Pudelshows und Menschenpyramiden

Das Circusmuseum öffnet seine buntgestreiften Koffer und präsentiert hunderte alte Plakate aus der Welt des Varietés, der Manegen und Freakshows. Ein schöner, nostalgischer Blick zurück für alle Zampanos und Eisenbieger, Hochseilartisten und Messerwerfer. Die Harry Houdinis unter uns möchten andererseits vielleicht einen hypnotisierenden Blick auf eine ähnlich retrospektive Sammlung von Magiern werfen.

Vor ein paar Jahren sah ich eine der letzten Vorstellung im ehrwürdigen Hansa-Theater in St. Georg. Dort tanzten Marionetten im Schwarzlicht, aufgeregte Pudel auf silberglänzenden Podesten, boten russische Artisten eine "erotische" Show am Trapez und ein leicht pointenlahmer Conférencier frischgeföntes Kabarett. Besonders eindrücklich blieb mir die Speisekarte mit echt 70er-Jahre Gurkenscheibenschnittchen und der livrierte Kellner in Erinnerung, der sich nicht einfach ansprechen, sondern nur über ein Bestellknöpfchen am Tisch heranlotsen ließ. Nach 107 Jahren war dann Schluß mit dem Varieté. Das Finanzamt, die Kultursenatorin, die schwierige Lage auf St. Georg wurden verantwortlich gemacht. Ehrlicherweise muß man aber auch anmerken, daß das Programm aus tanzenden Pudeln und oftgesehenen Jongliernummern schon etwas, öh, speziell war. Jedenfalls neigte sich auch das Durchschnittsalter des Publikums verdächtig den 107. Von den Gurkenschnittchen auf der Speisekarte mal ganz abgesehen.

Dennoch schade. Die Tradition des Vaudeville - wie in England - und des klassischen Varietés hat nicht überlebt. Was bleibt, sind schrille Sex-Shows, überdrehtes Komödiantentreiben und Travestiekaraoke.
Häufig auch nett, aber eben nicht dasselbe.

Flanieren | 01:54h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
wise.up - Mittwoch, 29. Juni 2005, 10:45
Das ist zauberhaft! Ein schöner Start in den Tag, denn es motiviert mich, Zaubersprüche zu raunen und die Welt verändern zu wollen. Die Teufel auf der Schulter sind willkommene Helferlein und machen die Welt bunter. Und ich werde doch reich...

.. ja ...

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burnston - Mittwoch, 29. Juni 2005, 12:48
klingt grossartig, schade. hätt ich gern gesehen. hat was von diesem freakshowambiente alter amerikanischer jahrmärkte. sam & max, das alte pc spiel von lucas arts, illustriert das ganz herrlich.

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bossanova - Mittwoch, 29. Juni 2005, 14:53
Nicht zu vergessen sind die kleinen Naschartikel, die griffbereit auf dem kleinen Tisch lagen. Die kleine Flasche Wasser dazu - huch, nicht gratis? - und man war im Handumdrehen gleich zehn Mark los. Schmerzlich war der Abschied auch deshalb, weil dort günstigste Parkmöglichkeit in St. Georg vorhanden war: Monat für 135 Mark.

Travestiekaraoke ist seit einem Jahr auch passè. Das Ensemble ist auf den Kiez gezogen. Was bleibt? Nicht mehr viel. Junkies, Porneauxhöllen und sehr wenige Komödianten.

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kid37 - Freitag, 1. Juli 2005, 02:40
Ich liebe diese alten, verstaubten Welten. Die "uncoolen" Plätze abseits der großen Belustigungsavenuen. Die Menschen dort leben zum Teil ihr eigenes Museum, diese Dinge versinken, verschwinden völlig ohne Spektakel. Ich finde gerade diese "Nicht-Ereignisse" so unendlich reizvoll. Demnächst mache ich eine Butterfahrt mit Heizdeckenverkauf.

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bossanova - Freitag, 1. Juli 2005, 14:09
Na,
eine Butterfahrt auf St.Georg kann ich Ihnen anbieten - abseits vom Licht.

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kid37 - Freitag, 1. Juli 2005, 15:49
Das klingt so... unmoralisch. ;-)

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bossanova - Freitag, 1. Juli 2005, 22:47
haha, nee - ganz bestimmt nicht.

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kid37 - Freitag, 1. Juli 2005, 23:22
Eine Bierfahrt ist auch bestimmt unterhaltsamer.

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