... und gebar ein Klötzchen

Hier treff' ich dich
und den Rest der Szene.
Urcool diese Location,
quasi im öffentlichen Raum.

(Otto Europa, "Knietief im Zitronengras")

Als ich am Samstag das erste Mal im neuen Berliner Hauptbahnhof einlief, habe ich fast geheult. Einige werden jetzt sagen, Herr Kid, fast geheult, das ist doch aber nichts Neues, der heult und jammert doch ständig. Aber erstens stimmt das in letzter Zeit gar nicht mehr so, und zweitens war der Anlaß ernst. Denn der Berliner Hauptbahnhof ist schlichtweg eine Katastrophe.

Wo jeder Reeder in Hamburg seine großen Schiffe stolz an den Kais präsentiert, versteckt Die Bahn AG i.G. ihre Flotte verschämt im Tiefgeschoss. So wie saturierte Vorstädter, denen plötzlich einfällt, Ach ja, ein Fahrrad habe ich ja auch noch im Keller. Das könnte ich eigentlich wieder flottmachen, das Wetter ist so schön. Wenn man dann im Keller aus dem ICE steigt, zieht man unwillkürlich den Kopf ein, so niedrig wirken die Decken. Auch meint man, nicht in einem Bahnhof, Verzeihung: Hauptbahnhof gelandet zu sein, sondern in einem Lebensmittelmarkt auf der grünen Wiese. Wände, die aussehen wie perforierte Rigipselemente, verleihen den Charme des örtlichen Aldimarktes, aber nicht die pompöse Grandezza (um dieses Wort mal aufzugreifen), die ich mir vom Hauptbahnhof der Hauptstadt erwarte.

Das Architekturbüro gmp hatte bekanntlich eine ganz andere Vision vor Augen: eine gothisch anmutende Kuppel aus Glas und Leuchtern. Herausgekommen ist der betongewordene Kleinmut, der so symptomatisch ist für diese Republik: Klotzen wollen, aber nur kleine Würfel produzieren. Für 500 Millionen Euro den Großkotz spielen, aber dann eine graue Betondecke einhängen, wo man Licht und Weite - Perspektive eben - erwartet hätte.

So erlebt man, egal an welcher Stelle man sich befindet, ein verschachteltes Etwas, bei dem alle Sichtachsen unterbrochen werden durch quergezogene Ebenen, Pfeiler, Säulen oder runde Aufzüge. Jegliches Gefühl von Weite wird durch Betonrampen der mittleren Ebene versperrt, für diese immense Horizontale des Baus fehlt definitiv die Vertikale, wie sie Bahnhöfe in Köln, Frankfurt oder sogar Hamburg bieten. Einzig an manchen Stellen gibt es das Gefühl von Tiefe. Ich vermute aber, sobald die ersten Selbstmörder die Fallwucht im neuen Bahnhof getestet haben, werden auch noch Netze eingezogen, die die letzte Anmutung von Weite ins Kleinkarierte zurren.

Das mögen am Ende jedoch ästhetische Befindlichkeiten bleiben, über die nur unvernünftige Menschen endlos streiten. Zum Glück. Was aber endgültig ärgert, ist die Verfehlung dieses Bauwerks als funktionaler Ort. Es ist offenbar ein Politikerbahnhof, an dem die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter mit einem Attachéköfferchen bewaffnet aus dem ICE steigen und gemütlich die 400 Meter zum Reichstag zurücklegen können. Für jeden echten Reisenden mit richtigem Gepäck, wird dieser Bahnhof zum Purgatorium. Wenn 200 Menschen auf einmal den ICE verlassen, sich mit Koffern, Plunder, Bahncard und quengelnden Kindern die engen Rolltreppen hochquälen, dürfen sie sich durch die Shopping-Touristen manövrieren, die in der mittleren Ebene Restaurants und Boutiquen besichtigen und ansonsten bräsig im Weg stehen, nur um auf der dritten Etage endlich die S-Bahn zur Weiterfahrt in die Stadt zu erreichen. Eine Ochsentour für Kunden, die das eigentliche Kerngeschäft der Bahn bedienen. Der Bahn-Comfort-Kunde sagt schon jetzt: Vielen Dank, Herr Mehdorn! Der Rest überlegt wohl schnell, auf einen Opel ein Auto umzusteigen.

Da mein Lieblingsheiliger Sisyphos heißt, ist mir das egal. Völlig gaga aber werde ich auf dem Bahnsteig. Wenn man (trotz bloß spärlicher An- und Abfahrtstafeln und sonstiger Beschilderung) sein Gleis gefunden hat, wird man von einer Stimme gequält, wie sie in den 70er und 80er Jahren auf Mittelwelle zu hören war. Damals funkten die östlichen Geheimdienste ihre Anweisungen in stundenlang monoton vorgetragenen Ziffern-Fünfergruppen an ihre Agenten: Zwo-Vier-Sieben-Neien-Drei. Mit dem Charme der computerisierten Zeitansage, werden nun die Zugansagen aus der Sprachdatenbank zusammengebastelt. Mehrsprachig piesacken einen fortan völlig falsch betonte Sätze, deren künstliche Intonation einen binnen kurzem in den Wahnsinn treibt.

Dies ist ein Bahnhof für Blade Runner, und die Replikanten, die sind schon lange unter uns.

Flanieren | 21:26h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
burnster - Mittwoch, 7. Juni 2006, 13:02
Jetzt haben Sie im letzten Satz doch noch mein Interesse geweckt. War ja noch nicht da. Sind mir zu viele Messerstechereien in der Gegend.

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kid37 - Mittwoch, 7. Juni 2006, 15:30
Visuell-ästhetisch leider nicht so, dafür ist es zu verschachtelt, ohne jegliches Gefühl von (auch bedrohlicher) Weite und Leere. Aber die allgegenwärtigen Werbebanner und eben diese seelenlose Computerstimme, die einen binnen Minuten irgendwie leersaugt, an den Hirnen zerrt (mindestens jedoch an den Nerven)... schlimm.

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ana - Mittwoch, 7. Juni 2006, 14:40
Bis vor einigen Wochen hätte ich Ihnen noch den Nürnberger Hauptbahnhof wegen einer Besonderheit empfehlen können. Dort gab es mitten im Gewimmel zwischen den Ladenpassagen ganz in der Nähe der Gleise einen Kultursalon, in dem ein Programm mit Lesungen, philosophischen Gesprächen und Musik für Einheimische und Reisende regelmäßig geboten wurde. Das schöne Projekt ist aber langfristig gescheitert, weil die Bahn letztlich die zentrale Örtlichkeit doch lieber unvermietet lässt, als sie verbilligt für einen solchen Zweck zur Verfügung zu stellen. Seitdem gibt es auch in Nürnberg unweit der Lautsprecherdurchsagen keine Flügelklänge mehr.

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kid37 - Mittwoch, 7. Juni 2006, 15:34
Keine Wartesäle, kaum Sitzbänke auf den Gleisen... das ist Bahn-Comfort. Warten Sie gefälligst in den Läden, die Sie bis 22.00 Uhr erwarten. In Hamburg hat man ja Erfolge gefeiert mit Barockmusik: Mit dem auf Dauer für Ungeübte etwas anstrengendem Gedudel Perlen von Klavier- und Flötenmelodien vertreibt man hier Junkies, BLogger und andere Randständige aus Bahnhofspassagen.

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frau klugscheisser - Mittwoch, 7. Juni 2006, 17:31
Das bedeutet dann vice versa, dass ich weder Junkie noch Blogger bin, wenn ich dem Gedudel Kulturgenuss standhalte?
[hat hier in Münchner UBahnschächten bereits Einzug gehalten. Wenn Stoibassic Park auch sonst recht rückständig ist.]

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frau klugscheisser - Mittwoch, 7. Juni 2006, 17:33
Ähm, eben drüber gestolpert: wer will schon AUF Gleisen sitzen?
[ausser man gehört zur RandGruppe der morbiden Ringelstrumpffetischisten ;o) ]

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kid37 - Mittwoch, 7. Juni 2006, 17:57
Haha, da diktierte mir das Unterbewußtsein die Feder. Ein Fall für die Neigungsgruppe Frei & Willig. Besser nicht. Apropos: Auf der Hinfahrt saß ich im ICE hinter einem bekannten Regisseur ganz hinten im Zug, direkt vor dem Führerstand. Dieser ist nur durch eine Glasscheibe von der Fahrgastkabine getrennt. Wie mir ein Einsenbahner erklärte, kann die vom Lokführer "blind" geschaltet werden (zwei unterschiedlich polarisierte (?) Glasscheiben werden ineinander versetzt), sollte mal jemand vor den Zug springen. (Zitat: "Kommt ja ab und zu mal vor.") Solange der Lokführer schnell genug reagiert, bekommen die Reisenden davon nichts mit. (Leider aber der Lokführer.) Kinder, laßt die Scheiße.

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ana - Mittwoch, 7. Juni 2006, 18:30
Barockmusik - da hat Hamburg aber sanfte Methoden.

In Nürnberg werden die Randständigen nicht durch Händel vom Band, sondern durch ständige, allgegenwärtige Polizeipräsenz aus dem Bahnhof verdrängt. Obwohl es in den Passagen keine klassische Musik zu hören gibt, spielen dort weder drinnen noch draußen Straßenmusikanten. Früher gab es im Bahnhofsbereich noch die Gitarristen mit den Hüten.

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maz - Mittwoch, 7. Juni 2006, 16:08
Ach ja, ihr Deutschen mit eurem Bahnwahn...
Ich sage euch, es lebe die deutsche Autobahn :-))

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kid37 - Mittwoch, 7. Juni 2006, 17:59
Apropos: Was wünscht sich eigentlich ein türkischer Junge zu Weihnachten zum Geburtstag? Eine Dönerbude aus Playmobil? Doch bestimmt auch eine Modelleisenbahn?

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maz - Donnerstag, 8. Juni 2006, 01:23
Natürlische BMW und wenn er zurücksticheln wollte, wünschte er sich dazu sicherlich auch noch Kartoffeln (aber nicht um sie zu verkloppen, sondern nur um daraus Stempel zu schneiden)...
Jetzt bisschen ernst (aber nur ein bisschen): Edle Tapete. Schön heimelig schaut's hier aus.

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kid37 - Donnerstag, 8. Juni 2006, 01:27
*vornkopfschlag* Natürlich, darauf hätte ich aber kommen können! (Wenn ich das mit den linken und rechten Spalten noch hinbekomme, lasse ich die Tapete sogar drin. Leider zeigt derzeit ausgerechnet nur der IE6 alles so, wie ich es mir dachte, grmml.)

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blue sky - Donnerstag, 8. Juni 2006, 02:01
Fügen Sie mal in der Main Page Skin ganz unten vor </div></body></html> die folgende Zeile ein:

<div style="clear: both;font-size: 1px;line-height: 1px;margin-top: -1px;">&nbsp;</div>

Damit sollte der weiße Hintergrund bis nach unten gehen. Fragen Sie mich nicht warum, habe den Trick selbst nur irgendwo gefunden.

(Wenn's geklappt hat, dürfen Sie diesen Kommentar gerne löschen.)

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kid37 - Donnerstag, 8. Juni 2006, 02:16
Ah, merci. Ich war gerade bei dieser Lösung, aber Ihr Vorschlag scheint einfacher. Gleich mal schauen...

Edit 1: Hm. Das funktioniert nicht. IE macht es korrekt, Mozilla/FF nicht.

Edit 2: Probiere gerade was mit der overflow:hidden-Funktion. Kommt der Sache schon näher.

Edit 3: So. Noch zwei Schrauben festgezogen. Das schaue ich mir morgen in Ruhe an. Gute Nacht und vielen Dank!

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frau klugscheisser - Donnerstag, 8. Juni 2006, 10:06
Sieht irnzwie wie bei Oma aus. So... äh... gediegen. Sie werden doch nicht auf Ihre alten Tage...?

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diagonale - Donnerstag, 8. Juni 2006, 10:09
Aber jetzt wackelt hier nix mehr! Danke Danke Danke! Jetzt komm ich wieder richtig gern!
Ich wurde schon immer ganz nervös, wenn Ihr Café aktualisiert gezeigt wurde. Wusste ich doch nie, ob ich auch wieder gehen dürfe.

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kid37 - Donnerstag, 8. Juni 2006, 13:44
Frau Klugscheißer, ich habe zwei Rollen dieser Tapete aus einem ehemaligen Luxus-Etablissement geschenkt bekommen. Das paßt ja wohl goldrichtig hier. Ach, apropos, um die Goldkante muß ich mich noch kümmern.

Frau Diagonale, das freut mich, daß der Kleister Ihren Browser gleich mitgeklebt hat. Auch wenn die Vorstellung, no one here gets out alive einen gewissen Reiz hat.

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au lait - Mittwoch, 7. Juni 2006, 18:28
Mit Blick auf die potenziell von überallher beargwöhnte Gefahr terroristischer Anschläge befremdete mich in diesem seltsam mehrgeschossigen Treppenglaskuppelwirrbau ja auch der riesige Leuchtreklametext "Bombardier. Willkommen in Berlin". Auf dass die Stoßfestigkeit der Scheiben doch vielleicht einmal durch hereinschneiende Flugkörper getestet wird? Zuweilen beschlich mich, während ich mich mitsamt Koffer und Beipackbehang zwischen Unmengen gehetzter Wegversperrer durchlavrierte, erst ein Anflug überbordender Misanthropie, dann paarte sich dieser mit dem irritierenden Gefühl, dass diese Auffassung von Moderne mir entweder zeigt, dass meine Vorliebe nicht der Moderne gilt, oder irgendetwas anderes, was ich nicht verstehe.

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diagonale - Mittwoch, 7. Juni 2006, 18:32
Bombardier ist aber doch kein böser Bombenwerfer sondern der Hersteller unserer Züge...

Deswegen muss aman die dortige Architektur aber auch nicht besser verstehen. Nehmen sie mal mich! Ich war noch nicht mal da!

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kid37 - Mittwoch, 7. Juni 2006, 18:34
Das ist auch nicht modern, sondern bloß mißglückt. (Andererseits, vielleicht ein Schwitter'scher Merzbau in der StahlGlassBeton-Variante mit Wort- und Reklamfetzen durchzogen. So habe ich es noch nicht betrachtet.)

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diagonale - Donnerstag, 8. Juni 2006, 10:11
Ist Kassel- Wilhelmshöhe denn schöner? Den mag ich ja nicht.

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kid37 - Donnerstag, 8. Juni 2006, 13:46
Ist das Kassel HBF? Oder noch ein anderer? Der documenta-Bahnhof ist vorne funktional und hinten offen, wenn ich es richtig entsinne. Na ja, immerhin Licht & Sicht.

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diagonale - Donnerstag, 8. Juni 2006, 13:53
Nee, der documenta-Bahnhof ist nicht mehr der HBF. Der ist sehr schön aber eben leider ein Kopfbahnhof... das ist in der heutigen Zeit zu aufwändig und unerwünscht. Für kleinere Regionalzüge wird er aber noch genutzt.
Beim BHF Willemshöhe fährt man erst mal in ein Loch und auf der anderen Seite wieder raus. Man könnte es auch als Tunnel bezeichnen. Die Gleise sind auch sehr kühl und extrem nüchtern. Immerhin gibt es aber Wegweiser. Man findet aus dem Loch also wieder raus. Immerhin.

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kid37 - Donnerstag, 8. Juni 2006, 01:03
Gerade vernahm ich, es gibt dort nicht einmal SCHLIESSFÄCHER? Kann das sein?

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engl - Donnerstag, 8. Juni 2006, 02:01
ja. von wegen der terrorgefahr. ;-)

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kid37 - Donnerstag, 8. Juni 2006, 02:20
Wahnsinn. Ich sage es ja: Für Reisende ist dieser Bahnhof nicht gedacht.

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engl - Donnerstag, 8. Juni 2006, 15:50
siehe auch hier: http://www.tagesspiegel.de/meinung/archiv/08.06.2006/2579762.asp

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au lait - Donnerstag, 8. Juni 2006, 16:24
Für wen sind denn Bahnhöfe gedacht, wenn weder für Terroristen noch für Reisende?

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