Reisen in Nihilon: Scharbeutz

Alles Unglück in der Welt kommt daher,
daß man nicht versteht,
ruhig in einem Zimmer zu sein.

(Blaise Pascal)




Das neue Projekt heißt Nachsaison. Der mittlerweile auch etwas in Vergessenheit geratene Zeichner Loustal hat darüber einen seiner melancholischen Erzählbände veröffentlicht (Arrière Saison): Die Zeit nach den großen Versprechen des Sommers, der flirrenden Hitze, sonnenblitzenden Blicken und gesundbraunen, wenig scheuen Körpern, die in einer kraftvoll gebogenen Kurve von den Piers und Brücken ins grünblaue Wasser schnellen.



Der Strand liegt nun ruhiger, unberührter. Stiller harren die Seebrücken, empfindlich kühl ist das Wasser geworden, niemand wagt heute den Todessprung. Der kalte Sand fühlt sich gut an unter meinen nackten Füßen, ich gehe durch die Brandung, grabe mit den Zehen fein zermahlene Muscheln um und warte auf den Sonnenstrahl, den der Wetterbericht für heute ankündigte.

Als ich mich für ein improvisiertes Picknick auf meine Kapuzenjacke setze, Himmel, Sand und Wellenschläge im Blick, durchsucht als erstes der Wind meine Taschen. Doch die Natur zeigt sich von ihrer verbindlichen Seite: Eine griesgrämige Seemöwe freundet sich bald mit mir an, während wir gemeinsam auf unsere Zukunft warten. Lange Zeit spülen die kläglichen Wellen der Ostsee nicht einmal tote Fische an Land. Mein großer Zeh bohrt sich tiefer in den Sand. "Life is very long, when you're lonely", singen die Smiths. Mein Freund, die Möwe, verzieht den Schnabel zu einem spöttischen "Hiiiiaaarrr". Auch diesen Augenblick gilt es zu genießen, erkläre ich mit wichtiger Miene, doch abgelenkt fixiert der trübsinnige Vogel just in diesem Moment starr einen fernen Punkt am Horizont.



Weiter unten am Strand ist das Häuschen der DLRG verwaist. Nur ein paar Rentner wandern am Ufer auf und ab, Leben gilt es heute wohl nicht zu retten. "We could go for a walk where it's quiet and dry and talk about precious things...", versuche ich meinem geflügelten Freund in internationaler Seemannssprache zu kommen. Die Möwe gähnt und dreht sich etwas weiter in den Wind. Dieser Strand, rufe ich laut, läßt in seiner frisch und viel zu akkurat gerechten Stille nicht einmal Stimmung für Pathos aufkommen! Der Vogel beäugt mißtrauisch meine rudernden Arme, rührt sich aber nicht von der Stelle. Und, Herr Möw', was haben wir dazu zu sagen? Hiiiarrr? Nevermore? Raus damit! rufe ich, schon lauter, eine Antwort von der unbestechlichen Natur erwartend, aber die Ostsee, obwohl anerkanntes Seemannsgrab, plätschert einfach weiter unbeirrt und bedächtig vor sich hin.



"Die will nur ihr Brot", stellt einer der Rentner nüchtern fest, der sich in seinen Gesundheitsschuhen lautlos an mich herangeschlichen hat. So ist das, denke ich, und betrachte mißtrauisch meine Käsestulle. Hiiiiaarrr krächzt der Vogel nun erregter und schlägt kurz erwartungsvoll mit den Flügeln. Brotzeit ist vorbei, schreie ich das Tier an, enttäuscht und resignierend. Das Leben hat Nachsaison. Iß doch Kuchen!

Ausfallschritt | 03:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
lady.death1 - Freitag, 14. September 2007, 09:56
OH!
Scharbeutz.


Mein Gott; wie sieht den die Promenade aus?
Gibts die Fischerkate noch?
Und wenn ja ..Hella das Rauhbein .. lebt der noch?
Und die CD Klause ..

Das letzte Mal stand ich mit wehendem weißen Kleid auf der Seebrücke , und habe auf meinen Seemann gewartet...

Ich träume gerade mit offenen Augen.
Von alten Geschichten.
Und schlucke Tränen runter.

Das hätt ich heute morgen nicht erwartet.

PS. Gibt es noch mehr Bilder?
Kannst Du mir auch gerne im elektrischen Brief schicken...

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saxanasnotizen.blogspot.com - Freitag, 14. September 2007, 13:14
Sieht kühl aus, die Ostsee auf den Bildern. Aber wenigstens Meer und Sand und ein Tier. Ist sicher unglaublich gesund.

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kid37 - Freitag, 14. September 2007, 17:20
Man kann dort mit nackter Brust im Ringelhemd am Ufer stehen, laut aus der Ilias deklamieren - und kaum einen störts. Wenn das nicht gesund ist! Man könnte auch selber dichten: "Die eisigen Füße im Wasser", frei nach C.F. Meyer. Leider war ich ja nur kurz dort.

Frau Death, die Szene mit dem Kleid habe ich soeben für das Opernstück vorgeschlagen. Glauben Sie mir: Heute wirkt der Ort wenig romantisch, was bleibt, ist der verheißungsvolle, nostalgische Klang von Scharbeutz. In einem Fotogeschäft habe ich alte Aufnahmen des Ortes gesehen, unter anderem auch die Miss Seebrücke von 1950irgendwas. Sehr apart. Entschuldigen Sie den Erinnerungsüberfall, ich schicke noch ein paar Bilder.

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bufflon - Freitag, 14. September 2007, 13:56
Hach, Sie. Kühle, fast menschenleere Ostsee, so ist sie mir am liebsten, fast noch lieber als sonnengetränkter Mittelmeerkiesstrand. Wichtig für den Herbst (Nachsaison) ist der Hinweis: "Springen von der Seebrücke verboten." So schlimm wird das alles gar nicht sein.

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kid37 - Freitag, 14. September 2007, 17:23
"So schlimm" ist das alles nicht. Ich hätte mir für die rechte Stimmung noch ein wenig Nieselregen gewünscht.

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ladys smock - Freitag, 14. September 2007, 22:50
wir haben da mal im Sommer Urlaub gemacht - so ungefähr vor 30 Jahren. Ich schrieb damals Postkarten an meine Freundin, die in Brighton die obligaten Sprachferien absolvierte. Die Gasteltern meinten, dass sie noch nie so klein- und vollgeschriebene Karten gesehen hätten. Damals war für mich so wenig los wie auf Ihren Bildern, Matrosen auch nicht in Sicht - was hätte man sonst machen sollen?!

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wimpernschlag - Freitag, 14. September 2007, 23:47
Das Leben hat Nachsaison.
aaaah, soviel missmutigkeit ist einfach herrlich!!! ;-)))

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neo-bazi - Samstag, 15. September 2007, 01:45
Und ungefähr vor 40 Jahren ist Mali, mein Berliner Kumpel, da ganz in der Nähe aus Liebeskummer ins Wasser gegangen. Er hatte vergessen, dass er schwimmen konnte und kam spät und klatschnass an Bord zurück. Eine geschichtsträchtige Gegend, diese Lübecker Bucht.

Hermann Löns meint das übrigens auch:

Der alte Seehund

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lady.death1 - Samstag, 15. September 2007, 10:48
ich besitze noch ein Foto der Seebrücke ,
als sie komplett zugefroren war...und die Eisschollen sich am Strand auftürmen..
ich such das mal.

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Lu - Samstag, 15. September 2007, 19:45
ich bin ein paar sommer in folge centimeterweise in damp 2000 gewachsen, damals.
ach, ostsee.

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kiryl - Montag, 17. September 2007, 16:33
Dieser Text ist ein echtes Fundstück für mich: es glänzt, ist rund und liegt gut in der Hand!

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kid37 - Dienstag, 18. September 2007, 00:30
Schwimmen zu können, "so'n verdammtiges Lork!" (Hermann Löns), kann eine echte Plage sein, Liebeskumer aber auch. Obwohl: "Kummer schwimmt oben" (John Irving), da haben wir wohl die Ursache...
Nächstes Jahr will ich auch wieder echten Wellen trotzen, ein bißchen jedenfalls. Gerne auch ohne Liebeskummer.

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kaltmamsell - Sonntag, 16. September 2007, 10:28
(Ah, oh, das heißt wirklich so. Ich hielt den Ortsnamen für einen Ausruf. Als nächstes fahren Sie nach Pardautz?)

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kiryl - Montag, 17. September 2007, 16:34
Dieser Text ist ein echtes Fundstück für mich: es glänzt, ist rund und liegt gut in der Hand!

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kid37 - Dienstag, 18. September 2007, 00:16
Oh, vielen Dank. Und das, obwohl in Scharbeutz fast nur Sandstrand liegt.

Frau Kaltmamsell, die Frau Diagonale war bereits, Potzblitz, vor mir Jammertal, sonst wäre das natürlich meine erste Adresse gewesen. Hamburgs Nähe hätte da nur noch "Kummerfeld" zu bieten.

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m. - Dienstag, 18. September 2007, 11:01
scharbeutz.
das klingt nach einem dorf in pommern,wo eine thomas mann ähnliche familie für morgen den hufschmied auf ihren landsitz mit lindgrünen seidentapeten bestellt hat.
in der küche kühlt ein blaubeerkuchen aus und im garten sind die birnen reif.

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kid37 - Mittwoch, 19. September 2007, 01:58


Genau so war es. Und während ich auf die ApfelBirnenkönigin wartete, kam auf einem schweren Pferdegespann ein Faß Wein des Weges und bot mir immerwährende Freundschaft an. (Heilbronner Jungfrauen tanzten einen Reigen und bewarfen mein Haupt mit Rosenblättern.)

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schneck06 - Mittwoch, 19. September 2007, 20:18
das schlimmste müssen die heilbronner jungfrauen gewesen sein. ansonsten ist diese region ja winters sehr im reinen mit sich. ich war mal vier monate in cismar, den winter über, allein. da kommt man schon auf komische gedanken.

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