Mittwoch, 14. Januar 2004
something must break
:[Nachtrag Nr. 1: Text vom 22.11.2003]:To the centre of the city in the night waiting for you
Holla, ich ging aus heut nacht. Nachdem ich in den letzten Monaten auf Partys Musik schwedischer Industrialcombos hören musste, die das Gutmenschenfeuilleton als protofaschistisch bezeichnen würde, und das nur, weil dort Klänge aus der Fleischverarbeitung zu musikalischen Strukturen umgearbeitet werden, durfte ich mich an Musik delektieren, die vor genau zwanzig Jahren im altlinken Feuilleton noch als faschistoid bezeichnet worden ist. Johnny Cash, heute als Chansonnier des Morbiden geadelt, galt damals als Ikone strammer Rechter; Joy Division, immer schon die größte Band der Welt, galten wegen ihres nihilistischen Anti-Hippie-Auftretens, ihrer unterkühlten Humorlosigkeit und wegen der Anspielung auf Hess durch Sänger Ian Curtis als aber so dermaßen faschistoid - und hatten sie nicht KURZE Haare?
Aber heute abend war nicht 1977 (By the way: Where were you in '77?), sondern 2003. Der Themenabend hieß Vernissage. Es gab gute Kunst in feinen Läden, schöne Frauen und gute Musik. Nicht dieses ewige elektrische Ham-burger Schickimicki Loungegefrickel, diese Dorfschulzes und Meiers, die alle nur hören, weil es vorne auf der Spex steht. Ok, sie spielten auch The Cure, aber das englische Sprichwort sagt, es ist nicht vorbei, solange die fette Lady noch singt. Und es gab schöne Frauen.
We would have a fine time living in the night
Eine verkaufte mir ein Bier. Und etwas Kunst. Jawohl, denn Kunst ist nicht nur zum Anschauen da. Kunst kann man nämlich auch kaufen! Merkt Euch das. Ich habe also ein wenig Kunst gekauft, nämlich dies hier:
Das ist ja wohl total geile Kunst. Es war wie ein Ausflug zum mexikanischen Totentag. Und deshalb war auch die Musik total richtig. Und deshalb waren die Frauen auch so schön. Denn wenn es eine Beerdigung gibt, müssen Frauen schön sein. Sie müssen schwarz tragen (gut, es gab schöne Frauen, die trugen gelbe Stiefel an diesem Abend, aber sie machten es durch ihre Art wett), sonst haben sie nichts zu tun. Einfach nur schön sein. Ich kenne Frauen, die sagen, das sei schwer genug. Aber für den Mann, der tot ist und nun beerdigt werden soll, ist es auch schwer. Denke ich.
(Titel: "Der Koch")
But I don't care anymore. I've lost the will to want more
Gut. Habe ich schon die schönen Frauen erwähnt? Die feine Kunst war gut besucht, es war eng, es war warm, es gab genug zu trinken. Die Kunst hing mit Augenmaß an die Wand genagelt an der Wand. Nicht wie bei vielen Pseudokünstlern, die noch frisch von ihren Akademien oder Designschulen kommen und noch die Stimme ihrer Dozenten im Ohr haben: Die Präsentation ist auch wichtig! Natürlich ist die Präsentation auch wichtig. Aber wichtiger als die Wasserwaage ist die Kunst. Und wenn es einigermaßen stimmt, kann man die Bilder auch pi mal Daumen an die Wand nageln. Glaubt mir das, ich habe schon viele Austellungen mit guter Kunst gesehen. Vor genau zehn Jahren, habe ich mal bei einer Hängung für eine Ausstellung geholfen. Und man mokierte sich über die Unorthodoxie meiner Arbeit. Ein Bild hing höher, eines leicht drunter. Man hat es dann schnurgerade gemacht, ich bin nicht zur Vernissage gegangen, man hat nie wieder etwas von den Künstlern gehört. Seht ihr!
What you gonna do when the novelty has gone?
Das Schöne war, es waren nicht nur viele Leute da, es wurde sich auch unterhalten. Man stelle sich vor, ich kannte kaum eine Seele, eigentlich niemanden (bis auf eine dieser schönen Frauen, die ich flüchtig vom Sehen kannte). Und dennoch war die Unterhaltung leicht. In Hamburg! Es gibt ja Leute, die partout (Aaaah, tout alors!) nicht mit einem reden. Außer man materialisiert sich in einer rauchenden Patschouliwolke vor ihnen und sagt "Nietzsche!" oder "De Sade!" oder "Umkehr aller Werte!" Aber heute, unter all der guten Kunst, war es leicht, Kontakt zu knüpfen. Ich gehe wieder gern zur guten Kunst.
Let's take a ride out, see what we can find
Jemand lud mich später noch zu einer Party ein. Aber ich bin in der Midlife-Crisis. Ich gehe nicht mehr mit fremden Frauen auf fremde Partys. Eine Botschaft am Tag reicht. Die Botschaft hieß: Geh zur guten Kunst.
Destiny unfolded. I watched it slip away
Also drehte der Rest der Unterhaltung sich noch über Mangas, das Malen von Augen, Lederfetisch, Frauen mit schlanken Fesseln, genetische Program-mierung, Zwillingsforschung, Kleinbürgerfamilien und Arbeiterkinder, Bombenteppiche, U-Bootjagden, EA 80, Hüte aus den 60er Jahren, die auf eBay verlorene Kindheit, die auf eBay verkaufte Kindheit, Limousinen von Opel und sanitäre Einrichtungen auf Musikfestivals. Ich denke, eigentlich ging es um Trauer. Wir standen unter dem Memento mori mexikanisch ikonographischer Todesbilder und griffen nach dem Rest unseres eigenen kleinen Lebens zwischen Babysittern und Kinderlosigkeit und einer grauen Erinnerung an die Zeit der frühen 80er, als wir die Hoffnungslosigkeit kultivierten. Jetzt fahren wir die Ernte ein. Zwischen schönen Frauen und guter Kunst.
(c) 2003 - Zitate: Joy Division

Sonntag, 4. Januar 2004
Wir füllen unsere Vitrinen mit den Knochen von Cary Grant. Wir füllen unsere Herzen mit den toten Bildern vergangener Tage. Wir wandern ruhelos, allesamt mondsüchtige Nachtgestalten im Lichte fahler Laternen. Unsere abgetrennte Hälfte aber bleibt verschollen, unauffindbar wie ein Fisch im endlosen Ozean. Wir sind so häßlich, bitte mach uns schön. Dieses Bild hat, so geht eine durch Indizien gestärkte Vermutung, etwas mit Liebe zu tun. Deshalb rührt es mich. Ich stieß durch einen Link im Institut Drahomira auf dieses kleine Kunstwerk. Das Institut ist aus verschiedenen Gründen empfehlenswert. Besonders aber für den, der auch ein Freund der Pflanzen ist und gern manche verbotene Blume pflückt. Ein solcher Mensch aber wird sich hier wohlfühlen. Wer aber sein Herz verhärtet hat und nur den Blumen des Bösen geöffnet hält, der sollte indes ganz unbedingt seine Augen in diese düstere Höhle richten. Auch hier mag ich mich heimisch fühlen.

Montag, 29. Dezember 2003
Das Thema ist ja nun wirklich durch. Deshalb wollte ich eigentlich überhaupt nicht mehr hin. Aber da es nun so was von durch ist - konnte ich ja auch mal hingehen. Liebenswerterweise war mir der Katalog zur Ausstellung "Körperwelten" schon 1997 aus Mannheim mitgebracht worden. Man war also präpariert. Ausserdem habe ich während meines Studiums eine zeitlang in der Pathologie gearbeitet. Man war also doppelt präpariert.
Etliche Raucherlungen später dann die dumpfe Erkenntnis: Och jo, ein büschen öde ist das dann doch. Das dritte Plastinat bringt nur noch den reichlich durch die Ausstellung dozierenden Medizinstudenten frivole Erkenntnis, dem interessierten Laien aber ist bald Pankreas, Nierchen und Herzeleid ganz einerlei. Zudem - und jahreszeitlich induziert - mag der kritische Blick von der lautstark gepriesenen Filigranarbeit nicht viel erblicken. Manche Rippenbögen erinnern an nachlässig abgenagte Gänseviertel vom Weihnachtsdiner. Überall noch leicht schmuddelig wirkende Reste. Aber filigran ist relativ, und wahrscheinlich ist das, was dieser Beuys der Knochenschnitzer mit seiner patentierten Technik hinbekommt, schon mehr als sich das Medizinerherz jahrhundertelang erträumen konnte. Geschenkt. Diese Ausstellung erzeugt auch keine moralischen oder ethischen Probleme. Hier wird auch nicht die Würde von Lebenden oder Toten verletzt. Diese Austellung bietet ein rein ästhetisches Problem.
Lieber Gunther von Hagens: Einem an die 20.000 Marks teurem Ganzkörper-Gestalt-Plastinat wie dem "Schachspieler" stellt man doch kein billiges Reiseschach im Aufklappkistchen vor die Finger, was bei Kaufstadt 19,95 gekostet hat! Das ist total lieblos und UNÄSTHETISCH! Da kann man doch wohl mal 'nen Tausender locker machen für ein edles, schönes, wirklich künstlerisches Schachspiel, das dem tödlichen Ernst des Spielers und der Würde des Spenders angemessen wäre.
Noch schlimmer: Dieser Memento-Mori-Mann mit der Eieruhr in der Hand. Mich hätte fast der ästhetische Schlag getroffen. Da drückt man einem Ganzkörper-Plastinat, in das so viel Mühe und Kunststoff geflossen sind, völlig lieblos ein dermaßen unedles und kitschiges Pseudo-Antikteil in die Gummifinger! Unglaublich. Eine potthäßliche, künstlich auf "alt" getrimmte Sanduhr aus dem Fantasy-Rollenspiel-Bedarfsladen für 5, 75 Euro. Oder von einem dieser Mittelalter-Märkte, auf denen man auch "echte" Langschwerter für den Hausgebrauch kaufen und Pseudo-Met aus Tierhörnern trinken kann. Das sieht ja aus wie im Zimmer eines 16-jährigen Cradle-of-Filth-Fans! Man ist pikiert.
Meinen Aufnahmeantrag als Körperspender habe ich noch an Ort und Stelle zerrissen. Hier wird meine ästhetische Würde empfindlich gestört.
Aber die Lunge, die sich anfühlte wie ein Wutball, die war schön. DAS wäre mal eine Idee für diesen gleichfalls aufs obszönste verkitschten Museumsshop.
