nicht viel quatscht und eisig gucken kann. Heute hatte er etwas anderes zu tun, man muß sich in Beziehungen auch mal Luft lassen, so griff ich zu einem psychologischen Trick und versah mich mit Überlebenslektüre. Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis ist eine erbauliche Kühlkette deprimierender, aber auch humorvoller innerer und äußerer Vereisung, ein idealer Begleiter ins eigene Franz-Josef-Land. Und hält im Kopf hübsch kühl, falls jemand fragt.

Jetzt Schaffenspause, ein dem Winzer mißlungener, aber von mir gut gekühlter Sauvignon zur Abenderöffnung. Leichte Brise, leichtes Essen. Gleich Feuerwerk.


 


Mittwoch, 25. Juli 2012


Morbid Anatomy



Wenn etwas sexy ist, dann Menschen, die wirklich was aus ihren Leidenschaften machen. So wie Joanna Ebenstein, die mit ihrer Energie und Faszination für Schönheit und Tod sogar die Erlaubnis erhalten hat, im Wiener Josephinum zu fotografieren. Was ein wenig ungerecht ist, denn ich war dort zuerst, sprach aber offenbar nicht so charmant vor.

Joanna Ebenstein jedenfalls betreibt das Uber-Blog Morbid Anatomy, ein virtuelles Wohnzimmer zu Kunst, Tod, Medizin und Kultur, kurz Abgründiges, Merkwürdiges und bizarr Anmutiges. Ganz so virtuell ist diese Begegnungsstätte aber nicht, denn Ebenstein hat in Brooklyn (das ist in New York, falls ihr euch fragt) Räume bezogen und dort ein kleines, munteres Museum und eine Bibliothek eröffnet. Ein schmucker Ort für Vorträge, Lesungen, Kunst und Studium. In der Minidoku erläutert Ebenstein angenehm unprätentiös, aber mitreissend ihre Faszination und Begeisterung für ihr ungewöhnliches Thema, ihre Vision von einem Ort für Wissenschaft und Kultur. "I loved animals, i loved them dead, I loved them alive", zaubert sie Kindheitserinnerungen als Gegensatz von Leben & Tod strahlend unter einen Hut, seziert die Idee naturhistorischer Sammlungen und Wunderkammern und überträgt dieses Konzept von Sammeln und anschaulicher Transformation sehr inspiriert in eine Zeit, die biologische und kulturelle Phänomene ja zusehends technisch abstrakt im Nanobereich zwischen Zelle und Cell-Phone begreift.

Die Dokureihe The Midnight Archive hat noch ein paar mehr sehr hübsche Beiträge zu dunkelromantischen Themen von Grand Guignol bis Automatenpuppen. Mal was für den regnerischen Abend, während man auf eine Diagnose wartet oder einfach nur so.


 


Samstag, 14. Januar 2012


Schauen & Stöbern



Machen wir doch mal ein wenig Produktbegeisterung. Im Spital nämlich fiel mir auf, wie abgeschnitten man plötzlich ist, versorgen einen nicht hilfreiche Kumpane mit Kassibern und Nachrichten von vorgestern. Wer sich einmal mit einem Wap-fähigem Mobiltelefon (von vorgestern) zu Spiegel Online oder dem eigenen Mailaccount vorgekämpfen mußte, weiß von dreckigen Grabenkriegen zu berichten, von nur schwer verrückbaren Frontverläufen und stacheldrahtverhauenen Stellungen, die in einem Jahr zu vergessen ich gar nicht die mentale Stumpfheit besitze.

Kurz, angeschlagen knickte ich ein, verordnete mir zur Ablenkung und als nachträgliches Weihnachtsgeschenk so ein Technikspielzeug oder besser Tablett des Teufels. Also nur so ein kleines, Äpfel kommen mir ja nach wie vor nur als Obst ins Haus, einen Begleiter vielleicht für die U-Bahn oder das Sofa. Einen eReader mit Elektrotinte wollte ich nicht, weil es da draußen so viele tolle, umsonstige und vor allem bunte PDF-Magazine gibt, Photographie, Kunst und Kultur, schaut mal hier und dort vor allem bei Unless You Will. Da sind tatsächlich anspruchsvoll kuratierte Fotostrecken dabei, abseits des im Internet so üblichen Beauty- und Fashionkrams und diesem Übermaß an langzeitbelichteten nebelverwaberten und wasserdurchflossenen Portkartenlandschaften.

Das mit dem Wischen habe ich schnell gelernt, mit dem Daumen und Zeigefinger den Bildschirm vergrößern und verkleinern, Helligkeit regeln und vor allem Umblättern. Denn der Android träumt von elektrischen Büchern. Die wiederum gibt es beim Projekt Gutenberg. Überhaupt gab mir vor einiger Zeit ein auch sehr persönlich gehaltener Beitrag von Miss Wurzeltod einen entscheidenden Anstoß, verlinkte sie doch auf zahlreiche digitalisierte mittelalterliche und neuzeitlichere Totentanz-Ausgaben, die aber erst einmal bei mir nur digital herumlungerten und nun ebenfalls auf dem Tablet gelandet sind. Papier ersetzt das Gerät natürlich in keiner Weise, aber während ich das Lesen von PDFs am Bildschirm komplett inakzeptabel finde, geht das auf dem Sofa mit so einem kleinen Tablet ganz gut. Vielleicht weil man das Gerät wie ein Buch hält und die Seiten mit den Fingern blättert.

Zwischendurch ins Internet, Blogs lesen, Zeitungen oder Videos gucken, denn Flash und mp4 kann der Kleine auch. Nur Blutdruckmessen nicht, dafür Ortserkennung per GPS, was sich zum Glück aber abschalten läßt. Jedenfalls behauptet es nun, diese Funktion sei abgeschaltet. Alles hübsch also, mit Alu am Rand. Dennoch glaube ich nicht, daß ich mir in Zukunft wirklich Elektrobücher kaufen würde. Aber als Ersatz und tragbare Multimediabibliothek für die Reise oder Kidlandzwangsverschickungen, bei denen man sich ein wenig ablenken will, scheint mir das praktisch, auch wenn ich mich so modern ansonsten gar nicht kenne. Röhrenbetrieben wäre der aber zu schwer geworden, das sehe ich ein.


 


Mittwoch, 3. August 2011


Die Vergangenheit, die damals noch Zukunft war

Als Wissenschaft sich mehr mit Dreh- denn mit Plagiatsverdachtsmomenten beschäftigte und daran werkelte, die Zukunft zu schaffen, die wir jetzt erleben, wurde selbst im Kinderzimmer noch eifrig, aber streng wissenschaftlich experimentiert. In manch Heiligen Abend mischte sich in den Duft von Mandel, Zimt und Zuckerstern die kosmisch-olfaktorischen Versprechungen des Chemiebaukastens. Bald starteten selbstgebaute Raketen in den Weltraum oder wenigstens zu einem Rundflug um die Zimmerlampe, und Detektorempfänger fischten zirpende Signale von Radio Norddeich oder Pionieren von der Vega aus der Ionosphäre. Eine große Zeit, in der eben mehr Lametta war, wie Volksdichter Loriot uns nachhaltig ernst ins Bewußtsein rief. Und wer bislang seinen Einfall vom Bausatz eines Atomkraftwerks für Irrwitz hielt, muss die Geschichte seines Kinderzimmers neu schreiben. Die Zeit, als der Entdeckergeist von Kindern und anderen junggebliebenen Forschern noch ernstgenommen und nicht mit öko-getestetem Holzspielzeug niedergeknüppelt wurde, war wirklich das Atomzeitalter des unbeschwerten Bastelns, als noch Kerne und nicht Haare gespalten wurden:

Der Atombaukasten und andere Papperlapapp-Basteleien rund um Stoffe wie Arsen und weitere Substanzen, die sich heute höchstens noch in der Nahrung oder Duschgels nachweisen lassen, war hochbrisante Kontrebande, die unsere Eltern uns vorenthielten! Seither, wir wissen es, geht es bergab mit diesem Wissenstandort. Im Kinderzimmer hetzt nur noch virtuelle Alienjagd, bei der alles platzen darf, nur nicht der jugendliche Forscher vor Neugier.


 


Dienstag, 21. September 2010


Später Sommer (ohne Mundharmonika)



Glorifizierend wie das dermatologisch getestete Haarshampoo der Hollywoodstars legt sich ein spätsommerlicher Schein um die spröde Hülle des Tages, novembrig perlender Regen benetzt die Früchte aus dem eigenen Garten Supermarkt, ein fernwärmeblubberndes Erntedank mit Vanillequark. Kann mich auch mal.

Wenn irgendwann alles fertig ist, sieht mein Haus ja so aus. Das hat 3600 Dollar gekostet, allerdings im Jahr 1961. Auch der Zustand war damals noch ein anderer. Wer zu Besuch kommt, ist angehalten, sich handwerklich einzubringen: Böden, Fenster, Mauerwerk, es gibt immer was abzuziehen und zu lackieren. Ein interessantes Konzept, wie ich finde. Nur empfange ich selten Besuch. Deshalb dauert es bei mir auch länger, letztlich aber nur unwesentlich. Man muß sich den Atem für die Langstrecke einteilen. Und einen sehr langen Herbst.


 


Sonntag, 23. Mai 2010


Pfüngsten





Endlich ein bißchen Zeit, Gelegenheit, dem Stapel Unterlagen auf dem Tisch die lange Nase zu zeigen, sich um die Pflege der Zimmerpflanzen zu kümmern, die neuen Griffe am Lenker zu montieren, die Beleuchtung zu reparieren (Licht in alle Richtungen werfen!), Werkzeug zu sortieren, Haushalt... und immer noch ist ein wenig Luft. Gestern aber vornüber versumpft und folglich Stereo Total entsagt, dafür heute dann eine halbe Stunde früher los und zwei Flohmärkte besucht. Nostalgie- und Erinnerungsreflektionen, halb defekte Gerätschaften, Bücher, die keiner mehr liest, Werkzeuge, die rostige Flecken auf der Haut hinterlassen. Für ein Euo ein zweifelhaftes Realienbuch erstanden, Jahrgang 1941 und so liest es sich auch. Kapitel wie "Die deutsche Landwirtschaft" und was der "Führer" dazu zu sagen hatte, vom Kampf auf der Scholle und so fort. Man hat ja gleich diese Stimme dazu im Kopf, und das ausgerechnet an Pfingsten, dem Ende der Babylonischen Sprachverwirrung. Sollte es zu arg werden, hilft die rostige Daumenschraube-to-go, für 50 Cents von einer alten, gutmütig schauenden Dame erstanden. Kann man immer dabeihaben, wofür, das wird man dann sehen.

Die neue Griffe waren, nachdem die alten erst einmal runter kamen, eine Freude zu Montieren, große Produktbegeisterung erneut, selbst das Kürzen des rechten, dort wo die Gangschaltung sitzt, war noch einfacher als gehofft, weil der Hersteller, der sich das allerdings auch gut bezahlen läßt, mitgedacht hat. Danach dann Luft & Landschaft einatmen, ich muß am Ende der Woche ja immer raus, das wird gar nicht besser. Überlegt, ob man nicht einfach ein wenig Spielen sollte oder eine Flasche Rotwein köpfen. Jetzt aber in die Küche, den Kampf um die Ernährung aufnehmen.


 


Mittwoch, 7. April 2010


Mit Rost wohnen



Abends flüchte ich müde in mein kleines Haus. Eine Denkkuppel, sage ich scherzhaft, ein schneller Brüter für Aliengelege, eine Fluchtkapsel ins Weltall, für den Tag der eigenen Himmelfahrt. Eine Kleingartenlaube spotten andere, die nichts wissen von den unterirdischen Verzweigungen, den Stollen und Schächten, die hinab in die Erde führen, sich wie ein Ameisennest in die Tiefe bohren zu geheimen Labors und verwinkelten Kammern. Ein Traum wäre es andererseits, in diesen Türmen zu wohnen, hoch über den Wellen und fern jeden Gestades, das monotone Klongklongklong der rostigen Platten, ihr Ächzen im Wind als einziger Singsang. In der Schule schnitt ich immer die Anzeigen aus, die eine Arbeit offerierten auf den Ölplattformen draußen vor der Küste, wahrer Lohn für wahre Arbeit. In drei Monaten hätte ich ein Jahresgehalt verdient. Bis mir einer sagte, man brauche dort Kerle für die Sechszehnstundenschichten, kräftige Männer, die schwere Zangen halten konnten und keine Dichter mit Füllfederhaltern. Enttäuschung.


 


Donnerstag, 9. Juli 2009


Atlas obscura

Zu den entzückendsten Blogprojekten, die ich in letzter Zeit entdeckt habe, zähle ich das begeisternde Atlas Obscura. Dem Forschungsreisenden in Sachen "Was es alles gibt" liegt hier ein Verzeichnis zu den wunderlichsten Orten dieser Welt aus, geheime Plätze, obskure Liegenschaften, Museen des Bizarren und Außergewöhnlichen, Kuriosa und Erstaunliches. Man möchte sofort den Expeditionstornister packen und überhaupt nicht mehr nach Hause zurück.

Man schaue nur dieses Bio-Barometer, eine Erfindung aus dem 19. Jahrhundert. Ein Dr. Merryweather [sic!] kam auf die Idee, Blutegel nicht nur für medizinische Zwecke dienstbar zu machen, sondern ihre Wetterfühligkeit zur Gewittervorhersage einzusetzen. Zieht ein solches herauf, werden die kleinen Biester nämlich unruhig. Da sie über eine Schnur mit einer kleinen Glocke verbunden sind, läutet es immer dringlicher je näher das Gewitter rückt. Ungeheuer praktisch, was dieser viktorianische Kachelmann da erfunden hat, werdet ihr sagen. Ich habe nun weitere Experimente aufgenommen - daher rührt meine temporäre Absenz in diesem Haus - um die agilen Tiere so abzurichten, daß sie nicht nur auf elektrisch geladene Wetterfronten, sondern auch auf eingehende eMails reagieren. Das wird die Kollegen mit ihren schicken neuen Mobiltelefonen hübsch neidisch machen, wenn so ein Gerät auf meiner Werkbank klingelt. Die haben nur eine flache Flunder. Ich habe Post einen Egel.


 


Sonntag, 5. April 2009


O dann wachen sie auf, die winters schliefen



Ein Wochenende zum Auslüften. Den kalten Wind auf dem Flohmarkt ignorieren, in die frühe Sonne blinzeln, sich durchwärmen lassen auf den hölzernen Stufen. Neben mir sitzt ein Mädchen, sie erkundigt sich nach meinen Schätzen und so blättern wir bald gemeinsam in dem schönen Anatomiebuch, das für zwei Euro den Besitzer wechselte. Nerven, Hirn, Gefäße, man muß diesen ewigen Rätseln doch irgendwo auf die Spur kommen können. Die Zeichnungen sind detailliert, aber nirgendwo findet sich der Sitz des Fragezeichens.

Meine Nachbarin bietet mir eine Zigarette an, ich lehne ab und sage, "Komm, ich blätter mal vor zur Lunge, das ist bestimmt lustig". Gute Laune schaffen und ein entspanntes Ambiente, man braucht mich da nur fragen. Heiter sage ich: "Du kannst nicht aus Hamburg sein, da spricht man sich nicht einfach an." In der Tat, unsere Heimatstädte trennt gerade mal eine im gefälligen Trott eines westfälischen Braunen gerittene Halbtagesdistanz. Hamburg erlebt diese kurze Zeitspanne, in der die Blüten und Menschen sich öffnen, die Socken aber noch brav an den Füßen sind.

Daheim muß ich den Keller aufräumen. Wasser ist eingedrungen, die Ursache bleibt mysteriös. Aber es ist doch immer so. Entweder hat man den Schaden im Dach oder ein Mysterium im Keller. Im Licht der Taschenlampe warte ich darauf, daß aus der dunklen Pfütze auf dem Boden ein nasses japanisches Mädchen, das Gesicht von langen schwarzen Haaren verdeckt, emporsteigt. Auch ihr könnte ich sagen, "Du bist doch bestimmt nicht von hier".

Und hätte bestimmt recht. Man schleppt sich im Leben allerhand ein.