Mittwoch, 31. Juli 2013
Rock and Wrestling
Rock and Wrestling
ist jetzt wieder da.
(Nik Neandertal,
"Die Hymne".
Nochmal?)
Einmal im Jahr können in Hamburg Gebrechliche wieder Gehen, Träumer die Muskeln anspannen und Flüsterkneipenbesucher wilde Juchzer hören. Da gehört plötzlich Rock zu Wrestling wie sonst nur Tom zu Jerry, Ping zu Pong, Kid zu Siebenundreißig oder der Papst zur Messe.
Zum Ereignis gehört eine feste Liturgie. Die heißt nicht "Mal sehen", sondern "Ganz genau!" und das bedeutet: pünktlich da sein, entschlossen anstehen, und wissen, was und wo der Ring ist. Auf der Ersatzbank durch zahlreiche Ausfälle geschwächt, hatte ich noch Karten zu verkaufen, mußte daher Kontakt zu jungen Menschen aufnehmen. Ich sach mal so: Loide. So nicht. Während früher, wenn man schon keine Karte hatte, weil man, so was kommt vor, auch wenn es dafür keine Entschuldigung gibt, irgendwie mit dem Terminkalender durcheinandergekommen ist, dann ging man trotzdem hin (Barfuß! Im Bußgang!) in der zarten Hoffnung, daß irgendeiner sozusagen auf dem Weg schwer verstorben ist und durch diese Umstände (und wirklich nur so!) eine wirklich allerletzte Karte doch noch frei geworden ist. Und dann: Dankbarkeit! Tränen in den Augen! "Ich werde den Enkeln davon erzählen!", "Dankbarkeit bis ins letzte Glied" usw.
Nicht aber: Smartphone zücken, Ey, du, warte mal, ich ruf da gleich mal die NastiNadineNicole oder TimTomKlaus an, ach nee, melden sich nicht, sind wohl auf 'ner anderen Party (eine ANDERE Party?!?), dann schnell, wischwisch, die Facebook-Gruppe "Ey Mann, wo geht's denn hier zur Party?" getopcheckt... Also bitte, Freunde. Ja oder Ja. Glaubt mir, es wird kein gutes Ende nehmen mit dieser Generation Vielleicht oder Morgen.
Drinnen dann zum Glück gleich DingDong, wir sind jetzt da, wo die Herzen pochen, die Stimmung Schwellkörpern gleich zum Platzen gespannt ist, schön alles festhalten, die Geräte dabei ausschalten, auf Blutspritzer achten (das Management übernimmt keine Gewährleistung), die Kämpfer anfeuern - und, ganz wichtig: nicht selbst Teil der Show werden wollen. Wir machen das! heizen Testsieger den Laden gleich noch ein paar Grad höher. Ich denke, sehe ich auch so, das werden wir ja wohl schaffen. (Ich kämpfe ja nur noch gegen mich selber.)
Hamburgs weltbestes Nummerngörl Dolly Duschenka macht den Ring klar für die ersten Kämpfe, der 37-fach ungeschlagene One and Only Baster holt ordentlich einen aus der Lampe, seinen bezaubernden Dschinn Jeannie nämlich und dann wird diesem Grünen Bastard der Hosenboden strammgezogen. Zack, voll auf die Zehn, als könne man drei und sieben zusammenzählen.
Für die Ladies Damen schmilzt Nik Neandertal mit ein, zwei Darbietungen der offiziellen Hymne (können auch drei oder vier Mal gewesen sein, wer zählt am Ende noch nach?) ein paar Herzen - wobei er bei dieser Hitze leichtes Spiel hatte. Schmachtende Blicke, frenetischer Jubel! Der Neandertal-Mann verausgabt, atmet nur noch aus dem Hemd.
Klitschnasse Leiber im Ring und vor dem Ring, wir wogen zu The Cheating Hearts, die kompromißlos über Belange des angestrengten Schulterschwung-Artistenlebens singen. Das Team St. Pauli aufs Mauli haut die Esso-Häuser raus und träumende Investorensäcke platt. Großer Sieg für den Stadtfrieden, alle Daumen gehen hoch. Eddie, der Eismann wirft Gefrorenes ins Publikum, enthemmte Mädchen fangen die Eistüten mit ihren Dekolletés, wo sie sofort zu Wasserdampf zerkochen. Ekstase, dabei stehen die großen Kämpfe noch an.
Wir warten auf Loony Lobster, den hartgepanzerten Kämpfer aus den Meeren mit dem festen Klammergriff (hier ein seltenes Foto, das Loony Lobster als kleinen Jungen zeigt). Auf Bento Love, den Kampfroboter der Herzen, Dr. Tentakel und den Danger Pilz. Aber auch auf echte Schurken wie Kommander Kernschmelze, den hipstrigen Schanzenschnösel und den bösen Manager Don Shrimp, der seine Kämpfer mit miesen Tricks zur Macht führen will.
Während innen als einem der letzten gerechten Orte Hamburgs meist das Gute siegt, draußen ein unbeachteter Moment. Der Hitze wegen hat sich der Backstage-Bereich auf die Treppe vorm Haus verlagert. Im Zwielicht der Straßenlaterne ein Grüppchen Wrestler, wie konzentrierte Stierkämpfer auf ihren Einsatz wartend. Halb sind sie im Kostüm, Masken und Pappmachéeköpfe liegen auf den Stufen, leichter Schweißfilm liegt auf der Haut, eine intensiv gespannte Atmosphäre in der Luft. Das Foto, das ich nicht machte.
Tiefe Nacht, tiefes Ausatmen. Tagessieger dann: Nik Neandertal. Zeit für die Hymne. Danke an alle.
Samstag, 27. Juli 2013
Auf dem Heimweg begannen Ziegen, mir das Salz von der Haut zu lecken. So, als läge bei diesem Wetter nicht genug Gezicke in der Luft. Jetzt erstmal Schweiß und Ziegensabber abduschen, dann auf die Entgiftungsstation, morgen vorsichtig schauen, ob die Welt diesen Rumble überstanden hat.
Vielleicht vorher noch mal die Hymne hören.
Montag, 8. Juli 2013
Should I crawl defeated and gifted?
Should I go the length of a river?
Oh, I'm pissing in a river.
(Patti Smith, "Pissing In A River")
Auf diesem Bild hat Herr Kid einen Arzt versteckt. Könnt ihr ihn finden?
Am Samstag mal Anflug von Sommer in der Stadt, eine schnelle, schwitzige Runde auf dem Rad, dann aber los zum Familienausflug in den Stadtpark. Die "Großmutter des Punk", wie sie mittlerweile genannt wird in einer leicht frechen Verschiebung von Godmother zu Grandmother, spielt dort. Und zwar pünktlich. Ich bin leicht spät dran, weil ich vorher noch schnell wohin mußte und dabei - irgendwie verfolgt mich das gerade - von einem jungen Mann, zurecht aber diesmal, ermahnt wurde. Wißt ihr das auch, too much information, ich weiß.
Frau Smith spielte bereits "Ask The Angels", bemerkte aber kurz darauf zwischen zwei Liedern, daß sie Adleraugen besäße und alle genau erkennen könne, auch wenn einer grad "taking a piss" wär. Na toll, das hat gesessen, und ich will auch gar keine höheren Umstände anmelden. Könnte ich aber!
Wie um mich zu foppen, gab es später eine ganz großartige Version von Pissing In A River, einer von Smiths schönsten Songs. Man ist ja schon ergriffen, wenn die Anfangsakkorde auf dem Klavier durch das Stadtparkrund klingen, sich durch die Hecken und Bäume winden und alles einweben, dieses so ganz geradeaus gewundene Liebeslied, die unverhohlene und eindeutige Hingabe. Um beim Thema zu bleiben: Piss Factory hat sie aber nicht gespielt und nun ist auch schon gut damit. Meine Güte.
You bore me already, Baby. - No, no - just joking. You are one of the most exciting persons I've met in my life.
Erst dachte ich, Mensch, die spielt ja schon am Anfang alle Hits. Bis mir einfiel, daß sie ja auch kaum andere Stücke hat. 35 Jahre Hochkraftrock, auch die Stücke vom letzten Album fügen sich ein mit Feedback und Energie. Bei Patti Smith herrscht immer auch eine gesellige Familienparty. Sie wandert herum, spricht mit dem Publikum, nutzt eine Verschnaufpause, als die Band um Lenny Kaye alte Rock'n'Roll-Kracher zu einem Medley mischt, und läuft raus zu den Leuten weit links und rechts der Bühne. Mich würde auch nicht wundern, wenn sie zwischendurch belegte Stullen und Würstchen vom Grill reichen würde. Ein vorlauter Schreihals wird von ihr lachend aufgezogen, das ist alles ein friedlicher "Ghost Dance" hier. Ein in Hamburg weltberühmter Regisseur macht eifrig Fotos, ein bekannter Punkrockschlagzeuger bewegt im Takt den Kopf, während die Smith in "Banga" (liturgisches Beispiel) die Hunde beschwört. Whoo-hoo.
Dann geht es zurück zu den ernsten Dingen. Smith mahnt den Abrißwahn an, so als wüßte sie um die Hamburger Gentrifizierungs- und Verwüstungstendenzen. Man solle darauf achten, die Welt und die Städte nicht eine einzige große "Tourist trap" zu verwandeln, sondern auch die abgeranzten Ecken erhalten. (Heute abend trinkt sie noch einen im Gängeviertel, schätze ich). Ein Neil-Young-Cover, eine gesungene Protestnote für Edward Snowden. "Thank you for giving the secrets of my country - to me", ruft sie unter Applaus, viele sind jetzt einer Meinung und zwar der richtigen. G-L-O-R-I-A.
Und das muß man ja mal sagen: Es gibt nicht viele Künstler, die bei ihren Konzerten deutlich machen, wie sehr sie mit ihrer Musik in der Zeit stehen. Nicht eine gut marinierte Vergangenheit beschwören, die Musical-Version ihrer Karriere und größten Erfolge spielen. Die rotzige Haltung, das dezidiert Politische bei der Smith: Da ist überhaupt kein Nachlassen von Energie oder Konzentriertheit zu spüren. Da tanzt eine kleine alte Frau über die Bühne mit einer Stimme, die ein erstaunliches Volumen besitzt und das Rund füllt, dabei gurgelt und röchelt, ächzt und stöhnt, und sich eher gewaltiger anhört als vor 30 Jahren. Wie ein Ozean.
Ein bißchen beschämend auch, wenn man selbst so vergeht. Die Botschaft aber bleibt: "People Have The Power", und die Zukunft ist jetzt.
Genau so nämlich sieht es aus.
>>> Rock'n'Roll Nigger, Hamburg
Dienstag, 4. Juni 2013
Ain't singing for Coke/
I don't sing for nobody/
Makes me look like a joke
(Neil Young, "This Note Is For You")
Ist natürlich schon mehrere Leben her. Aber manchmal muß ich ja immer noch lachen wegen diesem empört hervorgestossenem "Ich bin hier der Klaus Kinski!", wo ich so dachte, wenn du der Klaus Kinski bist, dann bin ich aber Neil Young, und hier, This Note Is For You. Hier verlaufen unsere kulturellen Demarkationslinien. Das ist wirklich schon lange her (mein Elefantengedächtnis aber!) und die Grenzen natürlich neu gezogen. Längst. Seither hat auch der Herr Young, unbeeindruckt von Wind, Wellen und Publikumswünschen wie es scheint, eine Menge musikalisches Geröll bewegt. Vielleicht der letzte große Blogger Stoiker, der ja von sich auch behauptet, Alben in erster Linie für sich zu machen. Ratet, aber ich finde das gut.
Jetzt hatte er also seinen Landpflug in den Bühnenboden einer Hamburger Halle geschlagen, ein alter Mann, mehrfach schwer erkrankt, aber immer noch aufrechter Baum mit ordentlich Rinde. Und wenn der das auf der Bühne kann, kann ich es wenigstens von der Seitenlinie aus, dachte ich mit meiner schüchternen Rinde und fand das auch gut. Nach dem Intro mit "A Day In The Life" spielte er die Nationalhymne vom Band. Und zwar die deutsche, Helm Hut ab, Hand aufs goldene Herz und Pfiffe überstanden.
Dann aber ran an die die landwirtschaftlichen Maschinen, mit "Love And Only Love" rumpelt das berühmte rollende Grummeln von Crazy Horse aus der riesigen Lautsprecherkulisse. Der Band wirft man vor, auch nicht mehr zu können, als stur geradeauszufahren, alten Dampflokomotiven gleich. Aber das ist ja auch schon eine Leistung. Es folgen Klassiker und neue Hits, "Powderfinger", Heart Of Gold, dazwischen das phantastische, trotzig-melancholische "Walk Like A Giant" in einer Langversion, die in eine zehnminütige Feedback-Attacke mündet. Zeit für einen Austritt des kleinen Herrn Kid, der sich dazu in seiner Sitzreihe leider an einem etwas verkrampften Jünger des Herrn (Young-Jünger!) vorbeischieben muß. Das wird unwirsch kommentiert, weil doch der Neil grad die frequenzzerstäubende Messe liest. Ich les' dir auch gleich die Messe, aber in deinen Schoß Ich denke mir was, verschwinde kurz und kann berichten: Vom Klo der 02-World hört sich das Rückkopplungsgegrunze von Crazy Horse beinahe an wie der Maschinensturm der Einstürzenden Neubauten. Gigantisch.
Leider gab es auch im Wind verwehte Lagerfeuerlieder und Kitschattacken mit Abschlussklassen-Schulaufführung (junge Dame schleppt einsam nachdenklich Gitarrenkoffer über die Bühne, dazu "Singer Without A Song". Wir denken: Neil Young - das Musical). Falls jemand das nächste Konzert besuchen möchte und die erste Toilettenpause verpaßt hat, wäre das eine Gelegenheit. Neil Youngs Blase aber hält, der hat Kürbisfelder hinterm Haus. Unverdrossen ochst er sich durchs Programm, jetzt selbst so groß wie die Lautsprechertürme: "Cinnamon Girl", "Fucking Up" und schließlich "Hey Hey, My My". Anders als in Berlin spielte er zur Zugabe aber nur zwei Kommt-gut-nach-Hause-Stücke, was imerhin den Kalauer ermöglichte, "He, der hat gar nicht "Rock Me Like A Hurricane" gespielt".
Raus in die Nacht, milde Luft und feuchte Hände. Draußen spielt einer "Rocking In The Free World". Immer geht irgendwas zu Ende. "And every morning comes the sun".
>>> Geräusch des Tages: Neil Young, Walk Like A Giant
Freitag, 17. Mai 2013
Der Name geisterte ja schon ein zeitlang herum, ich aber hatte das Phänomen aus dem Augenwinkel heraus voreilig als eine bloß weitere lustige Schenkelklopfer-Gaudi aus dem Internet eingeschätzt. Ihr wißt schon, wo Menschen wie Ponys tanzen. Und als Herr Vert letztes Jahr in Sachen Die Antwoord ausführlicher wurde, war ich gerade nicht so in der Lage, diesen Dingen mental zu folgen.
Nun aber erfuhr ich vor wenigen Wochen erst, daß Fotograf Roger Ballen, über den ich hier einmal geschrieben habe und der zuletzt im April in Wien gezeigt wurde, mit Die Antwoord zusammenarbeitet. Sie haben zwei, drei Videos gedreht, die die quietschbunte Albinowelt des südafrikanischen White-Trash-Dubstep-HipHop-Paares mit den teils beklemmenden Studien Ballens über die weiße Unterschicht des ehemaligen Apartheid-Staates zusammenbringt: I Fink U Freeky. (But I like you a lot.)
Die stolze Umwertung dieser niveaufernen Bodensatzwelt einer vergessenen Schicht ist natürlich über den bloßen Schock-Moment hinaus ziemlich sophisticated. Der Afrikaans-Künstlerkosmos aus dem Platteland erinnert damit ein wenig an HGich.T, den kunstanarchischen Technorabauken aus dem norddeutschen Flachland. Betrachte ich das Zusammenspiel aus Musik und Stümmel-Sprach-Parolen, aber auch Film, Mode und Kunst, begreife ich erstmals, welche Faszination und Definitionskraft von dieser Uffta-uffta-Plastikkultur ausgeht. Wie sich eine verachtete Welt an sozialem Dünkel und Kultursnobismus vorbei unbekümmert zu einer Szene erhebt, neue Codes schafft und ein Selbstbewußtsein. Gefährlich ist und voll böser Selbstironie und Spielerei mit Trashkultur-Klischees: Baby's On Fire. Gegenkultur ist tot? He, pikierte Bio-Banausen, hier kommen die Kik-Kombatanten. Yo-Landi von Die Antwoord beschreibt den Zef-Stil so: "It's associated with people who soup their cars up and rock gold and shit. Zef is, you're poor but you're fancy. You're poor but you're sexy, you've got style." (Wikipedia)
Ein verblüffender Trip ist auch der Kurzfilm Umshini Wam ("which is a popular Zulu struggle song meaning 'bring me my machine gun'", Wikipedia) von Harmony Korine. Das ist der US-Regisseur, der den unverstellt schrägen Gummo machte, der Film mit dem kleinen Jungen mit den Hasenohren. Und noch ein paar andere, noch konsequentere Sachen. Oder zuletzt Spring Breakers. Ihr kennt den alle auch als Drehbuchautoren von Kids und Ken Park. Harmony Korine. Genau. Umshini Wam jedenfalls kommt mit dem Refrain "I'm old enough to bleed, I'm old enough to breed, old enough to crack a brick into your teeth while you sleep" daher, ein Schlummersong an den Lagerfeuern der Wohnsilo-Vorstädte. Ein aggressiv-komisches Inbred Fokfest.
Aber eben nicht ohne politisches Bewußtsein. Bei aller Provokation dezidiert anti-rassistisch, anti-homophob und abseits nickelbrillenhafter Gedanken- und Sprachkontrolle, anti-anti vielleicht, geht es Die Antwoord auch darum, Südafrika "auf die Karte zu bringen". (In einem Video heißt es: The History of South Africa is: 1. Nelson Mandela 2. District 9 3. Die Antwoord). Dazu paßt, sich rotzfrech über "kulturimperialistische" Konstrukte wie Lady Gaga, die Black Eyed Peas oder Kirsten Stewart lustig zu machen. This Is Why I'm Hot.
Gut, der Beitrag kommt ein gutes Jahr zu spät. Dauert manchmal lange, bis der Groschen fällt hier im platten Land.
Freitag, 28. September 2012
wenn die Liebe zu Ende geht,
wenn selbst die Hoffnung nicht mehr besteht,
nur Einsamkeit
(Udo Jürgens, "Immer wieder geht die Sonne auf")
Where were you in '77?
Das kann gerne unter uns bleiben, aber ich habe ja eine gewisse weiche Stelle für, Achtung, Udo "Ich war noch niemals in New York" Jürgens. Großer Entertainer Blogger, hochprofessionell, auch wenn man seine Kunst nicht mögen muß. Jemand, der leichte Sachen machen kann und vor allem unterhalten, was ja doch das Schwere ist und in diesem vernörgelten Land nicht gern gesehen. Für die Nachgeborenen, die das jetzt alles nicht verstehen, ist vielleicht dieses lange TV-Gespräch (ZDF-Mediathek, 75 Min.) interessant, das er leider mit einem wenig adäquaten Partner geführt hat.
Dort erzählt er, wie er einst zum Bloggen fand, spricht über die ersten Jahre, die Hits, den Erfolg im Internet und die großen Auftritte. Läßt auch die Schwächen nicht aus, Schlaflosigkeit, die Sucht nach Ruhm, Aufmerksamkeit und Alkohol. Die Versuchungen, die Eitelkeit, natürlich, die vielen Menschen und Fans nach den Blog-Lesungen, ja, auch Frauen. Am Ende, wenn das Gespräch über das Ende geht, dann auch wieder angemessen ernst (und spätestens da hätte man ihm einen wirklichen Gesprächspartner gewünscht). Wenn das Vorne, nach dem man immer schaut ("und nicht zurück"), immer weniger wird.
"Früher hat man noch hundert Hände geschüttelt, heute riegelt die Security die Bühne ab", so sinngemäß der Altstar über die Einsamkeit nach Lesungen. Wie ich das kenne!. Wie man nachts aus irgendwelchen Kaschemmen torkelt, in wenigem nur noch gewiß. Immer aufs Neue so manchen Abschied meistern muß, von Menschen, von Phasen im Leben, von Sehnsüchten und Plänen. Und trotzdem das große Dennoch: "Immer wieder geht die Sonne auf", heißt es in seiner bühnenpräsenten Abwandlung des bitteren Hemingway-Romans The Sun Also Rises, ein Lehrstück über das Zusammenreißen und Immer-weitermachen.
Viele, so höre ich immer wieder, mögen ihn und seine Art zu Bloggen nicht. Zu seicht, zu anspruchslos, zu yesteryear. Mag alles sein. Aber den ganzen sich mit Zitaten aus Philosophie und Hochliteratur umplusternden A-List-Blogs sei gesagt, was Udo über Karriere sagt: "Du darfst kein Arschloch werden". Am Sonntag wird er 37 78 und ist immer noch auf seiner "never ending"-Tour.
Mittwoch, 1. August 2012
(Ringrichterkommentar)
Zum Jubiläum gab es aber die ganz große Torte: Das einzig originale Hamburger Rock & Wrestling feierte gleich an zwei Tagen das zehnjährige Bestehen. Ich wurde am Samstag natürlich gemahnt (zurecht, völlig zurecht), den Freitag verpaßt zu haben. Aber man kann auch sagen, immerhin einen Tag, schön links und rechts in soziale Watte gepackt und ansonsten ohne weiteres Gegreine [Verlautbarung für die Öffentlichkeit]. Der zähe Wille zählt wie sonst nur innerhalb des Rings. Die Stimmung im Laden ansatzlos grrrrroßartig, man ist gleich irgendwie zu Hause. Die Welt, das habe ich an diesem Abend feststellen müssen, ist sowieso kaum größer als eine Ringmatte.
Sicht frei vom verkehrsberuhigten Plätzchen in der Invalidenecke: Ich steh aufrecht, die Kämpfer sowieso. Veteranin Heidi H. ruft die "Tittokratie" aus und zieht mit ihren Jungschar-Mädels Hanni & Nanni dem eh schon gebeutelten Baster den Seitenscheitel nach. Die Fuckers, so eine wilde Kuttenbande vom Abenteuerspielplatz, zeigen einem Mitnahmegetränk-Hipster, was to go noch alles bedeuten kann. ♥Dolly Duschenka♥ habe geheiratet - so die Nachricht, die zahlreiche Männerherzen im Publikum zu Dörrobst macht -, zeigt aber ihrem nunmehr fiesen Ex, dem Haspa-Man, daß mit ihr gewohnt furios und unberechenbar zu rechnen ist. Ring-Ehe kaputt, aber Aufatmen in der Luft. Ehekrach hat ja oft etwas romantisches auch, wenn man so zusieht.
Zwischendurch will ich mir Kunstblut von der Brille wischen - da fällt mir ein, ist St. Pauli hier, das ist kein Kunstblut. Aber für sowas bleibt keine Zeit, alle sind begeistert, was nicht wundert, denn Tiere gehen immer: Loony Lobster und Dr. Tentakel werden von Atomarschloch Kommander Kernschmelze mal so richtig auf Asse gelegt. Ziemlicher Gau, denn selbst Bento Love, der beste Kampfroboter von allen, geht mit Systemfehler in die Knie. Vielleicht suf Android umsteigen beim nächsten Mal. Inklusion ist ebenfalls ein Thema, wir grenzen nicht aus, sondern holen Schauspieler Michael J. F. und Muhammad A., die zittrige Biene, zum Park-and-Ride-Kampf in den Ring. Der Unparteiische, Sensation, ist Ozzy O., ein ehemals bekannter Hardrockfanfarensänger und Fledermausfreund. Herzergreifender Kampf, drei rüstige rostige Herren verkörpern den olympischen Gedanken und sind einfach mal dabei. Warmer Applaus zeugt von der Herzensgüte des mittlerweile exaltierten Publikums.
Schock und Feuer, Caracho machen Lärm und eine feurige Hitze, dazwischen immer wieder Nik Neandertal mit seiner Hymne, die so suchterzeugend ist, wie sonst nur pfannenwarmes Crack aus den Tiefen eines US-amerikanischen Wohnmobils. Zwanzig Mal hören wir das muntere Liedchen, heimlich werden zerknüllte Papiertaschentücher im Laufe des Abends wahlweise an die Augen oder in die Ohren geführt. Ganz rührend, wer die Hymne noch nicht kennt, bitte hier zwanzig Mal klicken.
Von der Titte zur Mitte, Lokalmatador Captain Penis zeigt Steherqualitäten und nimmt sich zusammen mit Hairy Helga in einem alwaysultraohneregel Käfigkampf den brutalen Metzger vor. Am Ende hätte man besser Regenschirme spannen sollen oder verdunkelte Brillen. So werden wir Zeugen von mutmaßlichen Gewalttaten, die zum Glück aber durch einen Vorhang verborgen blieben.
Große Sause, draußen Frischluft und schön verschwitzte Gesichter. Überhaupt schöne Gesichter. Nächtliche Wege neben flackerndem Fahrradlicht, die kleinen Gesten. Das ist schon alles richtig so. Ich gehe nur unwesentlich weniger elegant als ein alter Kneipenboxer. Aber im Grunde unbesiegt.
Sonntag, 29. Juli 2012
Man sollte sich ruhig was zutrauen. Ich hatte nicht so richtig damit gerechnet, daß ich den Abend durchstehe. Aber die Stimmung war gut, und viele Menschen waren sehr nett zu mir. Ich bin da manchmal ein bißchen überrascht.
Zehn Jahre Rock & Wrestling, und immer noch toll. Und wie die Zeit vergeht und wie wir uns alle verändern. Beim Kopieren der Bilder noch alte Fotos geschaut. Vor sieben Jahren noch, da hatte ich ja fast dunkles Haar und sah ganz jung aus. Noch nicht so gekrümmt. Jetzt aber erstmal schlafen. Der Schlaf vor Mitternacht ist der beste. Aber da pfeif' ich drauf.
Mittwoch, 18. Juli 2012
Heute: Regen. Da könnte man glatt melancholisch werden, wären da nicht Menschen wie Lily Fawn. Ich war sicher, hier bereits über Ms Fawn geschrieben zu haben, die mit ihren melassetrüben Moritaten wie "Don't Be Afraid" quietschende Türen in mißmutigste Herzen schnitzen kann. Offenbar war das aber immer nur ein frommer Gedanke gewesen, irgendein Punkt auf irgendeiner Liste. Wer sich jedenfalls fragt auf einem seiner urbanen oder extraurbanen Spaziergänge, wieso da eine junge Frau mit Geweih auf dem Kopf herumläuft, die mich an eine alte Duzfreundin von mir erinnert, der ist möglicherweise der kanadischen Entertainerin begegnet, die mit ihrem Partner Hank Pine rauchzarte Kaschemmenmusik und Hinterhofgospel macht, für die Zeit, nachdem man seine Tiere in den Stall gebracht hat.
Die beiden haben einige luftig-skurrile Videos zusammengemalt und sind so Leute, die aus jeder herrenlos vergessenen Teekiste gleich eine Bühne machen. Mit ihrer Version von The Bar At The Bottom Of The Sea könnten sie auch gerne mal nach Hamburg kommen. Ich wüßte da eine Seemannskneipe.
Und ich meine, die trägt ein Geweih, Leute.
>>> Webseite von Lily Fawn
Dienstag, 3. Juli 2012
Aus dem Dunkel des Westwerks schält sich eine Woge heraus, strukturierter Lärm für die Sachlichen unter uns, dicht gepacktes Emo-Symphongetöse für die mit einer Erinnerung an hormonell ungezähmtere Zeiten. Zunächst walzen Disappears die deutlich post-punk-beinflußten Lieder ihres dritten Albums von der Bühne, kämpfen mit dem schwer zu kontrollierenden Sound im Westwerk, das eigentlich eine Kunstgalerie und nur nebenher ein Ort für Musik ist. An den Drums Steve Shelley, der Mann kämpft nicht mit dem Sound, der Mann ist der Sound. Vermutlich hat man sein Schlagzeug bis hinunter in die Bauruine der Elbphilharmonie gehört, damit da auch mal etwas Musik drin ist.
Star des Abends ist aber Lee Ranaldo, der - wiederum durch Steve Shelley mit seinem zweiten Arbeitseinsatz an diesem Abend verstärkt - sein Soloalbum Between The Times And The Tides vorstellt. Im Publikum viele junge Leute, Velvet-Underground-Mädchen, Kunstbubis und Langzeitvergessene, ein, zwei Anzugträger mit Blackberry und Begleitmenschen, dazu grauhaarige Altherrengymnasten wie mich. Zum Glück ist es nicht zuuu voll, zum Glück gelten im Westwerk besondere Lärmschutzbestimmungen, was die beiden Bands pünktlich beginnen und zeitig enden läßt. In diesem Alter, darin einen Vorteil zu sehen, bin ich also auch schon.
Die andere Hälfte von Sonic Youth also, auch mal ein Erlebnis. Am Ende spielt Ranaldo mit seiner Band noch ein Talking-Heads- und Sonic-Youth-Cover, wäscht uns von innen nach außen, pflanzt uns den Lärm ins Rückenmark, demonstriert, das daß Leben erst voller Rückkopplungen ins Rollen kommt. Eine diamantene See, durch die ich schwimmen will.
>>> Lee Ranaldo, Angels.