Keine Nachtmahr vor Weihnachten



An manchen Tagen setzt auch Herr Kid die rosarote Brille auf (auch wenn ich mit der alten ziemlich gut klar kam). Dann steige ich hinab in den Keller, hole das Lachen ab und die Benachrichtungskarten und fühle mich auf dem Postamt richtig überrascht.

Vielen Dank, ich bin sehr gerührt. Meine erste Neubauten-CD seit Jahren zudem, nein, die erste sogar. Die anderen sind noch aus seligen Vinyl-Zeiten.

"Silvester bin ich wieder in der großen Stadt", meinte ich gestern - und mein Bruder lachte feist und meinte, "Wenn Du bis dahin wieder hier wegkommst." Tatsächlich waren die Wuppertaler Höhen binnen einer halben Stunde bedenklich eingeschneit. Weiße Weihnachten, mitten aus der lameng, wie man dort so sagt. Die dritte CD unterm Baum stammte von den Wupperhofern, "einer der ältesten Männerchöre der Welt", wie das Booklet verrät. Die Jungs von 1812 e.V. sind zwar Solinger, aber da will ich mal nicht so sein. Sie schmettern jedenfalls eine ergreifende Version des Bergischen Heimatliedes. ("Hebt kühn sich zum Streite/die bergische Faust/dem Freunde zum Schutz/dem Feinde zum Schand" und natürlich, unsterblich: "Wo die Mägdlein so wahr/und so treu und so gut/Ihr Auge so sonnig, so feurig ihr Blut/Wo noch Liebe und Treue/die Herzen Verband - da ist meine Heimat, mein Bergisches Land.")

Heimat, Herz und Heizdecke. "Würdest du noch mal hierherziehen?" fragt mein Vater. Ich kann es mir derzeit nicht vorstellen. Wenn ich ab und an zurückkehre, bemerke ich als erstes den Verfall. Den Niedergang der alten Geschäfte, vergessene Leuchtreklamen an den Hauswänden, die zerrissenen "Neueröffnung"-Banderolen, halb überklebt von den "Zu vermieten"-Schildern. "Der Ku'damm", sage ich, "ist kilometerweit mit Lichterketten geschmückt, als gäbe es kein Morgen. Kein Wunder, daß Berlin nicht mehr mitbekommt, wie es um die wirkliche Welt steht."

Erinnerungen, die bleiben. Ein paar schmutzige Fotos, die einst ein glücklicheres Leben versprachen.

Der Bundespräsident benutzt einen Tonfall als spräche er zu Dreijährigen. Jeden Anfang eines neuen Absatzes betont er als wolle er sagen, "Ja, liebe Kinder, gebt fein acht...". Er spricht von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Aber nur ein "bißchen": "Ein bißchen mehr Ehrlichkeit."

Er hat recht. Wir wollen ja nicht gleich übertreiben.

Homestory | 03:25h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
maz - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 05:12
Heimat, Herz und Heizdecke.
Wunderbarer alliterarischer Dreiklang.
Memleketmi yıldızlarmı gençliğimmi daha uzak (Was ist (sind) jetzt so fern: die Heimat, die Sterne oder meine Jugend)... schrieb der große Dichter über den blutigen Birkenwald...
[Update]: Ein alter Kongruenzdefekt... hängt wahrscheinlich mit meiner agglutinierenden Muttersprache zusammen.

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kid37 - Donnerstag, 29. Dezember 2005, 01:31
Der "blutige Birkenwald" evoziert mächtige Bilder. Trakls "Grodek"... aber ich soll ja nicht immer so düster sein.

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okavanga - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 14:39
Ja, recht hat er. Sonst erfährt man am Ende noch die Wahrheit.

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engl - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 16:08
hoppla, da da stolper ich jetzt aber über, ich weiß gar nicht was. siebzehn jahre südstadt, bendahl- und uninah, sowohl haspel als auch die aufm berg, später dann. (ingendahl, rölleke, wunderlich, aber das sagt jetzt natürlich überhaupt nichts, sorry.)
als ich nach berlin ging sagte eine freundin, daß viele wuppertaler das täten, viele aber auch wieder zurückkämen, irgendwann. der unterschied ist wohl, daß sie tatsächlich wuppertalerin ist. (oder war es hückeswagen? naja, immerhin naheliegend.) ich dagegen bin ausm pott, und dahin ginge ich nie zurück.
wuppertal hingegen, diese verkommen(d)e alte schlange. der blick übers tal an silvester. anders als hier, rauchschwaden in häuserschluchten. wie krieg.
manchmal vermisse ich die kleine, ja.

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kid37 - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 16:33
Frau Engl! Da haben Sie mich aber... überrascht! (Bei Frau Wunderlich habe ich einiges gemacht, bei Rölleke noch mehr, am Ende auch meine Prüfung. Bei Born noch, Kafka, ganz am Anfang. Ansonsten hing ich ja in der Anglistik ein Stockwerk höher rum. Oder später dann noch am Haspel, Bazon Brock lauschen..)

Von Hang zu Hang schaut man über die kleine, enge Stadt, den giftigen Fluß. Das Quietschen der Bahn, die grüne Eisenkonstruktion... und vor allem der Blick! Hier in Hamburg vermisse ich das sehr. Man bekommt überhaupt kein Gefühl für Größe und Dimension einer Stadt, wenn es so flach ist und man keinen Berg in der Nähe hat, der einem einen Überblick verschafft.

Dann kennen Sie ja auch das Luisenviertel.

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engl - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 19:47
da da hab ich vor schreck ja sogar auch noch gestottert... ;-)

natürlich kenne ich das luisenviertel, hab jahrelang nicht weit davon gearbeitet, also jegliche mittags- oder sonstigen pausen irgendwo da verbracht. (wie heißt nochmal das ding schräg gegenüber dem congo? logisch, daß ich den namen vergesse, hab ja das congo auch wesentlich lieber gehabt, aber es hat ja dann immer erst ab 5 geöffnet, später.)

auch den u-club kenne ich, direkt dahinter hab ich mal lesend in der wupper gebadet. (bilder unten auf der seite und eine weiter) oder so ähnlich... (wer das schafft, wer einmal in der wupper stand, ist wuppertaler für immer, oder?)

bazon brock ging gerade als ich kam. wie die straßenbahn, die just am tag meines umzugs selbst ihren letzten hatte. aber die etage höher, wie soll ich sagen? deegan & foskett, wie pat & patterchon, eigentlich nur im duett erträglich. prießnitz, dem man besser ganz aus dem weg geht. mckeown? ;-)

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kid37 - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 22:50
Sie kennen sich aus im FB4. Mittlerweile sind schon einige emeritiert oder tot, ich muß mich da mal wieder sehen lassen bei Gelegenheit, bevor ich selbst für einen Seniorenstudenten gehalten werde. Swann hat übrigens die ersten Versuche in Richtung "Creative Writing Courses" dort abgehalten, falls Sie den noch kennen.

Als Kinder haben wir noch oberhalb von Beyenburg in der Wupper gebadet. Da gab es ja noch kein ökologisches Bewußtsein, deshalb war das alles ungefährlich, so um 1970 herum. Ich betrachte mich seither als mit allen Wassern gewaschen. Die Wuppertaufe sollte man dringend als Ritual anbieten. Vielleicht in Verbindung mit einem esoterischen Seminar. Die Stadt ist ja voll von Steiner-Schülern und Magickern. Stadt der Sekten und Chöre, sagt man ja auch.

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wise.up - Donnerstag, 29. Dezember 2005, 10:31
Ich bin beim Paddeln mit Heike Makatsch und ihrem Papa und einem Freund von dem mal in die Wupper gefallen, während ich mich vor dem vielen "Spiinaaaat" darin ekelte und gerade 7 oder 8 Jahre alt war. Unfreiwillige Bäder zähle ich nicht nicht zu den Waschungen. Ich muss noch daran arbeiten, um zu Weisheit zu gelangen. Aber nicht im Winter.

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kid37 - Freitag, 30. Dezember 2005, 00:35
Claim to fame: Paddeln mit Heike Makatsch. Das nenne ich eine Taufe ;-)

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wise.up - Freitag, 30. Dezember 2005, 18:20
Ach, die war doch damals klein und (nett-)bekloppter. Ich mochte sie gern. Und auch ihren Papa, der damals aus beruflichen Gründen seine Zähne heraus nehmen konnte und das bei Kindergeburtstagen auch gerne tat. Das Quietschen der weiblichen Grundschüler mit Zöpfen und Arglosigkeit am/im Kopp kann man sich ja vorstellen.

Unvergessen!

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wise.up - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 17:33
Ach ja.. das Tal. Es ist mir irgendwie sympatisch, seit ich dort meine erste Ausbildung machte. Vor einigen Wochen war ich wieder dort und erschreckte mich wiederholt bei Eisesglätte einen brutal steilen Berg im 90°-Winkel hochfahren zu müssen. Serpentinen kennt man dort nicht.
Schwebebahn fahren ist aber ein nachmittagfüllendes Programm mit realsatirischen Zügen. Das brauche ich alle 2-3 Jahre mal.

Wenn sie schon in der Gegend sind, kommen sie doch am 29. mal vom Tal ins Dorf zum ZDF 05

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kid37 - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 23:01
Anfahren am Berg lernt man am besten in Wuppertal. Hamburgern wird hier extra eine kleine Rampe gebaut. Ich bin allerdings schon wieder in der Hansestadt, um mit meinen Geschenken zu spielen. Das wird also leider nichts mit dem ZDF.

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wise.up - Donnerstag, 29. Dezember 2005, 10:25
Oh. Das ist sehr schade. Ich hätte mich gern auf Sie gefreut.

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gaga - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 18:09
das großartige an weld ist ja seine angekratzte und doch kraftvoller als sonst klingende stimme. ganz wunderbar. leider hat er seit dieser tour einen leichten gehörschaden incl. mann im ohr. wunderbare platte. absolute empfehlung. im gegensatz zu schrecklichkeiten wie der unerträglichen 'old ways'. aber man verzeiht ihm ja alles.

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fabe - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 22:35
Hat er das wirklich so gesagt? Ich zappe da ja konsequent dran vorbei, aus Gründen. so eine Arschgeige.

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kid37 - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 22:43
Ihr letzter Satz ist hier auf dem Monitor unleserlich. Da ist mir gerade Mozzarella drangespritzt, deshalb. (Unsitte, vor Geräten zu essen statt im Angesicht einer schönen Frau.)

Jedenfalls hat unser Herr Bundespräsident wörtlich gesagt: Wir sind bereit, neue Erfahrungen zu sammeln. Wir werden dazulernen, und so werden wir neue Kraft gewinnen. Auf diesem Weg sollten wir die alten Tugenden nicht vergessen. Ein bisschen mehr Ehrlichkeit, Anständigkeit und Redlichkeit im täglichen Umgang können uns wirklich nicht schaden.

Ich verstehe das so, daß wir uns langsam steigern sollen, aber nicht gleich fanatisch übertreiben mit der Aufrichtigkeit.
Ich sag's ja: 2006 wird mein Jahr!

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glueckskeks - Mittwoch, 28. Dezember 2005, 23:17
das wünsch ich ihnen, herr kid, daß 2006 ihr jahr wird. einfach mal so. und nicht nur wegen des mozzarellas oder anderer wunderschöner sätze.

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500beine - Donnerstag, 29. Dezember 2005, 09:28
SG vs. W
soso.. kid 37 ist ein wuppertaler, ein geflohener. elberfeld? (ich tipp auf barmen). aber du hast schon recht: das bergische land erinnert mich immer mehr an ein verödendes england.
vor dem nächsten krieg.

wie ich vernehmen durfte:
der herr hat in solingen glückliche stunden verlebt,
einst? hach ja. solingen.
welch ein klang..

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kid37 - Freitag, 30. Dezember 2005, 00:34
Natürlich stamme ich aus Erbarmen. Elberfeld, pöh. In der Tat gab es in Solingen auch schöne Stunden. Das waren ja die 80er.

@ Glückskeks: Vielen Dank. Auch 2006 gilt schließlich:
Immer weitermachen.

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